E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Schütt "Security First"
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7445-0808-7
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Erwerbslose im Spannungsfeld zwischen Hilfebezug und prekärem Arbeitsmarkt
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-7445-0808-7
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Mit der Einführung der "GeSetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" erfolgte eine Neuausrichtung des Sozialstaatsmodells vom versorgenden Wohlfahrts- zum Aktivierungsstaat. Diese Transformation des Sozialstaats wird mittels sog. "Work-first"-Programme umgeSetzt, deren Primärziel eine möglichst schnelle Wiedereingliederung von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt ist. In dieser empirischen Arbeit wird gezeigt, wie Erwerbslose den ALG-II-Bezug aktiv, aber eigenwillig als Sicherheitsressource interpretieren und nutzen. Mit der Handlungsstrategie "Security first" wird nicht eine möglichst schnelle, sondern eine möglichst stabile Integration ins Erwerbssystem verfolgt. Es handelt sich um eine eigenverantwortliche Priorisierung von individueller Sicherheit, die dazu dient, die Risiken eines prekären Arbeitsmarkts unter Bedingungen zunehmender Subjektivierung zu begrenzen. Die vorliegende Untersuchung bietet die Grundlage für eine politische Debatte, die jenseits von "Schuldzuweisungen" gegenüber erwerbsfähigen Hilfebedürftigen anSetzt, welche zumeist auf moralisierenden Unterstellungen von defizitären Persönlichkeitsmerkmalen und geringer Erwerbsorientierung basieren. Die Ergebnisse zeigen, wie der Hilfebezug als wichtige Ressource genutzt wird, um bei hoher Eigenverantwortlichkeit und ausgeprägter Erwerbsorientierung auch weiterhin individuell das Ziel der Arbeitsmarktintegration zu verfolgen. Aber: Arbeit nicht um jeden Preis – "Security first"!
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Wirtschaftswissenschaften Volkswirtschaftslehre Volkswirtschaftslehre Allgemein Arbeitsmarkt
- Wirtschaftswissenschaften Volkswirtschaftslehre Wirtschaftspolitik, politische Ökonomie
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Regierungspolitik Wirtschafts- und Finanzpolitik
- Wirtschaftswissenschaften Volkswirtschaftslehre Volkswirtschaftslehre Allgemein Beschäftigung, Arbeitslosigkeit
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Wirtschaftssoziologie, Arbeitssoziologie, Organisationssoziologie
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2. Der Systemwandel der sozialen Sicherung
Wie bereits in der Einleitung dargelegt, hat sich in Deutschland in den letzten zehn Jahren ein enormer Wandel des Systems der sozialen Sicherung vollzogen. Der Sozialstaat hat sich zum modernen Wohlfahrtsstaat gewandelt, ein wesentliches Element ist die Neuausrichtung des sozialen Sicherungssystems nach den Prinzipien des Workfare und eine Erweiterung um das Leistungsprinzip (vgl. Schneider 2011, S. 23). Was ist das qualitativ Neue daran? Wie eng sind Arbeitslosigkeit und ihre gesellschaftliche Deutung mit dem Erwerbssystem, der Erwerbsgesellschaft verbunden? Was ist der Grund dafür, dass nun im Zuge der Neuausrichtung von „Re-Kommodifizierung“ die Rede ist? Um das qualitativ Neue dieses Wandels von Welfare zu Workfare erfassen zu können, lohnt zunächst ein Rückblick in die Geschichte sozialstaatlicher Armuts- und Arbeitslosenpolitik und ein Blick auf deren sozialwissenschaftliche „Verarbeitung“. Zum Verständnis der aktuellen Debatten rund um das Phänomen Arbeitslosigkeit ist es hilfreich, die Auseinandersetzung mit Arbeitslosigkeit seit Beginn der Industrialisierung, also über einen langen Zeitraum, in dem sich Erwerbsarbeit zunehmend als zentraler Vergesellschaftungsmodus herausgebildet hat, in groben Linien nachzuzeichnen. Auf Basis dieser Entwicklungslinien ist der Systemwandel, wie er mit den Hartz-Reformen eingeleitet wurde, verstehbar und die Qualität des Paradigmenwechsels nachvollziehbar. Dabei ist von Interesse, wie dieser Systemwechsel in normative Regelungen umgesetzt wird und wie die arbeitsmarktpolitischen Ansatzpunkte im Detail geregelt sind. Knapp zehn Jahre, nachdem die Reformen angestoßen wurden, können den formulierten Zielen auch die entsprechenden Arbeitsmarktdaten gegenüber gestellt werden. Dieser quantitative Blick auf die Entwicklung von Arbeitslosigkeit wird abschließend durch qualitative Ergebnisse der Wirkungsforschung zu aktivierender Arbeitsmarktpolitik ergänzt. Wie sind Vermittlungsprozesse konkret ausgestaltet? Wie wird der Spagat zwischen „Fördern und Fordern“, zwischen Eigenverantwortung und Restriktion, im Vermittlungsprozess im Alltag gelebt und erlebt? Wie werden die Instrumente und Maßnahmen der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik umgesetzt und wie wirken sie aus Sicht der Betroffenen? Auf Grundlage der historischen Einbettung der Veränderungen sowie des Stands der einschlägigen Forschung werden die Fragestellung sowie die Untersuchungsgruppe dieser Studie noch einmal spezifiziert. 2.1 Historische Entwicklung der Armuts- und Arbeitslosenforschung in Deutschland
Die folgende Darstellung der historischen Entwicklung der Armuts- und Arbeitslosenforschung in Deutschland dient als Einführung und Hinführung zu den aktuellen Debatten und den diskutierten Veränderungen. Hier lassen sich drei historische Phasen unterscheiden. Zunächst geht es um die Phase der Industrialisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in der Armut und Arbeitslosigkeit in erster Linie als individuelles Versagen interpretiert wurden. Im Zuge wirtschaftlicher Veränderungen, allen voran der Weltwirtschaftskrise um 1929, veränderte sich dann die Sichtweise auf die „Schuldfrage“; die Arbeitsmarktforschung nahm strukturelle sowie konjunkturelle Armuts- und Arbeitslosenrisiken in den Blick und die Auswirkungen von derart „unverschuldeter“ Arbeitslosigkeit gerieten ins Visier der Forschung. Wegweisend für diese Art von Wirkungsforschung war die 1933 erschienene Untersuchung „Die Arbeitslosen von Marienthal“ der Forschungsgruppe um Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel. Nach dem Zweiten Weltkrieg fristete die Arbeitslosenforschung in der jungen Bundesrepublik Deutschland aufgrund der niedrigen Arbeitslosenzahlen bis in die 1970er Jahre ein eher unscheinbares Dasein, erst Anfang der 1980er führten steigende Arbeitslosenquoten zu einem Wiedererstarken des Interesses an dem Phänomen Arbeitslosigkeit. In dieser Zeit gewann eine dynamische, lebenslauforientierte Betrachtung von Arbeitslosigkeit an Boden. Von 1993 bis 2011 lag die Arbeitslosenzahl in der Bundesrepublik über drei Millionen, die Arbeitslosenquoten bewegten sich in diesem Zeitraum zwischen 7,7 und 11,7 Prozent (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2012, S. 44 und 56). Diese dauerhaft hohe Arbeitslosigkeit bildete eine enorme Herausforderung für die sozialen Sicherungssysteme und war der Hintergrund für die unter Bundeskanzler Schröder (1998 bis 2005) angestoßene Modernisierung des deutschen Sozialstaates. 2.1.1 Vergesellschaftung und soziale Sicherung über Lohnarbeit Die soziologische Arbeitslosenforschung8 ist aufs engste mit einer Entwicklung verbunden, in der sich Erwerbs- und Lohnarbeit als die Form der sozialen Absicherung etablierte. Mit der gesellschaftlichen Neubewertung von (Lohn-)Arbei ging eine Stigmatisierung und Kriminalisierung von armen Arbeitslosen einher (vgl. Promberger 2005a). Vor allem anhand der Geschichte der Zucht- und Arbeitshäuser in Europa lässt sich der Wandel des Stellenwerts von Lohnarbeit und seiner institutionellen Einbettung nachvollziehen. Diese Häuser erfüllten im Laufe der Zeit zentrale Funktionen zur Verwaltung, Verfügbarmachung und Zurichtung von menschlicher Arbeitskraft, wie beispielsweise Marzahn (1984) ausführt: „Auf der ökonomischen Ebene bedeutet das Zucht- und Arbeitshaus eine Entlastung der Armenkassen und damit eine allgemeine Zentralisierung, Rationalisierung und Ökonomisierung des Armenwesens. Darüber hinaus war es ein Beitrag zur Arbeiterbeschaffung […]. Auf der ordnungspolitischen Ebene war das Zucht- und Arbeitshaus ein Instrument zur Sozialdisziplinierung, dessen sich das aufsteigende Bürgertum immer mehr bemächtigte […]. Auf der ideologischen Ebene erzwang, demonstrierte und verbreitete das Zucht- und Arbeitshaus pädagogisierend jene neuen Orientierungen und Normen, deren Verinnerlichung den freien Lohnarbeiter erst funktionstüchtig und verwertbar macht.“ (Marzahn 1984, S. 67, Hervorhebungen im Original) Mit der Herausbildung der Sozialstaatlichkeit wurden arbeitslose Individuen zum Subjekt (sozial)staatlicher Regulierungen. Sich nicht aus eigener Kraft versorgen zu können wurde durch Zwangsunterbringung im Arbeitshaus und den Zwang zur Arbeit sanktioniert. Arbeitslose Subjekte entsprachen nicht dem impliziten positiven Spiegelbild „bürgerlichen Erwerbssinns, Geschäftigkeit und Selbständigkeitsstrebens, den Normen und Leitbildern des neuen Zeitalters“ (Marzahn 1984, S. 30). Der individuelle Zwang zur Existenzsicherung über Lohnarbeit wurde akut durch die Ablösung der Karitas, der christlichen Hilfe und Sorge für Arme und Bedürftige, und die Entstehung eines disziplinierenden Sozialstaats (vgl. Kostanecki 2004, S. 805). So fungierte die frühbürgerliche Sozialpolitik als „Geburtshelfer der bürgerlichen Gesellschaft“ (Ritz und Stamm 1984, S. 93). In der Folge stand ein immer größerer Anteil der Bevölkerung der industriellen Produktion als Lohnarbeiter zur Verfügung (vgl. auch Schütt et al. 2009). 2.1.2 Ursachenforschung jenseits (fehlender) Arbeitsmoral und Wirkungsforschung Zunächst wurde Arbeitslosigkeit also im Zusammenhang mit der Verelendung von Armen, deren moralischen Defiziten sowie der Etablierung und Aufrechterhaltung der Vergesellschaftungsform Lohnarbeit thematisiert (vgl. Ritz und Stamm 1984, S. 93). Ein erster Perspektivenwechsel ist festzustellen, als zuneh mend Lohnarbeitswillige von Arbeitslosigkeit betroffen waren. Nun gerieten auch externe Faktoren wie z.B. saisonale oder konjunkturelle Schwankungen oder Rationalisierungseffekte in den Fokus der Analysen (vgl. Bonß und Heinze 1984, S. 12; Bodenstein und Stojentin 1909), wie etwa folgende Passage einer internationalen Vergleichsstudie von 1896 verdeutlicht: „Und wenn die Industrie schwere Krisen durchzumachen hat […], so liegen von heute zu morgen tausende von Arbeitern brotlos auf der Straße, nicht zu gedenken der Lohnkämpfe, die oft noch größere Kalamitäten zur Folge haben.“ (Meyerinck 1896, S. 1–2) Wirtschaftliche Krisen waren stets mit einem Anstieg der Arbeitslosenzahlen verbunden. Im Verlauf der Weltwirtschaftskrise 1929/1930 stieg die Zahl der wissenschaftlichen Publikationen zur Arbeitslosigkeit deutlich an.9 In der Folge wurden Unterstützungsbedürftige getrennt nach Armen auf der einen und Arbeitslosen auf der anderen Seite betrachtet. Arbeitslosigkeit wurde nun auch jenseits subjektabhängiger Faktoren untersucht, aber auch die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die Betroffenen gerieten ins Blickfeld. Hauptsächlich wurden folgende thematischen Schwerpunkte der Folgen von Arbeitslosigkeit behandelt: materielle Einschränkungen, Auswirkungen auf soziale Beziehungen, individuelle Auswirkungen (Gesundheit, Selbstwertgefühl, Handlungsmotivation, Aktivitätspotenzial) und Veränderungen der politischen Einstellungen. Viele dieser Untersuchungen stellten die erheblichen Belastungen sowie die Veränderungen der Lebenssituation heraus, die mit Arbeitslosigkeit einhergehen. Vor allem wurde das Herausfallen aus der Erwerbstätigkeit in Zusammenhang mit dem Fehlen der Vergesellschaftung über Arbeit eingehender betrachtet (vgl. Bonß und Heinze 1984, S. 15–16; Schütt et al. 2009, S. 152). In dieser Zeit entstand die berühmte Marienthal-Studie, in der in einem österreichischen Industriedorf die Folgen von langanhaltender Massenarbeitslosigkeit umfassend untersucht wurden. Neben einer ausführlichen Erfassung der Lebensumstände, der psychologischen Folgen von Arbeitslosigkeit und des veränderten Erlebens von Zeitstrukturen wurden in der Marienthal-Studie auch vier Haltungstypen der Arbeitslosen extrahiert: die...