E-Book, Deutsch, Band 21, 608 Seiten
Reihe: Manesse Bibliothek
Schreiner Die Geschichte einer afrikanischen Farm
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-27041-4
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 21, 608 Seiten
Reihe: Manesse Bibliothek
ISBN: 978-3-641-27041-4
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
«The Story of an African Farm» gilt als das südafrikanische «Wuthering Heights». Der autobiografisch inspirierte Roman der deutsch- und englischstämmigen Autorin, erschienen 1883, schildert das Schicksal einer eigenwilligen Heldin namens Lyndall. Schon als junges Mädchen lernt sie die Bigotterie und Ignoranz der Menschen kennen und erfährt, wie beschränkt die Lebensperspektiven für ihresgleichen sind. Doch dank einer großen inneren Stärke verteidigt sie in der Farmerswelt der südafrikanischen Karoo ihre Unabhängigkeit und verliert dabei das Ziel nie aus den Augen: weibliche Selbstbestimmung bis zuletzt. Schreiners Erzählkunst fasziniert nicht nur durch ihren einfühlsamen Ton und ihre große künstlerische Sensibilität, sondern widmet sich auch emanzipatorischen Themen wie Sexualität, voreheliche Schwangerschaft sowie die unrühmliche Rolle des Christentums bei der Bevormundung des «schwachen Geschlechts». Das Buch, seinerzeit ein Welterfolg, erscheint anlässlich des 100. Todestags der Feministin und Menschenrechtlerin am 11.12.2020 nun in einer Neuübersetzung.
Weitere Infos & Material
1 Zeiten und Jahreszeiten Waldo lag bäuchlings im Sand. Seit er im Brennstoffverschlag seinen Gott angebetet und angeheult hatte, waren drei Jahre vergangen. Es heißt, im Jenseits werde Zeit nicht nach Monaten und Jahren bemessen. Das wird sie im Hier und Jetzt aber auch nicht. Ein Seelenleben hat seinen eigenen Rhythmus: Zeitspannen, die man in keinem Kalender findet, Phasen, die sich weder in Tagen noch Wochen beziffern lassen, aber trotzdem so scharf und klar gegeneinander abgegrenzt sind wie die unbeirrt ins Land ziehenden Jahre, welche wir der Erdumdrehung zu verdanken haben. Fremde Augen nehmen diese Abschnitte natürlich nicht wahr, doch wer auf die schmale Spur zurückblickt, die von seinem eigenen Bewusstsein erhellt wird, kann ganz deutlich jene einzelnen Teile ausmachen, deren Grenzen ein geistiges Entwicklungsstadium abstecken. Und wie ein Mensch sich vom anderen unterscheidet, so unterscheiden sich auch diese Seelenjahre. Selbst noch die diesseitigste Existenz entbehrt ihrer nicht, und die Geschichte der himmelsgewandtesten kommt darin zum Ausdruck. Und es könnte sein, dass manch einer im Rückblick auf seine Vergangenheit folgendes Muster erkennt: I Das Jahr der frühen Kindheit, wenn vor dem dunklen Hintergrund der Vergessenheit hier und da überraschend scharfe Bilder entstehen, die nichts miteinander zu tun haben, aber kunterbunt sind und einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Vieles, was danach kommt, verblasst, doch die Farben jener Kleinkindbilder leuchten weiter. Darunter vielleicht ein warmer Sommerabend. Wir sitzen vor der Haustür, den Geschmack von Brot und Milch immer noch auf der Zunge, und der rote Sonnenuntergang spiegelt sich in unserem Schälchen. Dann folgt eine finstere Nacht, in der wir plötzlich aufwachen und uns vor lauter Angst, in unserem Zimmer könnte etwas auf uns lauern, in ein fremdes Bett flüchten, wo wir eng an eine große Gestalt geschmiegt Trost finden. Da ist der Stolz, mit dem wir auf den Schultern von jemandem reiten, die Ärmchen um seinen Hals, auf dem Weg zu den kleinen Schweinen, den neugeborenen Ferkeln mit ihren Ringelschwänzen und winzigen Rüsseln – wo kommen sie her? Das Entzücken, als wir zum ersten Mal eine Orange anfassen und riechen. Die Enttäuschung, die unseren Mund verzerrt und uns bitterlich zum Weinen bringt, nachdem wir eines Morgens versucht haben, Tautropfen zu fangen, und sie zwischen unseren kleinen Fingern geschmolzen und zerronnen sind. Die grenzenlose, abgrundtiefe Verzweiflung, als wir uns jenseits der Krale verlaufen haben und das Haus nicht mehr finden können. Ein Bild jedoch hebt sich deutlicher ab als alle anderen. Es hat ein Unwetter gegeben. So weit das Auge reicht, ist der Boden mit Hagelkorn übersät, die Wolken haben sich verzogen, und über uns tut sich ein tiefblauer Himmel auf. In weiter Ferne ruht ein gigantischer Regenbogen auf der weißen Erde. Wir stehen am Fenster und sehen hinaus, und während ein kühler, unsagbar süßer Wind hereinweht, überkommt uns mit einem Mal eine Sehnsucht, eine unbeschreibliche Sehnsucht – wonach, das wissen wir selbst nicht. Wir sind so klein, dass wir nur bis zur dritten Scheibe von unten kommen. Und so blicken wir auf die weiße Erde, den Regenbogen und den blauen Himmel, und ach, wie wir wollen, wir wollen – und wissen nicht, was. Wir schluchzen, als bräche uns gerade das Herz. Als man uns besorgt vom Fenstersims hebt, sind wir nicht imstande zu sagen, was uns quält. Wir gehen spielen. So sieht das erste Jahr aus. II Inzwischen sind die Bilder fortlaufend und zusammenhängend. Nach wie vor geben Gegenstände den Ton an, doch das Geistliche und das Geistige nehmen immer mehr Raum ein. Nachts, wenn wir uns im Dunkeln fürchten, beten wir mit geschlossenen Augen. Wir drücken die Finger fest gegen die Lider, weil wir wissen, dass die tanzenden schwarzen Punkte Köpfe und Flügel von Schutzengeln sind, die schemenhaft in der Finsternis um unser Bett kreisen. Das ist ungemein tröstlich. Tagsüber lernen wir buchstabieren, und es will uns nicht in den Kopf, dass Vater V-A-T-E-R geschrieben wird und Veranda V-E-R-A-N-D-A. Man erklärt uns, das sei eben so. Uns genügt diese Antwort nicht. Wir hassen Lernen, lieber bauen wir kleine Steinhäuser. Die können wir so bauen, wie wir wollen, und wir wissen immer, wozu. Andere Freuden kennen wir auch, die gar noch größer sind als das Bauen von Steinhäusern. Ein wohliger Schauer durchläuft uns, wenn wir im roten Sand auf eine weiße Wachsblume stoßen, die zwischen zwei grünen Blättern flach aus dem Boden wächst. Wir wagen es kaum, sie zu pflücken, aber dann können wir einfach nicht anders, und wir schnuppern und schnuppern, bis unsere Wonne beinahe in Schmerz umschlägt. Zum Schluss zerzupfen wir sachte die Blätter, um die seidigen Fäden zu sehen, die sie im Innern durchziehen. Jenseits der Kopje wachsen Büsche mit hellgrünen behaarten Blättern. Weil wir so klein sind, berühren sich die Zweige über unserem Kopf, und wir sitzen dazwischen, küssen die Büsche und werden von ihnen zurückgeliebt. Es ist, als wären sie lebendig. Eines Tages hocken wir dort, blicken hinauf in den blauen Himmel und danach hinunter auf unsere speckigen kleinen Knie, und plötzlich trifft es uns wie ein Schlag: Wer sind wir? Dieses Ich, was ist das eigentlich? Wir versuchen, unserem Selbst auf den Grund zu gehen, doch unser Selbst setzt sich gegen uns zur Wehr. Erschrocken springen wir auf und rennen so schnell wir können nach Hause. Was uns so geängstigt hat, lässt sich nicht in Worte fassen, und dieses Ich-Gefühl verlässt uns im Grunde nie mehr. III Dann bricht eine neue Zeit an. Wir sind jetzt sieben Jahre alt. Wir können lesen – die Bibel lesen. Am besten gefällt uns die Geschichte von Elia in seiner Höhle am Horeb und dem stillen, sanften Sausen.46 Eines – sehr wichtigen – Tages sitzen wir mit unserer Bibel auf der Kopje und entdecken das fünfte Kapitel des Matthäusevangeliums, welches wir in einem Rutsch durchlesen.47 Es ist die reinste Goldgrube, und wir klemmen uns die Bibel unter den Arm und jagen nach Hause. Wer hätte gedacht, dass es böse ist, Dinge, die einem gestohlen wurden, wieder an sich zu nehmen, böse ist, vor Gericht zu ziehen, böse …! Ganz außer Atem kommen wir zu Hause an und erzählen von dem unbekannten Kapitel, erzählen, was darin geschrieben steht. Die klugen alten Leute sagen, das wüssten sie längst. Unsere Entdeckung tun sie als viel Lärm um nichts ab, uns bedeutet sie jedoch alles. Von den Zehn Geboten und dem gerne zitierten «Du sollst» haben wir schon zur Genüge gehört, darauf geben wir nichts. Doch für das neue Gesetz sind wir Feuer und Flamme. Von nun an üben wir Verzicht. Unser selbst gebasteltes Wägelchen schenken wir den kleinen Kaffern. Wir sagen nichts, wenn sie uns mit Sand bewerfen (und sind dabei überglücklich). Beim Frühstück greifen wir gezielt nach der Teetasse mit dem Sprung und nehmen uns das verbrannte Grillbrot. Wir sparen unser Geld und kaufen für drei Pence Tabak für die Hottentottin, die uns immer beschimpft. Wir sind unerhört tugendhaft und nachts sind wir hochgradig religiös. Selbst die tickende Uhr sagt zu uns: «Ewigkeit, Ewigkeit! Hölle, Hölle, Hölle!», und die Stille spricht von Gott und den Dingen, die da kommen mögen. Mit der Zeit werden uns auch immer öfter unbequeme Fragen gestellt; wir wissen nicht, von wem, aber er sitzt irgendwo hinter uns. Später lernen wir ihn besser kennen. Bis dahin gehen wir mit seinen Fragen zu den Erwachsenen, mit deren Antworten wir zwischenzeitlich vorliebnehmen. Sie sind der Meinung, es sei großherzig von Gott gewesen, die Hölle zu erschaffen, und ein Zeichen seiner Liebe, dass Menschen dort hinmüssen, außerdem habe er ohnehin keine Wahl gehabt. Und da die Großen in unseren Augen sehr weise sind, glauben wir ihnen – fürs Erste. IV Danach kommt wieder eine neue Zeit, die sich hauptsächlich dadurch auszeichnet, dass die unbequemen Fragen lauter werden. Wieder gehen wir damit zu den Erwachsenen, deren Antworten uns jedoch nicht mehr ausreichen. Allmählich macht sich zwischen uns und der guten alten Sinnenwelt nun die Geisterwelt breit, bis von ersterer nichts mehr zu sehen ist. Was bedeuten uns jetzt noch die Blumen? Sie sind bloß Brennstoff, der auf die große Feuersbrunst wartet. Fällt unser Blick auf die Hausmauern und die schlichten Schafskrale, über die munter der Sonnenschein tanzt, nehmen wir davon nichts mehr wahr. Stattdessen sehen wir einen gewaltigen weißen Thron, und auf dem Thron sitzt Gott. Ringsherum tummeln sich helle Scharen: Harfenspieler, die auf ihren Harfen spielen, tausendmal zehntausend und abertausend mehr. Wie weiß ihre Kleider sind, gewaschen im Blut des Lammes! Als die Musik anschwillt, sprengt sie mit ihrer unsagbaren Schönheit die Himmelsgewölbe. Und wir, die wir lauschen, hören dann und wann, wenn der tiefste, süßeste Ton erklingt, von unten die Verdammten aufstöhnen und schaudern im strahlenden Sonnenschein. «Diese Qual», sagt Jeremy Taylor, aus dessen Predigten unser Vater am Abend gerne vorliest, «birgt so viele Qualen wie der menschliche Körper Gelenke, Sehnen und Adern, und sie rührt von dem wahren, verheerenden Feuer, dem das irdische Feuer bloß Abbild ist. Wie will man ein hundertjähriges Brennen vergleichen mit einer Flamme, die lodert, solange Gott Gott ist?»48 An diese Worte müssen wir dort im Sonnenschein denken. Jemand kommt vorbei und fragt, weshalb wir so finster nicken....