E-Book, Deutsch, 204 Seiten
Schulz / Klenk Mit fliegenden Händen
2. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7431-2093-8
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Gespräch mit gehörlosen Menschen
E-Book, Deutsch, 204 Seiten
ISBN: 978-3-7431-2093-8
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Matthias Schulz, Gehörlosenpfarrer und Pastoralpsychologe im Klinikum am Europakanal Erlangen seit 2002. Bibliodramaleiter, Psychodramaleiter und Supervisor, Kursleiter für KSA Seelsorge Aus- und Fortbildung.
Autoren/Hrsg.
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Tor, Tor – aufgewachsen neben der „Taubstummenschule“ – Joachim Klenk erzählt
Foto: Klenk
JK
Der 8-jährige Junge in dieser kleinen Begebenheit bin ich, Joachim Klenk. Zufall oder nicht, ich bin neben der Gehörlosenschule in Würzburg aufgewachsen, die damals noch Taubstummenanstalt heißt. Keine 200 Meter von unserer Wohnung entfernt. Natürlich haben wir immer wieder mit gehörlosen Jungs Fußball auf dem Bolzplatz gespielt. Bis, ja bis ich am Boden lag. Dann wollte ich nicht mehr. Erst später beginne ich zu verstehen, dass wir zwei Jungs schlicht keine ausreichende Kommunikation zustande bringen. Vergessen habe ich diese Begebenheit nie. Das Gefühl einer ganz besonderen Welt mit ebenso besonderen Menschen begegnet zu sein, verliert sich nicht mehr in meinem Leben. Einschätzen kann ich all das erst als 25-jähriger Student, als ich bereits ein Praktikum in der Gehörlosenseelsorge hinter mir habe. Den anderen Jungen, Thomas ist sein Name, habe ich übrigens drei Jahrzehnte später in meiner Funktion als Gehörlosenpfarrer getraut. Symbolisch darf ich ihm nach der Trauung meine Faust auf seine Nase setzen. Seitdem sind wir quitt. Man trifft sich eben immer zweimal im Leben.
MS
Was oder wer hat dich nach diesem Erlebnis dann doch zur Mitarbeit in der Gehörlosenseelsorge inspiriert?
JK
Die Gebärdensprache zu lernen hat mich inspiriert. Ich finde es faszinierend visuell zu kommunizieren. Genauso wichtig ist mir die Frage der gesellschaftlichen Benachteiligung gehörloser Menschen. Vor allem durch meine Mutter hatte ich schon sehr früh besondere Antennen für diese Fragen entwickelt. Sie lehrte mich seit frühester Kindheit „sozial“ zu denken. So machte ich mir schon als Grundschulkind immer wieder Gedanken über Situationen, in denen Kinder ausgegrenzt werden. Ich fragte mich, was es bedeutet ständig an Grenzen zu stoßen, vieler Bildungsmöglichkeiten beraubt zu sein, subtile Diskriminierung tagtäglich zu erleben. Darüber nachzudenken, reizt mich bis heute. Die evangelische Gehörlosenseelsorge hat mir mit ihren unglaublich interessanten Handlungsfeldern die Möglichkeit gegeben über viele Jahre und fachlich sehr intensiv über solche Fragen nachzudenken.
MS
Hast du Menschen getroffen, Vorbilder, die dir heute noch wichtig sind?
JK
Ja, natürlich. Ich bezeichne sie lieber als „Leuchttürme“, die mir bis heute den Weg weisen. Dazu gehören im Gehörlosenbereich mein Förderer, Freund und Mentor Pfarrer Volker Sauermann1. Er war über 25 Jahre Leiter der evangelischen Gehörlosenarbeit in Bayern, ein fachlicher Kenner der Entwicklungen, ein theologisch fundierter Pragmatiker und einer, der Talente entdeckt. Pfarrer Sauermann gründete die bayerischen Gebärdenchöre, verfeinerte die Liturgie in Gebärden und sorgte erstmals für selbstbestimmte Mitbestimmung gehörloser Gemeindemitglieder in den Gehörlosengemeinden. Seine zukunftsweisenden Einschätzungen aus den 1980er Jahren sind weitgehend alle eingetreten. In den vergangenen Jahren kam noch ein nordischer zwei Meter großer Hüne hinzu, Terje Johnsen aus Oslo. Ein, nein der Gehörlosenpfarrer aus Norwegen und langjähriger Präsident der internationalen Vereinigung „International Ecumenic Working Group“ (IEWG)2. Er ließ mich den internationalen Horizont entdecken und führte mich in den internationalen Diskurs ein. Terje Johnsen setzte in Norwegen eigene Kirchen nur für Gehörlosengemeinden durch. Dazu eine verpflichtende universitäre Ausbildung von GehörlosenpfarrerInnen und die Anstellung von PfarrerInnen in seiner Kirche3, die selbst gehörlos sind. Die Anstöße beider Männer waren und sind bahnbrechend.
MS
Sind auch Frauen Vorbilder für dich?
JK
Natürlich auch Frauen, zwei, mir sehr liebe Kolleginnen und Gehörlosenpfarrerinnen. Zum einen Pfarrerin Babro Brattgard aus Schweden, die es in einzigartiger Weise versteht, gehörlose Mitarbeitende zu fördern, zu qualifizieren und zu Säulen kirchlicher Arbeit heranreifen zu lassen. Selten habe ich eine Pfarrerin erlebt, die mit solch einer begeisternden Ausstrahlung agiert, getragen von ausgezeichnetem fachlichem Wissen. Zum anderen muss ich Pfarrerin Sabine Fries aus Berlin erwähnen, die heute als Dozentin an Universitäten tätig ist. Sie ist die bisher einzige Pfarrerin in Deutschland, die selbst gehörlos ist. Eine ganz hervorragende Theologin, eine sensibel und zugleich angenehm fordernde taube Pfarrerin und eine strahlende Frau auf dem Parkett der Deaf Society. Durch ihre Dozententätigkeit an der Humboldt Universität und inzwischen auch in Landshut hat sie mir stets die Möglichkeit geschenkt, durch „ihre“ Augen zu sehen und immer wieder neu aus dieser Perspektive die Lebenssituationen gehörloser Menschen, darunter vieler meiner Freunde, zu begreifen. Ihre „weichen“ Gebärden, z.B. von Psalmen, sind reine Poesie nicht nur für meine Augen.
MS
Was und wo sind deine ersten Erfahrungen mit fehlgeleiteter Gehörlosenseelsorge?
JK
Leider ist es ein eindrücklich negativer Versuch eines Gehörlosenpfarrers bei einem Fernsehinterview auf dem Kirchentag 1995 in Hamburg. Der Kollege versuchte mit fragmentarischen Gebärdenkenntnissen ein Fernseh-Interview zu geben. Ich schlug damals innerlich die Hände über dem Kopf zusammen. Seine Gebärden spiegelten eine mir fremde innere Einstellung, die gehörlose Menschen unbewusst zu Objekten macht und als eigenständige Persönlichkeit nicht mehr wahrnimmt. Nicht gehörlose Menschen und ihre Lebensentwürfe standen bei ihm im Mittelpunkt, sondern er selbst. Ein Ärgernis, das ich erst einmal verarbeiten musste. Heute bin ich froh, dass mir damals junge gehörlose Mitarbeitende aus unserer Gehörlosenjugend bei eben demselben Interview ein ganz anderes Bild vermittelten: Selbstbestimmt, wissbegierig, selbstbewusst, fit in Glaubensfragen, verbunden mit einer großen Portion Charme. Ihre Gebärden begeisterten selbst die Fernsehleute. Diese Erfahrung ist mir sehr wichtig. Ich empfinde sie wie wohltuende Strahlen des Himmels.
MS
Wie muss man sich deine Ausbildung vorstellen?
JK
In Seminaren, Workshops und in Gehörlosengemeinden rund um den Globus. Am meisten habe ich in der bayerischen Gehörlosenseelsorge gelernt, daran gibt es keinen Zweifel. Mein Privileg war es, an der Seite von Pfarrer Volker Sauermann zu lernen. Zudem in ein Team eingebettet zu sein, das in einer Zeit des Umbruchs in den 1990er Jahren sehr innovativ agierte. Viele bundesweit beachtete Projekte haben wir entwickelt, gehörlose und hörende Fachmitarbeitende gemeinsam. Das war eine tolle Zeit. Wenn ich heute zurückschaue, dann entdecke ich eine Breite in meiner damaligen Ausbildung, die nur wenige in dieser Weise durchlaufen dürfen. In den letzten Jahren habe ich mich vor allem in der Linguistik, in Kommunikationstheorien und im Beraterbereich weitergebildet und Coachings durchgeführt.
MS
Wann hast du begonnen in der Gehörlosenseelsorge hauptamtlich zu arbeiten?
JK
1992, damals in Nürnberg, als erster Gehörlosenjugendpfarrer in Deutschland. Eine Stiftung finanzierte diese einmalige Stelle. Mein Auftrag war es, Organisationsstrukturen und praktische Angebote für gehörlose Kinder und Jugendliche bzw. deren Geschwister in ganz Bayern aufzubauen. Das hat auch funktioniert, aber nur weil wir von Anfang an gehörlose Jugendliche als Mitarbeitende schulten und aufbauten. Viele von ihnen sind heute als hauptamtliche Mitarbeitende in der evangelischen Landeskirche oder in Verbänden aktiv. Der andere Bereich ist die Projektentwicklung. Die CD ROM „Der barmherzige Samariter“ war ein solches Projekt mit einem Budget von DM 80.0004. Übrigens, die damals erste religiös-gebärdensprachliche CD-ROM im deutschsprachigen Raum.
MS
Was hast du vorher gemacht?
JK
In Studium und Beruf habe ich immer die besonderen Herausforderungen gesucht. Ich bin schlicht sehr neugierig, erfahre gerne vom Leben anderer. Zudem spreche ich viele „soziale Sprachen“. Das erleichtert mir den...




