Schmidt | Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Schmidt Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte

Roman

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-95510-284-5
Verlag: Osburg Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Der größte Teil des Lebens ist gelebt, die Tage sind gekommen, in denen die Lebensernte eingefahren wird. Vieles, was er sich vorgenommen hatte, hat er erreicht, manches, was er erreichen wollte, ist auf der Strecke geblieben. Eine Begebenheit hat in all dem Drunter und Drüber, das seinen Lebensweg so holprig machte, zeitlebens im Unterbewussten rumort. Der Vater, Küfermeister in einer südbadischen Kleinstadt, kehrt bereits im ersten Kriegsjahr schwer verwundet, kriegsuntauglich und desillusioniert zurück nach Hause. Er macht aus seiner Abneigung gegen den NS-Staat keinen Hehl. In der Werkstatt, am Wirtshaustisch sagt er, was er über Adolf Hitler und »seine Bande« denkt: »Die müssen wieder weg.« Der Ortsgruppenleiter verwarnt ihn, aber er lässt sich nicht mundtot machen und bringt mit seiner Renitenz sich und seine Familie in existenzbedrohende Schwierigkeiten und sich schließlich ins Gefängnis. Nach Kriegsende drängen auch jene wieder zur Geltung, die das Leben des Vaters beschädigt haben, der Lehrer zum Beispiel. Damit wird er nicht fertig. Er hält sich nun mehr und mehr im Wirtshaus auf, kommt ins Saufen, zerstört die Familie. Der Sohn, der Ich-Erzähler des Romans, ist ein introvertiertes, leicht versponnenes, überängstliches Kind, das unter der Unbesonnenheit und gelegentlichen Brutalität des Vaters leidet und viele Stunden im Luftschutzkeller verbringt, auch wenn es keinen Fliegeralarm gibt. Die Großmutter tröstet ihn, wenn seine Angst vor dem Vater übermächtig wird. Oben in der Mansarde hört er, wenn der Vater betrunken nach Hause kommt und in der Küche mit Geschirr um sich wirft.
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3.
Eigentlich wollte ich gar nicht aus der Mutter in die Welt schlüpfen. Es war fünf Uhr morgens an einem Donnerstag, als die Wehen einsetzten und die Hebamme geholt wurde. Aber weder sie noch die Großmutter schafften es, mich aus der dunklen Höhle im Bauch der Mutter zu zerren. Doktor Gutenberg, der Hausarzt, wurde alarmiert. Er hatte eine Praxis nur ein paar Häuser weiter und kam auf Zuruf. Dem Doktor gelang es, mich mit einiger Mühe und einer Zange ans Licht des schon sonnigen Apriltages zu holen. Ich war nicht das rosige Baby, das erwartet worden war. Ich war blau – wie der Vater, der offenbar vorzeitig einen zu großen Willkommensschluck aus der Schnapsflasche genommen hatte und nun am Türrahmen lehnte und dumme Fragen stellte, bis die Großmutter ihn aus dem Zimmer warf. Weil ich mich weigerte, richtig zu atmen, schüttelte und tätschelte sie mich, redete leise auf mich ein, flehte mich an: »Komm, komm.« Schließlich hob sie mich in die Höhe, schwenkte mich durch die Luft, und endlich kam der erste Schrei. So hat sie es mir einmal erzählt. Ihre wärmenden Hände haben mir auch in späteren Jahren die Liebe und den Halt gegeben, die ich von den Eltern nicht bekam. Aber Familie ist Schicksal. Auf die Entscheidung, zu wem wir gehören, haben wir keinen Einfluss. Die Geschehnisse der frühkindlichen Tage, an die ich mich entsinne – oder waren es die Erzählungen der Großmutter von den Geschehnissen, an die ich mich erinnere –, waren mit Lärm und Geschrei verbunden. Es war tief in der Nacht, als mich das Klirren von Glas und Geschirr aufweckte, das zerschmettert wurde. Mein Bett stand in einem kleinen Zimmer, das an die Küche angrenzte. Von dort kam das Klirren. Die Stimmen, die in den kurzen Pausen zwischen den Aufschlägen gegeneinander kämpften, waren mir vertraut: das Geschrei des Vaters und das Schluchzen der Mutter. Ich war viereinhalb Jahre alt, und es war das erste Mal, dass ich einen der vielen Jähzornausbrüche des Vaters erlebte, mit denen er die Familie immer wieder in Schrecken versetzte und mir große Angst einjagte. Mein kleiner Bruder, der ohne jede Schwierigkeit zwei Jahre zuvor geboren worden war und neben mir schlief, bekam von dem verstörenden Radau nichts mit. Auch später hat ihn der Unfriede in der Familie nicht sonderlich berührt, er konnte die Querelen von sich abschütteln. Er hatte einen günstigen Wind in seinem Lebenssegel. Wochen später klirrte und brüllte es wieder in der Nacht. Der Lärm kam jedoch nicht aus der Küche. Er kam vom Nachbarhaus, von Männern in Uniformen – heute weiß ich, dass es braune waren –, die mit Brechstangen und Vorschlaghämmern Scheiben und Türen einschlugen. Es war das Haus einer vielköpfigen Familie, zu der die gutnachbarliche Beziehung eine Selbstverständlichkeit war. Die Schreie des Vaters über die Straße hinweg, »Aufhören! Aufhören!«, gingen im Gejohle und im Zerstörungsrausch der Horde uniformierter Männer unter. Er hatte Glück, dass er nicht gehört wurde. Immerhin hatte er, wie mir später klar wurde, Zivilcourage bewiesen, denn er wusste genau, wogegen er protestierte. Als er am Morgen danach im Volksempfänger die Nachrichten hörte, erfuhr er, dass im ganzen Deutschen Reich bei Einbruch der Dunkelheit die Geschäfte der Juden von SA-Leuten geplündert, ihre Häuser zum Teil zerstört und sie selbst eingesperrt worden waren. So hat er es der Mutter und der Großmutter erzählt. Im Großdeutschen Rundfunk hatte das sicher anders geklungen. Nun musste er sich auch nicht mehr darüber wundern, dass jüdische Nachbarn, mit denen er befreundet war, die Kleine Stadt am Rhein schon vor Wochen verlassen hatten, ohne sich von den Nachbarn zu verabschieden. Die Synagogen brannten noch, als am zehnten November 1938 in den evangelischen Kirchen Luthers Geburtstag gefeiert wurde. Ich war mit meinen viereinhalb Jahren noch zu jung, um diese frühen Eindrücke richtig zu deuten. Das Klirren des Geschirrs in der Küche und das Splittern der Scheiben in der damals sogenannten Reichskristallnacht flossen ineinander und vermischten sich mit dem Bild der Großmutter, die, als draußen der Pogrom tobte, Perlen, die an einer Schnur aufgereiht waren, durch Daumen und Zeigefinger schob und dazu vor sich hinmurmelte. Später, als ich schon begreifen konnte, dass man mit Gebeten Schaden abzuwenden versucht, bläute sie mir ein, der Rosenkranz sei die beste Medizin gegen die Zumutungen des Lebens und die wichtigste Waffe gegen das Böse. Mein Seelenfrieden war, wenn ich den Rosenkranz mit ihr betete, meist wiederhergestellt, noch bevor die neunundfünfzig Perlen am Schnürchen durch meine Finger geglitten waren. Beim zweiten oder dritten der zehn Ave-Marias war ich bereits eingeschlafen. Als ich einmal starke Bauchschmerzen hatte und auch der zweimal gebetete Rosenkranz keine Wirkung zeigte, empfahl sie mir, stattdessen beide Ohren mindestens eine Minute lang mit den Händen zu massieren – ein Vorschlag, den heute sogar Mediziner machen. Sie war nicht nur fromm, sondern auch pragmatisch. Sie hat mir nicht nur das Beten beigebracht, sie hat mir auch gezeigt, wie man mit Messer und Gabel isst und sich den Hintern richtig abwischt. Damals in der Nacht, als in der elterlichen Küche die Scherben klirrten, hat mein kindliches Gemüt ersten Schaden genommen. Vage spürte ich, dass die häusliche Eintracht einen Riss bekommen hatte. Es waren sicher Angsttränen, die ich weinte, als mich die Großmutter, die den tobenden Vater nicht beruhigen konnte, aus dem Bett holte und zu sich in ihre Wohnung nahm. Dort blieb ich, bis sie starb. Sie war ins oberste Stockwerk gezogen, als der Vater geheiratet und das Geschäft übernommen hatte. In diesem Rückzugsgebiet hat sie, so gut sie konnte, ausgeglichen, was die Eltern mir an Liebe nicht geben konnten. Die Großmutter war eine kleine zierliche Frau mit einem gütigen Gesicht und klaren Augen. Sie war eine auf naive Art tiefreligiöse Katholikin, die sicher das Vaterunser rückwärts beten konnte. Selbst bei Anlässen, bei denen man es nicht vermutete, hatte sie ein Gebet auf den Lippen. Ich habe einmal beobachtet, wie sie den Hühnern, die im großen Obsthof umherliefen, ein Vaterunser vorbetete. »Man muss den Herrgott bei allem, was man tut, vor sich haben«, hat sie mich belehrt, als ich sie darauf ansprach. Immer deutlicher empfand ich, dass mich mit ihr mehr verband als mit den Eltern. Ich war froh, sie als Verbündete zu haben, wenn es sein musste auch gegen den Vater. Ich schlief neben ihr im Bett, bis ich mein eigenes Zimmer, eine Mansarde, bekam. Wenn ich Sorgen hatte, schlechte Noten aus der Schule brachte oder im Kaufmannsladen beim Klauen erwischt worden war, suchte ich Trost bei ihr. Mutter und Vater sah ich eigentlich nur bei den Mahlzeiten – und auch bloß, weil die Großmutter mit am Tisch saß. In meiner Erinnerung ging sie immer leicht vorgebeugt, den Rücken gekrümmt, vielleicht trug sie immer noch an der Schinderei auf den Feldern und in der Werkstatt ihres Mannes, und an der Last der Schicksalsschläge. Auf einem unserer Spaziergänge über den Friedhof zeigte sie mir das Grab ihrer Zwillinge, die im Alter von sechs Jahren an einer Gehirnhautentzündung verstorben waren. Wenn die Großmutter von den Toten, von Krankheit und Unglück sprach, waren immer Trauer im Ton und Tränen in den Augen. Manchmal, wenn sie von den schweren Tagen der Vergangenheit erzählte, stemmte sie die Hände in die Seiten ihres schmächtigen Körpers, als wollte sie sich mit dieser Geste nachträglich noch gegen die Schicksalsschläge zur Wehr setzen. Als ich eines Abends vom Milchholen in der Milchzentrale der Kleinen Stadt zurückkam, stand sie, die Hände fest an die Lenden gepresst, als wolle sie sich gegen etwas abschirmen, in ihrer geblümten Schürze in der Küche vor dem Radio, der Vater neben ihr. Er hatte die Hand hinter das rechte Ohr geschoben, damit er besser verstehen konnte, was gesagt wurde. Es war die Stimme Adolf Hitlers, die den Einmarsch der deutschen Truppen in Polen bekanntgab. »Jetzt geht der Schrecken wieder los«, sagte sie. Sie hatte den Ersten Weltkrieg erlebt. Soeben hatte der Zweite begonnen. Mit dem Namen Hitler konnte ich schon etwas anfangen. Der Vater hatte ihn öfter erwähnt und mir mit einem abfälligen Zungenschlag erklärt, dass er der Reichskanzler sei und der Führer einer Partei, die sich NSDAP nenne. Offensichtlich mochte er sie nicht. Es war der erste September 1939. In der Kleinen Stadt am Rhein war es ein nieseliger Tag, der mit schwerem Regen in die Nacht überging. »Ich habe mir gedacht, dass der Hitler einen Krieg anfangen wird«, sagte die Großmutter. Am selben Abend warf mich der Vater aus der Küche, als ich ihn in einer merkwürdigen, geradezu lächerlichen Pose ertappte. Er saß auf einem Stuhl und hatte ein Tischtuch über seinen nach vorne gebeugtem Kopf gehängt, als würde er aus einer Schüssel heiße...


Felix Schmidt gehört zu den einflussreichsten Journalisten des Landes . Als Ressortleiter Kultur des Spiegel, als Chefredakteur der Welt am Sonntag und des Stern sowie als Programmdirektor des Südwestfunks prägte er das publizistische Leben seit den 1970er-Jahren in Deutschland mit. Er war unter anderem Produzent der ersten deutschen politischen Talksendung Talk im Turm und hat die ZDF-Sendung Das Philosophische Quartett ins Leben gerufen. Für sein Buch über die Geschichte des französischen Chansons ist er mit dem französischen Kulturorden »Chevalier des Arts et des Lettres« ausgezeichnet worden.
Der Autor steht für Lesungen zur Verfügung.


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