E-Book, Deutsch, 321 Seiten
Schönau Die Geheimnisse des Tibers
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-406-80838-8
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rom und sein ewiger Fluss
E-Book, Deutsch, 321 Seiten
ISBN: 978-3-406-80838-8
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lebensader, Höllenfluss, Lustgewässer: Über Jahrtausende war der Tiber Roms Schicksalsfluss. Als Gott verehrt und als Geißel gefürchtet, bestimmte er das Leben der ewigen Stadt. An seinen Ufern erhoben sich Kirchenstaat und Ghetto, Prunkpaläste und Armenhäuser, hier wurde gekämpft, gelitten, gefeiert – und Geschichte geschrieben. Ein Fluss voller Grandezza, Schrecken und Wunder, von denen Birgit Schönau in ihrem mitreißenden Buch erzählt.
Rom und der Tiber, das ist eine 3000-jährige Geschichte. Sie reicht vom römischen Weltreich über die große Zeit der Päpste bis in die Gegenwart. Lange existierten die Stadt und ihr Fluss in enger Symbiose. Der Tiber hielt das tägliche Leben in Gang, vom Getreide bis zum Marmor-Obelisken wurde auf ihm alles transportiert. Sein Wasser stillte den Durst der Stadt, trieb Mühlräder an, seine Fischgründe machten die Kirche reich. Die Römer fürchteten die Naturgewalt der oft verheerenden Überschwemmungen. Doch sie genossen den Fluss auch beim Baden und als Kulisse für die Zaubergärten der Renaissance. Reiche Fürsten und arme Schlucker zogen an seine Ufer auf der Suche nach Seelenheil. Am Tiber wurden Ritterschläge erteilt, Waisenmädchen verheiratet, Hinrichtungen vollzogen, Pestkranke kuriert und Prostituierte eingezäunt. In Birgit Schönaus fesselnder Doppelbiographie von Rom und dem Tiber fließt alles ineinander: Jubeljahre und Schreckenszeiten, Religion und Verbrechen, Kunst und Kloake, Geschichte und Geheimnis.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
~ Kapitel 1 ~ DER MYTHOS LEBT
Legenden der Vergangenheit, Bedrohung der Zukunft
Der große Fluss kommt in der Stille zur Welt. Nur das leichte Rauschen der Blätter ist im dichten Weißbuchenwald auf dem Monte Fumaiolo zu hören, manchmal der Schrei eines Falken. Wie ein zaghaftes Wispern klingt das Gemurmel der Quelle, die an diesem letzten Tag des heißen Sommers 2022, unter der pompösen Travertin-Stele mit dem plumpen Bronzeadler, in ein kleines Becken tröpfelt. Drei Wolfsköpfe, antiken Schiffsverzierungen nachempfunden, starren bedrohlich auf das Rinnsal herab, eine Inschrift tönt: «Qui nasce il Fiume sacro ai destini di Roma.» Hier also entspringt Roms heiliger Schicksalsfluss. Und fällt 273 Straßenkilometer von der Stadt entfernt erst einmal in eine kurze Steinrille, die den Fußweg zur Quelle kreuzt. Derart eingerahmt sind die ersten Tibertropfen seit dem Jahr XII der «Faschistischen Ära». Zur Einweihung der Quellenanlage in 1268 Metern Höhe war am 15. August 1934 Benito Mussolini persönlich erschienen, als handele es sich um eine Staatsangelegenheit. In Wirklichkeit ging es um Mythenbildung für seinen eigenen Personenkult. Der «Duce» hatte die Verschiebung der Regionalgrenzen veranlasst, auf dass der Schicksalsfluss Roms, der Hauptstadt des neuen, faschistischen Imperiums, in Mussolinis eigener Heimatprovinz entspringe, der heutigen Emilia-Romagna, und nicht länger in der Toskana. Der Faschistenführer stammte aus dem 70 Kilometer von der Tiberquelle entfernten Predappio, einem Ort fernab aller Mythologie – bis der «Mann der Vorsehung» den Tiber ins Spiel brachte. Da hatte die Toskana das Nachsehen. Wie alle Neugeborenen ist der «Schicksalsfluss» hier wenig majestätisch. «Anfangs ist er unbedeutend», wusste schon der ältere Plinius.[1] Fast scheint es, als würde er am Ende der gefassten Rille in den verrottenden Buchenblättern auf dem Waldboden auf Nimmerwiedersehen versickern. So dünn ist er und so fragil. Aber er schlängelt sich tapfer weiter, stolpert dann in einem kleinen Wasserfall über moosbehangene Kalksteine. Ein zweites Bächlein stößt dazu, dann kommt auch schon ein drittes. Von Anfang an ist dieser Fluss kein Einzelkämpfer, er wird genährt und gefüllt von vielen Zuflüssen auf seinem Weg durch ein Fitzelchen Emilia-Romagna, dann durch ein herbes Stück Toskana, das grüne Umbrien und schließlich Latium. Zum Tiberinus Pater, Vater Tiber, wird er erst nach 350 Flusskilometern abwärts, in Rom. Ohne Rom wäre er ein Fluss unter vielen, europäische Mittelklasse, in Italien erst die Nummer drei nach dem Po und der Etsch. Rom aber macht den Tiber zum Flussgott, zum «Nil des Abendlandes», wie der deutsche Historiker Ferdinand Gregorovius im 19. Jahrhundert schwärmte, zum «caeruleus Thybris, caelo gratissimus amnis», dem bläulichen Tiber, des Himmels liebster Strom. So verklärte ihn Vergil: «Ich bin es, den du mit voller Strömung die Ufer streifen und fruchtbares Land durchschneiden siehst.»[2] In der Aeneis erscheint der Gott Tiberinus, «ein Greis schon, unter Pappellaub» dem am Ufer des Flusses ruhenden Aeneas und prophezeit dem Helden aus Troja die Gründung der Stadt Alba Longa durch dessen Sohn.[3] Der etwa 20 Kilometer südlich von Rom gelegene Ort galt als «Mutterstadt» der Römer und Heimatstadt des Geschlechts der Julier, dem Julius Caesar und Augustus angehörten. In seinen Händen erhebt Aeneas das Flusswasser gen Himmel und verspricht dem «Tiber, Vater, samt deinem geheiligten Strom» andauernde Ehrung und Opfergaben, «wo immer du, Herrlichster, aus dem Erdboden hervortrittst (…), hörnertragender Fluss, Herrscher über Hesperiens Gewässer».[4] Der Fluss vereint griechische und römische Mythologie zu einer gemeinsamen Heldensage, seine Wasser erquicken den Flüchtling aus Troja, Sohn der Göttin Aphrodite, wie dessen Nachfahren Romulus und schließlich Augustus. Ohne Tiber kein Rom, ohne Rom kein Mythos. Die gewaltige Geschichtserzählung Ab urbe condita («Von der Gründung der Stadt an») des Titus Livius beginnt am Fluss, mit der Legende von Romulus und Remus. Es ist diese Erzählung, die den Tiber weltberühmt werden lässt, indem sie ihn zum Protagonisten der Stadtgründung erhebt. Die Sage von der wundersamen Rettung der römischen Zwillinge ähnelt der biblischen Legende vom Hebräersohn Mose, den seine Mutter am Ufer des Nils aussetzt, wo er von der Tochter des Pharaos gefunden wird.[5] Bei Livius ist die Königstochter Rea Silvia aus Alba Longa, eine Nachfahrin von Aeneas und die leibliche Mutter von Romulus und Remus. Der Kriegsgott Mars hat sie vergewaltigt und dabei mit den Zwillingen geschwängert, die also von zwei Göttern abstammen. Weil Rea Silvia aber als Priesterin zur Keuschheit verpflichtet ist, wird sie zur Gefangenschaft verurteilt – die alten Römer machten keinen Unterschied zwischen Vergewaltigungen und verbotenem außerehelichen Sex. Die Kinder der Verdammten trifft es noch härter, sie sollen von königlichen Sklaven in einer Wanne unterhalb des Kapitolshügels auf dem Tiber ausgesetzt werden. Doch der Fluss führt gerade Hochwasser, an seinen Ufern haben sich zahlreiche seichte Randtümpel gebildet, und bis zum eigentlichen Strom stoßen die Sklaven gar nicht vor. Also setzen sie, aus Feigheit oder aus Mitleid, die kleine Wanne in eine der Uferlachen. Der Tiber lässt die Babys unbehelligt auf dem flachen Wasser schwimmen, aber ihren Hunger kann er natürlich nicht stillen. Bald lockt ihr klägliches Geschrei eine Wölfin an, die Romulus und Remus mit ihrer Milch nährt. Das Tier wird zur Ziehmutter, der Flussgott zum Pater Tiberinus, gemeinsam ermöglichen sie Roms Geburt.[6] Damit nicht genug: Die römische Mythologie verortete auch Herkules, den Sohn des Zeus bzw. Jupiter, am Tiber. Titus Livius erzählt, dass Herkules nach Verrichtung seiner zehnten Tat, dem Raub der Rinderherde des Riesen Geryon, die Tiere an den Tiber treibt, «an eine Stelle mit üppigem Graswuchs, um die Rinder durch Ruhe und kräftiges Futter wiederherzustellen».[7] Der Held selbst schläft, als ihm der römische Hirte Cacus die Herde stiehlt und in einer Tuffsteinhöhle verbirgt. Herkules tötet Cacus und opfert eines der Rinder den Göttern. Dieses Opfer wurde später von Romulus übernommen, der dem Herkules angeblich einen Tempel am Forum Boarium, dem Rindermarkt am Tiberufer, stiftete. Erhalten ist der kreisrunde «Tempel des siegreichen Herkules» aus dem Jahr 120 v. Chr. Er gilt als ältester Marmorbau Roms.[8] Die Römer stellten sich den Gott Tiberinus als Sohn des doppelköpfigen Janus und der Nymphe Juturna vor, deren Quelle auf dem Forum Romanum lag. Der Tiber hatte seinen Tempel auf der Flussinsel und seinen Festtag am 8. Dezember, also mitten in der Hochwassersaison, wenn Opfergaben sinnvoll waren, um den winterwilden Gott zu besänftigen. Für Augustus, unter dessen Ägide Vergil und Titus Livius schrieben, bildete der Divo Tiberinus, der göttliche Tiber, gemeinsam mit der Göttin Roma ein mythisches Fundament seiner Herrschaftslegitimation. Er übernahm den Titel des Pontifex Maximus, des Obersten Brückenbauers, der als Führer des wichtigsten Priesterkollegiums für die letzte Brücke vor der Flussmündung zuständig war.[9] Der Tiber avancierte zur Chefsache und der Brückenbauer-Titel zum Beinamen der römischen Kaiser. Die von ihnen bestallten Künstler zeigten den nunmehr imperialen Flussgott vornehmlich als freundlichen Gönner und Genießer, heiter hingegossen in seinem breiten Bett.[10] Alles unter Kontrolle, lautete so die Botschaft. Mochte der Tiber auch regelmäßig die Stadt mit seinen Überschwemmungen heimsuchen – er war deshalb noch lange kein Feind der gottgleichen Herrscher Roms, sondern blieb ein alles in allem leutseliger, manchmal etwas exzentrischer Verbündeter. Als athletischer Flussgott mit Füllhorn erscheint der Tiber in dieser Statue aus der Kaiserzeit am Fuße des römischen Rathauses auf dem Kapitol. Am angeblichen Fundort der Zwillinge gegenüber der Tiberinsel war seit der Römischen Republik jenes «Boot des Aeneas» ausgestellt, das den Sohn der Aphrodite an die Küste Latiums getrieben haben soll. Der spätantike Geschichtsschreiber Prokop sah es noch im Jahr 520 und beschrieb ein 40 Meter langes und 8 Meter breites Relikt, das nach seiner Beobachtung nicht zusammengesetzt, sondern aus einem einzigen Stück Holz geschaffen war – also eine Art Riesenkanu. Der Chronist bestaunte den...