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E-Book

E-Book, Deutsch, 220 Seiten

Schmidt Schneckenmühle

Langsame Runde
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-406-64699-7
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Langsame Runde

E-Book, Deutsch, 220 Seiten

ISBN: 978-3-406-64699-7
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Jens ist 14 geworden und darf zum letzten Mal ins sächsische Ferienlager Schneckenmühle fahren, dort kann man Skat spielen, Fußball und Tischtennis, muss allerdings auch auf Wanderungen gehen, in den Zoo oder nach Dresden fahren, und vor allem sind da die endlosen Nächte mit Quatsch und Gesprächen über Mädchen. Nur Tanzen in der abendlichen Disko, das kommt nicht infrage, zum Tanzen ist Jens zu schüchtern. Nach einem Ausflug wird Jens krank und kommt auf die Krankenstation. Da taucht Peggy bei ihm auf, die von der Gruppe gehänselt wird, und bittet ihn, ihr Essen zu bringen, sie würde sich von nun an verstecken. Aber dann wird sie im Lager vermisst und die Polizei wird eingeschaltet. Die Sache spitzt sich zu, auch zwischen Jens und Peggy. Es ist der Sommer 1989 in der DDR – und nicht nur den Jugendlichen stehen große Veränderungen bevor. Jochen Schmidts neuer Roman, mit großer Wärme, Detailfreude und Komik erzählt, berichtet von Zeiten des Umbruchs, hinreißend und anrührend – beste Unterhaltung!

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2 Wir sitzen im Wartburg, der laut Fahrzeugbrief dieselbe Farbe hat wie die Sahara, aber leider kein Schiebedach und nur eine Lenkradschaltung statt diesem Knüppel zwischen Fahrer- und Beifahrersitz. In manchen Taxis sind im Schaltknüppelknauf kleine Figuren eingelassen, wie in Bernstein. «Rechts ist frei», sagt meine Mutter an jeder Kreuzung, nachdem sie sich vorgebeugt und Ausschau gehalten hat. Ich möchte, daß wir ein Motorrad überholen, das uns überholt hat. «Wir machen keine Wettrennen», sagt meine Mutter, «das ist gefährlich.» Aus Langeweile zähle ich meine Lieblingsverkehrsschilder, die mit dem gelben Viereck. Es gefällt mir, daß man diesem Schild überhaupt nicht ansieht, was es bedeutet. Der weiße Rand sieht aus wie die durchsichtigen Plastedinger, die beim Einzug in unserer Wohnung auf allen Lichtschaltern steckten, damit die Tapete von den Berührungen der Finger keine Flecken bekam. Nach und nach sind sie verschwunden, und jetzt gehören sie zu den Dingen, ohne die es auch irgendwie geht, wie die Korrekturtaste von der alten Schreibmaschine, die durch ein Kügelchen aus Heftpflaster ersetzt worden ist, der Tonabnehmer vom Plattenspieler (auf dem neuen muß immer ein 20-Pfennig-Stück liegen, damit er nicht springt) und die eine blaue Figur vom «Malefiz»-Spiel, für die wir einen schmächtigeren, unlackierten Stein nehmen, den «Ersatzmann». Bei Irina ist der Lichtschalter-Schutz noch in allen Zimmern vorhanden, habe ich einmal gesehen, als ich ihrer Mutter, die aussieht wie Mireille Mathieu, einen Brief von meiner Mutter bringen mußte. Wir parken vor dem Bahnhof Lichtenberg, hier ist der Klassenlehrerin meines Bruders der Motor aus dem Auto geklaut worden, er war nach einer Nacht auf dem Parkplatz einfach weg. Das hat uns amüsiert, weil sie «eine Überzeugte» ist. Mein Vater zeigt uns wieder einmal die Buchstaben über der Brücke, «S» für S-Bahn und «U» für U-Bahn. Er behauptet, früher hätten sie andersrum gehangen, so daß es wie «US» aussah, weil das aber eine verhaßte Abkürzung war, hat man die Reihenfolge zu «SU» umgekehrt. Es gibt ja Leute, die nennen die Sowjetunion «die SU». Zu Westgeld sagen sie «Valuta» und zum Westen «Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet». Schon von weitem sehe ich in der Halle die ersten Kinder und ihre Eltern, genau, wie ich es geträumt habe, aber jetzt ist es Wirklichkeit. Den Kleineren gucken die Köpfe von Stofftieren aus den Rucksäcken, manche Kinder weinen schon. Die älteren Mädchen haben Haarlocken vor den Augen und schielen gelangweilt drunter hervor, sie wirken so, als sei jede Bewegung, die sie machen müssen, eine Zumutung für sie, aber warten tun sie auch nicht gerne. Ein Mädchen mit Strumpfhose und einem kleinen Köfferchen streitet sich mit seiner Mutter, die nicht bis zur Abfahrt bleiben soll. Meine Mutter schiebt mich zu einem traurig guckenden Mädchen mit langen, schwarzen Haaren, dessen Eltern sie kennt und mit dem ich deshalb jetzt mal reden soll. Sie ist größer als ich, und ich fürchte, daß die Peinlichkeit ihrer Cordhosen mit Schlag auf mich abfärben könnte. Eine energische, ältere Frau ruft mit einem Megaphon Namen von einer Liste auf, die Kinder werden gruppenweise einem Leiter zugeordnet, der mit seinem Vornamen vorgestellt wird. «Gruppe Wulf», «Gruppe Uschi» … Meine Mutter sagt lachend zu Wulf, er solle ruhig streng mit mir sein, wenn mir «das Fell juckt». Wulf hat einen Igel, das wirkt, als hätte er eigentlich lange Haare gehabt, die er sich aus irgendwelchen Gründen abschneiden mußte, wahrscheinlich bei der Armee. Sehr zu meiner Freude hat er eine Nickelbrille. Solche Brillen trägt man bei der Bundeswehr unter der Gasmaske, meine Schwester hat sich so eine zu Weihnachten gewünscht, mit stählernem, grünem Etui, über das ein Panzer rollen kann. Auf einem Zettelchen im Samtfutter notiert man Name und Blutgruppe, falls man dann nicht mehr in der Lage ist zu sprechen. Mit so einer Brille sieht man aus wie John Lennon, und überall, wo man einen wie John Lennon aussehen sieht, lohnt es sich, ein Stück hinterherzulaufen. Im Zug nach Dresden trennen sich die Mädchen von den Jungen, wegen der Viererabteile setzt man sich in Gruppen und spricht schon von «uns» und «denen». Schuhgrößen werden verglichen, und wie tief wir mit unseren Uhren tauchen könnten. Nur Wolfgang sitzt allein, auf dem Platz neben ihm steht seine Tasche. Vielleicht, damit es nicht so aussieht, als würde sich dort niemand hinsetzen wollen. Bis jetzt hat er noch kein Wort gesagt. Er hat ein weißes Unterhemd an. Als Gürtel hat er solche bunten Bänder, die bei alten Fahrrädern das Schutzblech vom Hinterrad schmücken. Der Reißverschluß seiner Hose ist kaputt, und der Knopf ist abgerissen. In einem Stoffbeutel transportiert er ein Paar Mini-Kakteen. Ich habe gesehen, daß er alte Mosaik-Hefte liest, mit den Digedags, also noch ohne Sprechblasen. Der Text steht unter den Bildern, das ist mir immer zu trostlos gewesen. Erwachsene sind damit überfordert, die Sprechblasen von Comics in der richtigen Reihenfolge zu lesen, dabei macht man das doch automatisch. Komischerweise scheint Wolfgang nur den Text zu lesen, die Bilder verdeckt er mit einem Blatt Papier. Nach der ersten Aufregung kehrt Stille ein. Wulf sammelt von allen die Teilnehmerhefte ein, mit Bade- und Springerlaubnis. Die Stullen werden ausgepackt. Bei manchen hat sie die Mutter in eine ausgewaschene Milchtüte getan. Ich habe eine Reise-Eierbüchse für zwei Eier und mit einem eingebauten Salzfäßchen. Sollte man nicht doch mal die rote Notbremse ziehen? Das ist einfach zu verlockend. Und warum funktioniert das nicht, daß man hochspringt und der Zug unter einem ein Stück weiterfährt? «In Apfelkernen ist Blausäure!» «Die ist aber gesund.» «Zeigt mal, wieviel Steine eure Uhren haben.» «Meine ist aus steinlosem Stahl.» «Wieso?» «Steht hinten drauf.» «Wieso steht denn da ‹Western› Germany? Gibt’s da Cowboys und Indianer?» «Was ist wertvoller? Platin oder Gold?» «Weiß doch jeder.» «Am wertvollsten ist Sand.» «Davon träumste …» «Nee, wirklich, zum Bauen, und weil daraus Glas hergestellt wird.» «Glas ist doch nicht aus Sand?» «Guckt mal, ’ne Rangierlok!» Die fahren ja meistens rückwärts, und der Fahrer guckt zum Seitenfenster raus. «Ej, Eike, weeßte, watt?» «Ja?» «Watt ’n?» Marko hat eine Ruhla-Uhr, die angeblich für Kampfschwimmer hergestellt wird. Sie ist aus Panzerglas. Auf der Rückseite steht «Eigentum der NVA». Er hat sie von seinem Vater, der Offizier ist. «Gegen wen kämpfen denn Kampfschwimmer?» «Na, gegen andere Kampfschwimmer.» Er weiht uns darin ein, daß er nie ein anderes Auto fahren würde als einen Porsche. Aber nur einen mit Boxermotor, weil der «so schön blubbert». Er will später Fernfahrer werden und sich ein Nummernschild ins Fenster stellen, auf dem «Joe le Taxi» steht. Er macht mir ein bißchen Angst, weil er immer so ernst guckt, man muß bei jedem Spruch fürchten, daß er ihn für kindisch befindet, und dann hat man sein Gesicht verloren. Er weiß genau, was er anziehen und besitzen will, und solange er das nicht haben kann, ist es ganz egal, was er anzieht und besitzt, deshalb trägt er eine Trainingshose und Sandalen. «Ick jeh mal Erwin um die Tallje fassen», sagt er und verschwindet auf dem Klo. Wir «kloppen» Skat, auf dem kleinen Tischchen unter dem Fenster. Manchmal sagen wir auch «Schkat», weil das erwachsener klingt. Ich habe das bisher mit meinen Geschwistern gespielt, und bei uns ist es so, daß jeder darauf spekuliert, daß im Skat der Kreuz- und der Pikbube liegen. Wir reizen also so weit, wie man überhaupt nur reizen kann, bis zwei von uns Grand Ouvert spielen wollen, und dann findet man irgendeine Lusche im Skat und schwenkt auf Null um, damit man weniger Minuspunkte bekommt. Bis jetzt kann ich noch nicht mischen, dieses blitzschnelle Hin- und Herhacken der Hände, bei dem die Karten auf unerklärliche Weise langsam von der einen in die andere Hand wandern. Eine dieser Künste, die andere Jungs beherrschen, wie mit den Fingern zu pfeifen und Löten. Ich kann nur Oma Raketes Mischmethode, aus den Karten werden zwei gleich große Stapel gebildet, die man dann an einer Ecke ineinanderschiebt. Früher dachte ich wirklich, Oma Rakete heiße so, aber eigentlich hatte ich nur den Vornamen falsch verstanden. Oma Rakete ist im letzten Herbst gestorben. Mein Vater hatte sich nach Jahren dazu durchgerungen, endlich das Wohnzimmer zu streichen, und nicht nur die Stellen, an denen immer das Regenwasser durch das flache Betondach unseres Neubaus sickert. Ich mußte die Bücher entgegennehmen, die mein Vater von den Regalen hob, und stellte sie in wackligen Stapeln auf den Tischen ab. Als meine Tante anrief, war es schon dunkel, wir hatten den Deckenleuchter abgehängt und...


Jochen Schmidt ist 1970 in Berlin geboren und lebt dort. Er liest jede Woche in der 'Chaussee der Enthusiasten' und arbeitet auch als Journalist für die 'SZ', 'FAZ', 'taz' und andere.



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