Schröder | ICH PFEIFE! | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Schröder ICH PFEIFE!

Aus dem Leben eines Amateurschiedsrichters

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-608-10799-9
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Was ein Fußballschiedsrichter in den Amateurklassen erlebt, ist nicht die große Show, es ist das echte Leben. Hier kickt der Bäcker gegen den Schornsteinfeger und nach dem Abpfiff gibt’s erstmal einen Kasten Bier. Authentisch und mit viel Ironie wirft Christoph Schröder einen ganz anderen Blick auf unseren Volkssport Nummer 1.

Christoph Schröder steht als Amateurschiedsrichter Wochenende für Wochenende auf zugigen Dorfsportplätzen und lässt sich beschimpfen. Er wird als Wichtigtuer abgekanzelt, als Blinder und Versager. Dabei ist er doch im eigentlichen Leben Literaturkritiker. Was ist das für eine Freizeitbeschäftigung, deren höchstes Ziel darin besteht, nicht aufzufallen? Was muss man für ein Mensch sein, um sich das Hobby des Fußballschiedsrichters auszusuchen und dann auch noch, über Jahre und Jahrzehnte hinweg, dabeizubleiben? Christoph Schröder erzählt skurrile, faszinierende und rührende Geschichten von merkwürdigen Ritualen, absurden Regeln, Sportplätzen mit Schieflage und von der Schönheit des wahren Fußballspiels.
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TASCHE PACKEN Der Schnürsenkeltick.
Über Rituale, Alpträume und Ausrüstung Ich sitze in einer Umkleidekabine und bereite mich auf das Spiel vor. Durch ein Fenster kann ich nach draußen in Richtung Spielfeld blicken. Es sind eine Menge Zuschauer da. Die beiden Mannschaften stehen bereits auf dem Platz. Es ist angerichtet. Nur ich bin noch nicht fertig, nicht annähernd. Ich habe noch kein Trikot an, noch keine Stutzen und keine Schuhe. Vor mir auf dem Tisch liegt mein Mäppchen mit den übrigen Utensilien: gelbe und rote Karte, die beiden Pfeifen, Stutzenhalter, Stift, Spielnotizkarte. Im Normalfall läuft alles in der so oft erprobten Reihenfolge ab, instinktiv. Und gerade jetzt müsste ich mich beeilen, ich sehe noch einmal durch das Fenster nach draußen, langsam kommt Unruhe auf; es soll losgehen, man wartet auf mich. Aber es geht nicht: Was auch immer ich tue, geht nur in Zeitlupe vor sich. In Zeitlupe streife ich die Stutzen über, wie immer erst den linken, dann den rechten; in Zeitlupe greife ich nach dem Trikot, das ich bereits auf dem Tisch vor mir bereitgelegt habe. Da draußen, vor dem Fenster, bewegt sich alles in normaler Geschwindigkeit; die Zuschauer werden wütend, die Spieler gestikulieren zunehmend aggressiv in meine Richtung, sie sind nervös, es soll losgehen, ich streife ganz langsam das Trikot über den Kopf, bleibe dabei noch hängen, sehe kurz nichts, bin desorientiert und zunehmend panisch; jetzt ist wieder Licht da, und ich muss wieder durch das Fenster schauen, da draußen kicken sie jetzt ohne mich den Ball hin und her, und das geht doch nicht, denke ich, die können doch nicht ohne mich, und greife zu meinen Schuhen, in Zeitlupentempo, versteht sich, habe die Schnürsenkel zwischen den zittrigen Fingern; versuche mich zu erinnern, wie man eine Schleife bindet … und schrecke aus dem Schlaf hoch. Dieser Traum, wieder einmal. Er ist eine Konstante in meinem Leben; seit vielen Jahren träume ich ihn, beinahe wöchentlich, in immer den gleichen Bildern, in immer der gleichen quälenden Langsamkeit. Ein klassischer Schiedsrichteralptraum. Mein bester und ältester Schiedsrichterfreund, mit dem gemeinsam ich die Prüfung abgelegt habe, hat ebenfalls einen wiederkehrenden Traum: Er steht auf dem Platz, ein Spieler begeht ein sehr schlimmes und schweres Foul; der Schiedsrichter nimmt die Pfeife in den Mund, um aus voller Kraft hineinzublasen – und kein Ton kommt heraus. Beides sind Träume, die vom Versagen handeln, vom eigenen Versagen und vom Versagen der, nennen wir es so, Technik. Ja, Schiedsrichter wirken möglicherweise auf Menschen, die sich auf andere Weise mit Fußball beschäftigen, also Fans, Spieler oder Trainer, sehr merkwürdig. Sie machen etwas, was nicht vernünftig scheint: Sie übernehmen freiwillig und noch nicht einmal für eine sonderlich gute Bezahlung einen Job, der ihnen nur Ärger einbringt. Schiedsrichter sind für Nichtschiedsrichter per se erst einmal schrullige Menschen, Exzentriker, Wichtigtuer sogar. In jedem Fall übernimmt ein Schiedsrichter ein Amt, das mit Verantwortung verbunden ist und damit, die Kontrolle zu behalten. Wer die Kontrolle über ein Fußballspiel behalten will, muss zuerst einmal die Kontrolle über sich selbst behalten, zumindest für 90 Minuten. Ein Schiedsrichter muss also, wenn er erfolgreich sein will, ein disziplinierter Mensch sein. Spieler dürfen undiszipliniert sein. Man verzeiht es ihnen im schlimmsten Fall, im besten Fall entstehen dabei genialische Momente. Wenn ein Schiedsrichter aus der Rolle fällt, ist das nicht genialisch, sondern peinlich. Ein Fußballschiedsrichter ist aber auch Sportler. Er braucht Routine und Sicherheit in dem, was er tut. Dabei helfen Rituale. Sportler haben Rituale: Der eine läuft nur auf den Platz, wenn er stets dasselbe Pfennigstück unter der Sohle in seinem Schuh verstaut hat. In dem grandiosen Film Referees at work gibt es eine Szene unmittelbar vor einem Spiel der Europameisterschaft 2008: Das Schiedsrichterteam sitzt schweigend und in tiefster Konzentration versunken nebeneinander auf der Bank der Umkleidekabine. Und im Waschbecken liegt die Pfeife, das Arbeitsinstrument des Schiedsrichters, das dieser in wenigen Minuten brauchen wird. Der Wasserhahn ist aufgedreht, über die Pfeife läuft also permanent Wasser. Ich habe mir den Kopf zerbrochen über diese Szene. Die Pfeife ist das gleiche Modell, das auch ich benutze; ich sehe nicht den geringsten Sinn darin, sie vor einem Spiel feucht zu halten und durchzuspülen. Es sei denn, dahinter stecken ein bestimmter Aberglaube und die Angst, die Pfeife könnte während des Spiels plötzlich nicht mehr funktionieren. Am Tag eines Spiels habe ich einen beinahe bis auf die Minute genau durchchoreographierten Ablauf. Wenn der durcheinandergerät, werde ich nervös. Klar weiß ich, dass man auch alles anders machen könnte und es trotzdem gut gehen würde, andererseits kann man ja nie wissen … Nach dem Aufstehen packe ich meine Tasche, und zwar immer in derselben Reihenfolge, ich kann sie heruntersingen, ehrlich gesagt mache ich das auch innerlich. Ganz ehrlich gesagt, mache ich das sogar laut, wenn ich alleine bin: Duschschuhe, Handtücher, Schuhe, Stutzen, Hosen, Trikots, Unterziehshirt, Warmmachshirt, Trainingsjacke. In die Seitentasche der Sporttasche das Mäppchen mit den Utensilien. Bequem muss alles sein, praktisch, schnell greifbar. Und natürlich alles mindestens doppelt oder dreifach, weil einer der Assistenten oder auch beide ihre Trikots ja zu Hause vergessen haben könnten. Oder ihre Hose. Oder alles zusammen. Da bin ich Kontrollfanatiker und gewappnet. In der anderen Seitentasche Verbandszeug, Blasenpflaster, Salben. Kürzlich hatte einer meiner Assistenten sich beim Brotschneiden für das späte Frühstück (die Nacht hatte er durchgefeiert, so winkte er auch) in den Finger geschnitten, aber richtig. Viel Zeit zum Verbinden hatte er nicht, weil er sonst zu spät zum Treffpunkt gekommen wäre, was bei mir wiederum mittlere Panikattacken auslöst. Da war es dann praktisch, dass Dr. Paranoia mit einem schicken Verband aushelfen konnte. Und wenn man diesen Kram 100 Mal vergeblich mitgeschleppt hat – beim 101. Mal ist er dann doch nützlich. Als ich meine Prüfung abgelegt habe, gab es nur eine Farbe für den Schiedsrichter: schwarz. Als 1993 das grüne Alternativtrikot auf den Markt kam, war das eine Revolution. Über Jahrzehnte hatten die Schiedsrichter Schwarz getragen und sich die damit verbundenen Schimpf- und Rufnamen aufrichtig verdient (»Schwarzkittel«, »schwarze Sau«, der Klassiker, aber auch eine so originelle Kreation wie »katholischer Kinderf***er«, auch die gerne als Schimpfname verwendete Pfeife war damals noch schwarz, während man sie heute in 30 unterschiedlichen Farbtönen erwerben kann). Nun, mit der Einführung des grünen Trikots, mussten die Zuschauer sich neue Bezeichnungen ausdenken; das taten sie auch, aber seien wir offen: »Grüner Laubfrosch« kommt nicht annähernd an »schwarze Sau« heran, oder? Wenn ich mir auf YouTube Spiele vergangener Weltmeisterschaften oder auch alte Bundesligaspiele angucke, stelle ich fest, dass der Schiedsrichter seine modische Ausnahmestellung auf dem Platz im Lauf der Jahrzehnte verloren hat. Während die Spieleroutfits immer exotischer wurden, bis hin zu den Papageienoutfits mancher Teams in den 80er- und 90er-Jahren, war es den Schiedsrichtern erst recht spät erlaubt, überhaupt Kurzarmtrikots zu tragen. Bis dahin waren die Ärmel lang und endeten mit Manschetten, so wie das erste Trikot, das ich mir im Jahr 1988 kaufte, auch noch. Schiedsrichter waren die Gentlemen auf dem Platz, sie trugen Hemden, keine Sportswear. Das ist heute anders und hängt auch mit den veränderten körperlichen Anforderungen zusammen. Die neuen Trikots, mittlerweile auch in den Farben Gelb, Blau oder Rot erhältlich, sind wahrscheinlich aus irgendeinem Hightech-Astronautenmaterial gefertigt; jedenfalls kann man in ihnen schwitzen, so viel man will, sie werden nicht richtig feucht. Keine Ahnung, wo der Schweiß hingeht; vielleicht wird er von aggressiven Bakterien an der Trikotinnenseite aufgesogen oder zurück in den Körper gedrängt. Auch das Design und die Wirkungsweise des wichtigsten Arbeitsgeräts, der Pfeife, haben sich grundlegend geändert. Kein Schiedsrichter, den ich kenne, benutzt noch eine Trillerpfeife, also eine Pfeife mit einer Kugel, die sich im entscheidenden Moment verklemmen und einen kläglichen Piepton erzeugen kann. Das gängige Modell ist seit Mitte der 90er-Jahre die sogenannte Fox 40, eine Hochtonpfeife ohne Kugel, dafür aber mit einem etwas futuristischen Aussehen, in Kanada entwickelt und zunächst in Sporthallen eingesetzt. Die Fox, die auch in sämtlichen Profiligen zum Einsatz kommt, ist unglaublich laut; mittlerweile haben das auch die Spieler bemerkt. Zumeist hält sich derjenige, der beim Anstoßpfiff dem Schiedsrichter am nächsten steht, die Ohren zu. Manche Schiedsrichter binden sich ihre Pfeife während des Spiels ans Handgelenk, um sie nicht zu verlieren; ich hänge immer zwei Pfeifen aneinander und behalte sie lose in der Hand. Keinesfalls empfiehlt es sich, während des Spiels die Pfeife permanent im Mund zu tragen, und zwar aus drei Gründen: Erstens bringt es einen aus dem Atemrhythmus, zweitens verleitet es zum überhasteten Pfiff, weil man die halbe Sekunde, die man braucht, um die Hand zum Mund zu führen, nicht zur Verfügung hat, um auf einen eventuell entstehenden Vorteil zu achten. Und drittens kann es ja auch doch einmal passieren, dass man als Schiedsrichter einen Ball ins Gesicht bekommt. Wenn man dann die Pfeife noch im Mund hat, kann das für die Zahnreihen unangenehm werden. Unverändert in der Farbgebung sind seit ihrer...


Christoph Schröder ist seit 27 Jahren Fußballschiedsrichter. Wenn er gerade einmal nicht auf dem Fußballplatz steht und ein Spiel pfeift, ist er freier Autor und Literaturkritiker, unter anderem für DIE ZEIT, Frankfurter Rundschau, SZ und den Berliner Tagesspiegel.


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