E-Book, Deutsch, 369 Seiten
Schneuwly Differenzierungskonzepte sichtbar gemacht
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8309-8034-6
Verlag: Waxmann Verlag GmbH
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Eine qualitative Fallstudie zur inneren Differenzierung im Mathematikunterricht der Primarschulstufe
E-Book, Deutsch, 369 Seiten
ISBN: 978-3-8309-8034-6
Verlag: Waxmann Verlag GmbH
Format: PDF
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Die Schule ringt um einen angemessenen Umgang mit der Heterogenität ihrer Schülerinnen und Schüler. Bezogen auf den Unterricht rückt somit ein didaktisches Prinzip wieder vermehrt in den Blickpunkt: innere Differenzierung oder Binnendifferenzierung. Die vorliegende Dissertation diskutiert in einer Verbindung von allgemein- und fachdidaktischer Perspektive dieses Prinzip und seine Umsetzung im Unterricht. Dabei interessiert vor allem die Perspektive von Lehrpersonen der Primarschule. In einer vergleichenden, qualitativen Fallstudie werden deren Differenzierungskonzepte für den Mathematikunterricht untersucht und auf der Grundlage des didaktischen Dreiecks visualisiert. Abschliessend wird mit Bezug auf Überlegungen von Weinert zur aktiven und proaktiven Differenzierung ein hypothetisches Modell der Kompetenzentwicklung von Lehrpersonen bezüglich innerer Differenzierung präsentiert.
Gabriel Schneuwly-Perler, geboren 1961, unterrichtete zunächst an der Primarschule. Nach einem Studium der Pädagogik war er in der Lehrerbildung des Kantons Freiburg (CH) in verschiedenen Funktionen tätig und leitete die deutschsprachige Grundausbildung der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Seit einigen Jahren ist er als Studienleiter und Dozent am Institut für Weiterbildung der PHBern tätig.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Inhalt;7
2;1.Einleitung;10
2.1;1.1Ausgangslage;10
2.2;1.2Ziele der Arbeit;13
2.3;1.3Aufbau der Arbeit;15
3;2.Differenzierung in Schule und Unterricht;18
3.1;2.1Historische Spurensuche;18
3.2;2.2Begriffliche Klärung;20
3.2.1;2.2.1Abgrenzung: äussere und innere Differenzierung;20
3.2.2;2.2.2Abgrenzung: innere Differenzierung und Individualisierung;23
3.2.3;2.2.3Begriffsbestimmung innere Differenzierung;24
3.2.4;2.2.4Adaptiver Unterricht;27
3.2.5;2.2.5Exkurs I: Adaptive Lehrkompetenz;30
3.2.6;2.2.6Natürliche Differenzierung;31
3.2.7;2.2.7Zusammenfassung und Diskussion;33
3.3;2.3Zielsetzungen der Differenzierung;35
3.3.1;2.3.1Pädagogische Argumente;35
3.3.2;2.3.2Entwicklungs- und lernpsychologische Argumente;36
3.3.3;2.3.3Zusammenfassung und Diskussion;37
4;3.Programme und Modelle innerer Differenzierung;39
4.1;3.1Das Modell von Klafki und Stöcker;39
4.2;3.2Weiterentwicklungen Fundamentum – Additum;42
4.2.1;3.2.1Fundamentum und Additum bei Herber;42
4.2.2;3.2.2Compacting und Enrichment in der Hochbegabtenpädagogik;43
4.2.3;3.2.3Zusammenfassung und Diskussion;44
4.3;3.3Offener Unterricht in der Tradition der Reformpädagogik;45
4.3.1;3.3.1ELF und offener Unterricht;45
4.3.2;3.3.2Zusammenfassung und Diskussion;46
4.4;3.4Modelle in der Tradition des adaptiven Lernens;47
4.4.1;3.4.1Mastery Learning oder zielerreichendes Lernen;47
4.4.2;3.4.2Modell adaptiver Lernumwelten;48
4.4.3;3.4.3Zusammenfassung und Diskussion;48
4.5;3.5Neuere Programme und Modelle;49
4.5.1;3.5.1Adaptiver Phasenplan;49
4.5.2;3.5.2Das Aufgaben-Rad-Modell;51
4.5.3;3.5.3Substanzielle Lernumgebungen;52
4.5.4;3.5.4Zusammenfassung und Diskussion;55
5;4.Innere Differenzierung in der Perspektive des didaktischen Dreiecks;57
5.1;4.1Das didaktische Dreieck;57
5.2;4.2Differenzierungsaspekte der Ziel- und Stoffkultur;59
5.3;4.3Differenzierungsaspekte der Beziehungs- und Unterstützungskultur;61
5.4;4.4Differenzierungsaspekte der Lehr- und Lernkultur;64
5.5;4.5Modell innerer Differenzierung im didaktischen Dreieck;65
6;5.Empirische Ergebnisse zur inneren Differenzierung;67
6.1;5.1Einstellungen von Lehrpersonen;68
6.2;5.2Verbreitung und Formen innerer Differenzierung;69
6.2.1;5.2.1Reaktionsformen des Unterrichts;70
6.2.2;5.2.2Einzelne Differenzierungsmassnahmen und -strategien;71
6.3;5.3Wirksamkeit und Qualität innerer Differenzierung;78
6.3.1;5.3.1Wirksamkeit von erweiterten Lernformen und offenem Unterricht;78
6.3.2;5.3.2Qualitätsmerkmale des Unterrichts und ihre Bedeutung für innere Differenzierung;81
6.3.3;5.3.3Wirksamkeit verschiedener Differenzierungsmassnahmenund -programme;84
6.3.4;5.3.4Eine Literatur-Recherche zu Merkmalen wirksamer Differenzierung;87
6.3.5;5.3.5Zusammenfassung und Diskussion;88
6.3.6;5.3.6Exkurs II: Trägt innere Differenzierung zum Chancenausgleich bei?;91
6.4;5.4Gelingensbedingungen innerer Differenzierung;93
6.4.1;5.4.1Die Gelingensbedingungen im Einzelnen;94
6.4.2;5.4.2Zusammenfassung und Diskussion;95
7;6.Erkenntnisinteresse;97
8;7.Forschungsfragen;98
9;8.Methode;100
9.1;8.1Methodologische Vorüberlegungen;100
9.2;8.2Charakterisierung der vorliegenden Studie;101
9.3;8.3Zirkularität im Forschungsprozess;102
9.4;8.4Triangulationskonzept;102
9.5;8.5Stichprobe;104
9.6;8.6Datenerhebung;108
9.6.1;8.6.1Etappen und zeitlicher Verlauf;108
9.6.2;8.6.2Datenerhebungsverfahren;110
9.7;8.7Datenaufbereitung und Datenauswertung;116
9.7.1;8.7.1Datenaufbereitung;117
9.7.2;8.7.2Datenauswertung im Überblick: zwei Phasen;117
9.7.3;8.7.3Datenauswertung in Phase 1;119
9.7.4;8.7.4Datenauswertung in Phase 2;134
9.7.5;8.7.5Gütekriterien;139
10;9.Ergebnisse;142
10.1;9.1Offen erfasste Differenzierungskonzepte;142
10.1.1;9.1.1Fallübersicht: Die zentralen Schlüsselkategorien;143
10.1.2;9.1.2Erläuterung der Schlüsselkategorien in Verbindung mit Fallporträts;145
10.1.3;9.1.3Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse;157
10.2;9.2Mit dem Modell des didaktischen Dreiecks erfasste Differenzierungskonzepte;163
10.2.1;9.2.1Fallübersicht;164
10.2.2;9.2.2Einzelfallanalyse, nach Gruppen geordnet;165
10.2.3;9.2.3Fallvergleichende Analyse der einzelnen Differenzierungskategorien;193
10.2.4;9.2.4Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse;208
10.3;9.3Mit der Weinert-Systematik erfasste Differenzierungskonzepte;213
10.3.1;9.3.1Relevante Vergleichsdimensionen;214
10.3.2;9.3.2Ergebnisse der qualitativen Inhaltsanalyse;222
10.3.3;9.3.3Gruppierung der Fälle;224
10.3.4;9.3.4Analyse inhaltlicher Zusammenhänge und Charakterisierung der Gruppen;228
10.3.5;9.3.5Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse;238
11;10.Zusammenfassung und Diskussion zentraler Ergebnisse;247
11.1;10.1Ergebnisse im theoretischen Teil;247
11.2;10.2Ergebnisse der empirischen Untersuchung;249
11.2.1;10.2.1Offen erfasste Differenzierungskonzepte;249
11.2.2;10.2.2Mit dem Modell des didaktischen Dreiecks erfasste Differenzierungskonzepte;250
11.2.3;10.2.3Mit der Weinert-Systematik erfasste Differenzierungskonzepte;254
11.3;10.3Methodenreflexion;257
11.4;10.4Ausblick;259
12;11.Literatur;262
13;12.Abbildungsverzeichnis;281
14;13.Tabellenverzeichnis;282
15;14.Experimental Task;284
16;15.Interviewdurchführung;286
17;16.Datenauswertung;292
1. Einleitung
1.1 Ausgangslage
Das Ringen der Schule um einen angemessenen Umgang mit der Heterogenität ihrer Schülerinnen und Schüler ist heute beinahe zu einem ihrer Strukturmerkmale geworden. Sie steht diesbezüglich von verschiedensten Seiten her unter Druck,
weil bessere Antworten auf das hinlänglich bekannte Phänomen gefordert werden (Bohl et al. 2012; Eckhart 2009; Reusser 2009; Scheunpflug 2008; Schneider 2008; Tillmann und Wischer 2006; Wenning 2007). Stellvertretend dafür sei Baumert zitiert, der in einem Interview die deutschen PISA-Ergebnisse1 folgendermassen kommentiert: „In der Verbesserung des Umgangs mit Differenz liegt vermutlich die eigentliche Herausforderung der Modernisierung des Systems“ (Baumert 2002; zit. nach Helmke 2009, S. 246).
Bezogen auf den Unterricht rückt somit ein didaktisches Prinzip wieder vermehrt in den Blickpunkt: Individualisierung oder innere Differenzierung. Hanke (2006) formuliert in einer Gesamtschau der aktuellen Schulentwicklungsforschung
verschiedene Herausforderungen und Perspektiven für die Grundschule. Darunter figuriert auch die Weiterentwicklung von Differenzierungsformen (ebd., S. 267). Auch Helmke schlägt in die gleiche Kerbe, wenn er postuliert, dass moderner Unterricht dadurch gekennzeichnet sei, dass „vielfältige organisatorische und didaktische Massnahmen der Differenzierung und Individualisierung der Heterogenität der Schüler-Eingangsvoraussetzungen gerecht werden sollen“ (2009, S. 246). Entsprechendes gilt für den angloamerikanischen Raum, wo Subban in ihrer umfassenden Literaturanalyse zu folgender Schlussfolgerung kommt: „A paradigm that is gaining ground in many educational circles is differentiated instruction“ (2006, S. 935).
Es gibt verschiedene Gründe für diese „Renaissance“ der Fokussierung auf innere Differenzierung:
Zunächst einmal ist der allgemeine gesellschaftliche Wandel zu nennen: Individualisierung, Diskursivität und Partizipation haben gesamtgesellschaftlich an Bedeutung gewonnen, und es kann ein Wechsel von der Anordnungs- zur Verhandlungsfamilie beobachtet werden (Reichenbach 1998). Viel stärker als früher wird das einzelne Kind von seinen Eltern als Individuum wahrgenommen. Von der Schule wird erwartet, dass sie diese Individualität aufgreift. Gepaart mit den hohen Erwartungen vieler Eltern an einen möglichst guten Bildungsabschluss jedes einzelnen Kindes (Paulus und Blossfeld 2007) kommt ein „homogenitätsversessener Unterricht“ (Grunder 2009, S. 115), der sich an einem „fiktiven Durchschnittsschüler“ (ebd.) orientiert – so charakterisiert Grunder (ebd.) die letzten 150 Jahre in deutschsprachigen Schulsystemen – an seine Grenzen. Migrationsbewegungen verstärken zudem die Effekte des sozialen Wandels hin zu einer allgemein grösseren gesellschaftlichen Heterogenität und zur Pluralisierung familialer Lebensformen, was auch in der Schule markant spürbar wird (Eckhart 2002; Schneider 2008). Heterogenität oder Diversity werden zu wichtigen Begriffen im gesamtgesellschaftlichen Kontext (Brügelmann 2002; Kiper et al. 2008; Scheunpflug 2008; Schneider 2008;
Wenning 2007). Die Gesellschaft als Ganzes wie die Schule als Subsystem suchen nach geeigneten Ansätzen im Umgang mit den Herausforderungen durch Heterogenität.Dabei wird im schulischen Kontext mehr und mehr versucht, den Heterogenitätsbegriff positiv zu besetzen: Heterogenität wird nicht mehr definiert als Andersartigkeit in der Differenz zu einer Norm, sondern als Vielfalt, welche sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten umfasst (Brügelmann 2002). Es wird von einer „Pädagogik der Vielfalt“ gesprochen (Prengel 2006), die u.a. auf das Prinzip der inneren Differenzierung verweist.
Einen zusätzlichen Schub in der Differenzierungsthematik haben international vergleichende schulleistungsstudien wie PISA ausgelöst. Sie haben u.a. nachgewiesen, dass das Schulsystem im deutschen Sprachraum im Umgang mit Differenz deutliche Defizite aufweist (Hanke 2006, S. 265; Scheunpflug 2008; Trautmann und Wischer 2007, S. 159) und entsprechend in diesem Bereich grosser Handlungsbedarf besteht. Die PISA-Ergebnisse zeigen beispielsweise, dass ein beachtlicher Teil der leistungsschwächeren Jugendlichen am Ende der obligatorischen Schulzeit nicht die minimalen Kompetenzen erreicht hat, um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können (Artelt et al. 2001; Bildungsmonitoring Schweiz [Ed.] 2003; Klieme et al. 2001) und dass der soziale Hintergrund (Bildungsferne, kognitiver Anregungsgehalt, Ausbildungsniveau) der Eltern einen wesentlichen Prädiktor für Schulerfolg darstellt (Helmke 2009, S. 249; Moser und Berweger 2002). Dieser Befund kollidiert mit dem wichtigen pädagogischen Prinzip der Chancengleichheit bzw. -gerechtigkeit, welches seinerseits eng mit dem Postulat der inneren Differenzierung verbunden ist. So hatten Klafki und Stöcker (ebd. 1976) in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts das Postulat der inneren Differenzierung gerade mit dem Abbau von Chancenungleichheit zugunsten Bildungsbenachteiligter begründet (vgl. Kap. 2.3).