E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Reihe: zur Einführung
Schubert / Wenzel / Joas Pragmatismus zur Einführung
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-96060-084-8
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Reihe: zur Einführung
ISBN: 978-3-96060-084-8
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Diese Einführung stellt die philosophischen und soziologischen Grundzüge des amerikanischen Pragmatismus, dessen Kern eine Theorie kreativen Handelns ist, systematisch und im historischen Zusammenhang dar. Zuerst wurde diese Theorie von Charles S. Peirce in Philosophie und Semiotik begründet und später durch die Sozialpsychologie von George Herbert Mead sowie die Pädagogik und politische Theorie John Deweys ausgearbeitet. Im Anschluss an die von Mead und Dewey begründete Chicago School of Philosophy entstand die Chicago School of Sociology, deren Theorie und Methode sowohl die Grundlage des Symbolischen Interaktionismus wie des Dramaturgischen Ansatzes Erving Goffmans bilden. Heute entwickelt sich als Antwort auf die Herausforderungen von Postmoderne und Poststrukturalismus eine neopragmatistische Theorie kreativen Handelns.
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2.The Chicago School of Philosophy – George Herbert Mead
von Harald Wenzel Mit dem Werk George Herbert Meads, der zusammen mit John Dewey um 1892 die Chicago School of Philosophy gründete, gelangen wir in jene Zone pragmatistischer Philosophie, die klar die höchste Anschlussfähigkeit für soziologische und sozialtheoretische Fragen aufweist. Dabei stärkt Mead nicht einfach nur den sozialphilosophischen Entwicklungsstrang im Pragmatismus – das tut er auch, insbesondere in seiner Philosophie der Sozialität (Mead 1969). Im Zentrum seines Werkes steht jedoch nicht die Philosophie, sondern die Sozialpsychologie und in deren Mittelpunkt: der Begriff der symbolischen Interaktion. Diese Sozialpsychologie unterscheidet sich freilich von einem Verständnis der Disziplin, das im Fach Psychologie bis heute dominiert: die »psychologische« Sozialpsychologie fragt nach der sozialen Beeinflussung psychischer Prozesse. Mead vertritt hingegen eine »soziologische« Sozialpsychologie und fragt nach den sozialen Bedingungen psychischer Prozesse. Weder Peirce noch Dewey erheben Sozialität in dieser Art zu einem Grundprinzip pragmatistischen Denkens, weder Peirce noch Dewey stellen eine derart enge Verklammerung des Pragmatismus mit den sozialen Problemen der Gesellschaft und ihrer Lösung in sozialen Reformen her, wie Mead das tut. In diesem Kapitel wollen wird das Werk Meads in den für die pragmatistische Sozialtheorie wesentlichen Schwerpunkten vorstellen. In einem ersten Schritt wird Meads Denken von der physiologischen Psychologie zur Sozialpsychologie nachgezeichnet (2.1). Ein zweiter Schritt befasst sich mit den Grundlagen dieser Sozialpsychologie: mit der Bedeutung symbolischer Interaktion als Mechanismus der Entstehung reflektierender Intelligenz aus einer subhumanen Sozialität, aus dem Tier-Mensch-Übergangsfeld heraus (2.2). Symbolische Interaktion ist dann auch der Schlüsselbegriff für die Rekonstruktion der Genese des individuellen, reflektierenden Selbst. Ohne dessen Kreativität sind soziale Reformen, ist die Lösung sozialer Kooperationsprobleme nicht denkbar (2.3). 2.1Von der physiologischen Psychologie zur Sozialpsychologie
George Herbert Mead wendete sich in seinen Studien zunächst der physiologischen Psychologie zu. Diese hatte sich um die Jahrhundertwende weitgehend von dem Zwang, mit rigiden theologischen Lehren konform zu gehen, emanzipiert. Die Abgrenzung von der Theologie ging auch auf den Einfluss der Evolutionslehre Darwins zurück, die die Beziehung von Organismus und Umwelt als Grund für die Entwicklung von Gattungen zu ihrem Ausgangspunkt macht. Die daran anschließende funktionalistische Psychologie steht am Beginn einer neuen Phase der pragmatistischen Philosophie und Sozialtheorie. Sie betrachtet das Psychische als Funktion im Verhalten und knüpft dabei an Überlegungen an, die William James (1950) in seiner Psychologie entwickelt hat. James kritisiert eine substanzialistische Auffassung des Psychischen, wie sie in der assoziationalistischen Psychologie des Britischen Empirismus (John Locke, David Hume) zum Ausdruck kam. Für ihn ist das Bewusstsein eine Funktion im Verhaltensprozess des Organismus, mit dem sich der Organismus in Beziehung zu seiner Umwelt setzt. Die neue Disziplin der Psychologie arbeitet sich an den von der Philosophie ererbten Problemen ab. Schon James’ Bestimmung des Psychischen, erst recht aber dessen funktionalistische Definition durch Dewey sind als Lösung für ein zentrales Problem der Philosophie gedacht: Sie wollen den Dualismus von Körper und Seele (Physis und Psyche), Materie und Geist, Erkanntem und Erkennendem, Empfindung und Idee, Tatsache und Wert überwinden und zählen deshalb zur »Revolte gegen den Dualismus« (Lovejoy 1955). Ihre unmittelbaren Gegenspieler in der Disziplin der Psychologie sind jene Positionen, die die Psychologie dualistisch auf der Basis eines psychophysischen Parallelismus begründen oder sie einseitig in einen Monismus überführen wollen: entweder in Richtung einer Seelenschau, eines Introspektionismus oder im Sinne eines Behaviorismus, einer bloßen Verhaltensschau sozusagen. Schlüsseltext der funktionalistischen Psychologie und Ausgangspunkt für Meads Aufbruch zur Sozialpsychologie ist Deweys Aufsatz »The Reflex Arc Concept in Psychology« (Dewey 1975). Im Modell des Reflexbogens werden unabhängiger Reiz, innere Reizverarbeitung und äußerliche motorische Reaktion als diskrete Elemente zu einer kausal-mechanischen Abfolge zusammengestellt. Dieses Modell kann seine Verwandtschaft mit der assoziationalistischen Psychologie nicht leugnen. Dewey stellt die organische Einheit eines zielgerichteten Handlungsprozesses gegen diese Auffassung, indem erst das Reaktionsverhalten darüber entscheidet, was eigentlich der Reiz war, auf den es antwortet. Es gibt immer verschiedene Reaktionsmöglichkeiten, und solange die Interpretation des Reizes nicht festgelegt ist, ist auch die Reaktion nicht bestimmt. »Der Reiz muss erst konstituiert sein, damit eine Reaktion auftreten kann. Dies genau ist die Nahtstelle, aufgrund derer eine Unterscheidung von Empfindung als Reiz und Bewegung als Reaktion erst auftaucht.« (Dewey 1975: 106) Am Anfang des Handelns steht eine Hemmung, einander widerstreitende Impulse tragen das Handeln auch aus tief eingefahrenen Spuren von Routine und Gewohnheit heraus: Handeln ist ein Anhalten des Verhaltensflusses. Die einander widerstreitenden Impulse verlangen eine Koordination: In einem hypothetischen Entwurf wird dieses Handlungsfeld rekonstruiert. »Die Suche nach einem Reiz ist die Suche nach den genauen Bedingungen des Handelns; d.h. nach jenem Zustand, der bestimmt, wie eine beginnende Koordination vollendet werden sollte.« (Dewey 1975: 107) Reiz und Reaktion sind demnach nicht zwei diskrete, in kausaler Beziehung stehende Elemente, sie gleichen eher zwei unterschiedlichen Perspektiven, um das Fortschreiten des Aktes vom Problem zur Lösung nachzuvollziehen. Was das Problem war, das durch das Handeln gelöst wurde, wird erst in seiner Lösung offenbar; Reize/Probleme sind interpretative Konstrukte – und der Handlungsakt ist immer auch ein Akt der Interpretation. Die Charakterisierung des Handelns als problemlösend wird – wie schon bei Peirce – zum Grundprinzip des Pragmatismus von Dewey und Mead. Dewey gewinnt die wichtige Einsicht, dass es keine diskreten psychischen Elemente gibt, die – sei es durch Reiz-Reaktions-Assoziation, sei es in Gestalt eines bloßen Parallelismus – entsprechenden Elementen in der physischen Welt eindeutig zugeordnet sind. Das Psychische hat eine irreduzible, eigene, besondere Qualität. Mead knüpft an diese Einsicht Deweys an, insbesondere in seiner zentralen Arbeit zur funktionalistischen Psychologie, »Die Definition des Psychischen« (Mead 1980a: 123). Der psychophysische Parallelismus, wie er z.B. im Werk von Wilhelm Wundt vorliegt, will zugleich Theorie der subjektiven wie auch der objektiven Erfahrung sein. Er schreibt damit die Problematik eines philosophischen Dualismus nur fort. Mead setzt sich in seiner Untersuchung mit einer Reihe weiterer Ansätze auseinander, die sich allesamt in der einen oder anderen Form als durch diesen Dualismus belastet erweisen: Sie reduzieren das Psychische entweder auf die Qualität des Subjektiven und Privaten oder schreiben ihm vorschnell allgemeine, objektive Geltung zu. Es ist der hypothetisch-pluralistische Ansatz der Psychologie von William James, der diese Bestimmungsversuche in sich aufhebt: Das Psychische ist subjektiv, privat, zugleich aber weist es über sich hinaus auf allgemeine, sachliche Geltung; das Psychische ist Phase, Funktion in einem umfassenderen Prozess des Handelns: »Ein psychischer Zustand, insofern er funktional ist, [kann] keine Empfindung von etwas sein […], das nicht in diesem Zustand enthalten ist. Sein funktionaler Charakter beschränkt den Bezugsrahmen dieses Zustands auf diese Funktion, welche die einer Rekonstruktion desintegrierter Koordinationen ist.« (Mead 1980a: 133) James’ Analyse des Bewusstseinsstroms, die Einsicht, dass das Psychische als unmittelbare, subjektive Erfahrung funktional in einen umfassenderen Zusammenhang eingeordnet ist, ergänzt sich mit Deweys Kritik des Reflexbogens, mit dessen Überzeugung vom problemlösenden Charakter des Handelns. Auch für James liegt die Subjektivität und Willensfreiheit des handelnden Individuums in der Analyse und Bewertung konfligierender Handlungsantriebe; es gibt keinen Handlungsantrieb, der das Geschehen determiniert, es bedarf der Reflexion des Individuums auf diese Situation, aus der heraus spontan eine kreative Lösung, eine neue Organisation des Handelns entsteht – die sich in der folgenden praktischen Umsetzung allerdings noch bewähren muss, zunächst also nur den Charakter einer Hypothese hat. Gleichsam aufgespannt zwischen Handlungshemmung und hypothetischer Problemlösung zeigt sich die Willensfreiheit und Subjektivität des Individuums – mit der neuen Organisation des Handelns entsteht auch eine neue Organisation der Identität des Individuums. Wir können uns frei entscheiden, ein Anderer zu sein, uns zu verändern (es ist eine andere Frage, ob es uns gelingt, diese Hypothese auch in die Praxis...