E-Book, Deutsch, 480 Seiten
Schmitt Moskaus westliche Rivalen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-608-12490-3
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine europäische Geschichte vom Nordkap bis zum Schwarzen Meer
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
ISBN: 978-3-608-12490-3
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Oliver Jens Schmitt, Dr. phil., geb. 1973, ist seit 2005 Professor für Geschichte Südosteuropas an der Universität Wien und s eit 2017 wissenschaftlicher Direktor am Institut für die Geschichte der Habsburgermonarchie und des Balkanraumes an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Er gilt als einer der besten Kenner der Sozial- und Kulturgeschichte Osteuropas.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Weltgeschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Geschichte einzelner Länder Asiatische Geschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Europäische Geschichte
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Internationale Beziehungen Ost-West Beziehungen
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Militärwesen
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Internationale Beziehungen Geopolitik
Weitere Infos & Material
Einleitung
Europäische Geschichte wird in der Regel von West nach Ost gedacht. Ein Blick in nordsüdlicher Richtung wird nur selten eingenommen. Dieses Buch dreht die Blickachse in eine ungewohnte Richtung. Und es legt sie auf jenen Raum, wo die Nord-Süd-Ausdehnung des Erdteils besonders groß ist – vom Nordkap bis an das Schwarze Meer.
Geschichtsschreibung ist immer auch ein Abbild ihrer Zeit. Sie stellt bisweilen Althergebrachtes in Frage, weil die Gegenwart neue Einsichten eröffnet und neu zu sehen lehrt. Dass europäische Geschichte zumeist mit dem Blick West nach Ost geschrieben wird, ist leicht zu begründen: Wesentliche Entwicklungen verliefen auf dieser Achse, ob dies große Wanderungen, Bewegungen von Heeren oder Reichsbildungen betrifft, die Vermittlung von Ideen, geistigen Strömungen, aber auch den Austausch von Waren und materieller Kultur; oder aber ein kaum zu leugnendes Gefälle von West nach Ost bei der Bevölkerungsdichte, dem Städtenetz, Universitäten, Druckereien, beim Bildungssystem und der Alphabetisierung der Bevölkerung.
Ein vertikaler Blick auf den Kontinent verspricht auf den ersten Blick vergleichsweise weniger geschichtliche Neuerkenntnis. Das vorliegende Buch geht von einer Beobachtung aus, die die allerjüngste Vergangenheit nahelegt. Der russische Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 machte eine zuvor kaum sichtbare Nord-Süd-Dynamik in Europa sichtbar. Die Anrainer Russlands – Norwegen, Finnland, Schweden, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien und die Republik Moldau – reagierten auf den russischen Angriff anders als Staaten, die weiter im Westen des Kontinents liegen. Sie alle fühlten sich unmittelbar betroffen, und sie alle verstanden die Gefahr, die nicht nur der Ukraine, sondern auch ihnen und ganz Europa droht, deutlich besser als die Gesellschaften in der Mitte und im Westen des Kontinents. Schweden und Finnland gaben ihre Neutralität auf und traten dem Nordatlantischen Verteidigungsbündnis bei. Balten und Polen zählen zu den entschiedensten Unterstützern der Ukraine, ebenso Norwegen und Dänemark. Die Republik Moldau strebt in die Europäische Union. Und Rumänien besitzt eine entscheidende strategische Bedeutung am Schwarzen Meer. All diese Staaten rücken enger zusammen und bilden eine Interessengemeinschaft zumeist innerhalb der Europäischen Union und der NATO.
Doch sind es nicht auch geschichtliche Erfahrungen mit Moskau als Nachbar, die ihr Handeln erklären? Das vorliegende Buch will zeigen, was es in historischer Betrachtung bedeutet, Nachbar Moskaus zu sein und seit dem ausgehenden Mittelalter mit dem Moskauer politischen System in Berührung zu gelangen. Behandelt wird ein ebenso riesiger wie vielfältiger Raum, von den arktischen Landschaften im hohen Norden über von der Hanse geprägte Städte an der Ostsee, die Weiten des polnisch-litauischen Staates, die Steppen in der heutigen Ukraine bis zu den Klöstern und Weinbergen in der Moldau.
Die Geschichte des östlichen Europas wird aus einer Perspektive gelöst, die immer auf Moskau konzentriert war. Der hier betrachtete Raum wurde in Berlin, Paris, London und Rom im Zweifelsfall übersehen, und der gegenwärtige Krieg ist gleichsam der Lackmustest für diese Beobachtung. Während die französische, italienische oder spanische Öffentlichkeit kaum ein klareres Bild von Finnland, Schweden, Estland oder der Moldau besitzt, herrscht in Deutschland, das geschichtlich viel engere Bezüge zu den genannten Staaten aufweist, ein Blick nach Osten vor, der zwischen Berlin und Moskau kaum etwas oder bisweilen gar nichts sieht oder sehen will. Weite Teile der deutschen Öffentlichkeit schauen mit Furcht, Faszination und Bewunderung auf Moskau. Die historischen Erfahrungen von Finnen, Skandinaviern, Balten, Polen, Belarusen, Ukrainern und Moldauern hingegen zählen in weiten Kreisen immer noch wenig. Dieses Buch will daher einen Raum sichtbar machen, der im Geschichtsdenken im Westen und der Mitte des Kontinents außerhalb enger Zirkel von Intellektuellen und Wissenschaftlern kaum klare Umrisse besitzt.
Jener Teil der Geschichtsforschung, der sich mit dem räumlich größten Bereich unseres Erdteils beschäftigt, hat die auf Moskau konzentrierte Wahrnehmung bewusst oder unbewusst befördert. Seit seiner Entstehung im ausgehenden 19. Jahrhundert hat er seinen Schwerpunkt auf das moskovitische Russland gelegt, russische Geschichte aus Moskauer Sicht erforscht und beschrieben. Diese Art der osteuropäischen Geschichte folgte dabei der Logik russischer Meistererzählungen, und sie stufte, bewusst oder unbewusst, alle westlichen Nachbarn Moskaus hinab zu einem Gegenstand russischer Expansion, als Gebiete am Rande, die in einem fast gesetzmäßig ablaufenden Prozess unter russische Herrschaft gerieten, ja geraten mussten. Diese Erzählung macht all jene unsichtbar, die im Mittelpunkt dieses Buches stehen.
Der russische Überfall auf die Ukraine hat unter den Osteuropaforschern eine Debatte ausgelöst, weshalb die Vorstellung so weit verbreitet sei, nach welcher die Ukraine, Belarus oder die baltischen Staaten und die Moldau fast schon naturgemäß zu Russland gehörten und daher kein Recht auf Selbstbestimmung hätten. Es wurde die Forderung erhoben, dass die osteuropäische Geschichte zu dezentrieren und nicht mehr ganz fixiert auf Moskau zu schreiben sei. Vielmehr wären die Stimmen all jener freizulegen, die bis anhin nicht gehört und nicht ernst genommen worden seien.[1]
So unsichtbar wie in vielen älteren Darstellungen sind jene Gesellschaften, die ab dem 17. Jahrhundert unter Moskauer Herrschaft gelangt sind, seit einigen Jahrzehnten nicht mehr. Russland wurde seit den frühen 1990er Jahren immer mehr als »Vielvölkerreich«, so der Wiener Historiker Andreas Kappeler, verstanden. Der Zerfall der Sowjetunion hatte am Ende des 20. Jahrhunderts die Aufmerksamkeit für alle jene Gesellschaften geweckt, die in einem riesigen Bogen von der Halbinsel Kola bis an die mongolische Grenze den Saum des Sowjetreiches bildeten. Dass die heutige Russländische Föderation Heimat vieler Völker sei, wird vom derzeitigen Regierungssystem in Moskau nicht geleugnet, im Gegenteil, es wird geradezu hervorgehoben als Kernelement einer Identität, die sich als eurasisch versteht. Doch das Lob der Vielfalt beschränkt sich auf eine eng eingehegte Pflege von Folklore im Dienste eines Staates, der sich als Imperium sieht, in dem das russische Element eindeutig vorherrscht. »Russland als Vielvölkerreich« ist ein Konzept, das diesen imperialen Machtanspruch in Frage stellt, aber implizit und nicht beabsichtigt eine russische Deutung unseres Betrachtungsraumes stärkt: nämlich indem die Geschichte der nichtrussischen Bevölkerung in einem russischen Rahmen beschrieben und ihre Zugehörigkeit zu einem imperialen Russland in den Mittelpunkt der Darstellung gerückt wird. Allem, was vor der Eroberung der betroffenen Gebiete durch Russland lag, kommt in dieser Sicht weniger Bedeutung zu, wird weniger als eigenständige Geschichte denn als Vorgeschichte auf dem Weg zur Eingliederung in das Moskauer Reich behandelt.[2]
Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat viele Historiker angeregt, über große Reiche nachzudenken. Das Zarenreich und die Sowjetunion gehören zu den beliebtesten Gegenständen dieser Forschungsrichtung. Es wurde versucht, alte Schemata zu vermeiden, vor allem die Vorstellung eines einseitigen Machtgefälles von der Hauptstadt zu den Randgebieten sowie eine Gleichsetzung von Reichsgeschichte und russischer nationaler Geschichte. Die Untersuchung sogenannter imperialer Peripherien von Finnland bis in die Ukraine blühte auf. Doch noch immer werden Finnen, Balten, Polen oder Ukrainer für den Vergleich erst im (und nicht vor dem) Imperium interessant.
Und dieser imperiale Rahmen wurde letzten Endes eben nicht von den Randgebieten bestimmt, bei allem Einfluss und allen Gestaltungsmöglichkeiten, die einzelne Vertreter der Peripherien im Zentrum zeitweise auch erlangten. Eine eigentliche Dezentrierung der osteuropäischen Geschichte, einen Bruch mit der Vorstellung, der Fluchtpunkt der Betrachtung liege in Moskau, vollzog auch diese wichtige Forschungsrichtung nicht. Sie machte die Geschichte der Imperien in Russland vielgestaltiger, vielstimmiger und vor allem komplexer. Aber sie verstärkte ein Geschichtsdenken, das die Eroberung durch das Imperium als Teil eines teleologisch, also auf ein unverrückbares Ziel hin verlaufenden geschichtlichen Vorganges betrachtete. Der imperiale Blick auf unseren Betrachtungsraum fördert demnach, implizit und oft nicht beabsichtigt, ein Denken, das die betroffenen Gesellschaften, die zwischen Berlin und Moskau liegen, tendenziell zum Verschwinden bringt.[3]
Osteuropäische Geschichte mit einer neuen Blickachse zu schreiben, heißt, viele Zusammenhänge freizulegen, die der Spezialforschung bekannt sind. Schon die Pioniere der osteuropäischen Geschichte als akademische Disziplin waren sich bewusst, dass die Geschichte dieses Raumes nicht nur auf Russland konzentriert werden kann. Theodor Schiemann, der erste Professor des Faches an der Berliner Universität, legte 1886/87 ein umfangreiches Werk vor, in dem er die Geschichte des Moskauer Staates, Polens, Litauens und Livlands (das heutige...




