Schulze / Collier | Das Mädchen, das von Freiheit träumte | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Schulze / Collier Das Mädchen, das von Freiheit träumte


1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-8412-1468-3
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-8412-1468-3
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Solange wir träumen, sind wir frei!

Dölitz, 1939: Die kleine Tilli erlebt Hunger, Kälte, Bombardierungen und vor allem die Angst vor den Nazis, deren Euthanasieprogramm ihren ertaubten Bruder bedroht. Dennoch verliert das Mädchen nie den Glauben an die Zukunft und setzt durch, auf eine höhere Schule gehen zu dürfen. Mit der Befreiung durch die Russen beginnt die Leidenszeit der Frauen. Monatelang muss sich Tilli auf einem Dachboden verstecken. Auch im neuen Regime eckt sie mit ihrem Streben nach Freiheit an, und schon bald muss sie alles riskieren - und entscheiden, ob sie die Flucht in den Westen wagen soll ...

Die ergreifende und wahre Überlebensgeschichte eines kleinen Mädchens und seiner Familie.



Lorna Collier arbeitete als Journalistin für Print und Fernsehen, u. a. für die Chicago Tribune und CNN.

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3


Herbst – Winter 1939

Weihnachten war immer meine liebste Zeit im Jahr gewesen, vom Advent über den Sankt-Nikolaus-Tag bis hin zu den Weihnachtsfeiertagen selbst. Aber nach Kriegsbeginn war Weihnachten nicht mehr so wie früher. Bei all den vertrauten, geliebten Ritualen spürte man eine unterschwellige Traurigkeit und die Abwesenheit der Männer im Dorf.

Trotzdem pflegten wir unbeirrt unsere Weihnachtsbräuche. Paula und ich sammelten draußen Tannenzweige, die meine Mutter zu einem Adventskranz für den Esstisch band. Der ausgeblichene Adventskalender wurde hervorgeholt und in der Küche an die Wand gehängt, und ich durfte jeden Tag eines der kleinen Papptürchen öffnen, hinter denen sich Bilder verbargen – ein Glöckchen, ein Stern, einer der Heiligen Drei Könige –, während wir die Tage bis Weihnachten zählten.

Am 6. Dezember stellte ich meine geputzten Stiefel vorsichtig auf den matschigen Boden vor die Küchentür und hoffte, dass es nicht regnete und dass der Nikolaus der Meinung wäre, ich hätte eine Belohnung verdient.

Ich versuchte, nachts so lange wie möglich wach zu bleiben und darauf zu lauschen, wann der Nikolaus kam, aber irgendwann schlief ich doch ein, und dann war es plötzlich Morgen. Ich rannte im Nachthemd nach unten, öffnete die Tür, durch die mir ein Schwall eisiger Luft entgegenschlug, und holte meine kalten Lederstiefel ins Haus, in denen ich noch warme Plätzchen fand, Vögel mit gespreizten Flügeln. Ich lächelte. Der Nikolaus wusste, dass ich brav gewesen war.

Einige Soldaten bekamen an Weihnachten Fronturlaub, aber Wilhelm und die Oleniczak-Brüder gehörten nicht dazu. Ich konnte es kaum ertragen, den leeren Platz am Tisch zu sehen, wo Wilhelm sonst immer gesessen hatte, und fragte mich, ob er rechtzeitig zurückkommen werde. Es kam mir nicht richtig vor, ohne ihn zu feiern, schließlich war er immer dabei gewesen, hatte lauthals Weihnachtslieder gesungen und mit mir Verstecken gespielt. Er fehlte mir. Es fühlte sich an, als wäre er schon seit einer Ewigkeit fort. Wir hatten seitdem nichts mehr von ihm gehört, nicht mal eine Postkarte hatten wir bekommen.

Wenigstens mein Bruder Hugo konnte mit uns feiern. Er kam ein paar Tage vor Weihnachten an, nach stundenlanger Zugfahrt aus Ludwigslust, wo er bei einer Familie untergekommen war und eine Schule für Gehörlose besuchte. Ich wünschte mir, Hugo könnte uns öfter besuchen. Er war groß, sah gut aus, hatte dunkle, gewellte Haare, ein strahlendes Lächeln und blaue Augen, mit denen er mich immer ganz eindringlich anschaute, wenn ich mit ihm sprach. Hugo konnte verstehen, was man sagte, indem er es von den Lippen ablas. Er hatte sogar gelernt zu sprechen, auch wenn seine Stimme eigenartig klang und ich Mühe hatte, ihn zu verstehen. Mein Vater war der Meinung, Hugo solle Gebärdensprache lernen, aber Hitler hatte sie verboten. Mein Vater sagte, das liege daran, dass Hitler alle Menschen hasse, die anders waren.

Als Hugo nach Hause kam, sah meine Mutter so glücklich aus wie seit Kriegsausbruch nicht mehr. Sie sang Weihnachtslieder und redete nicht mehr über den Krieg; ich fragte mich, ob sie ihn wirklich vergessen hatte oder nur so tat.

Ein paar Tage vor Weihnachten kamen einige Freundinnen meiner Mutter mit ihren Kindern zum alljährlichen Plätzchenbacken zu uns. Das war einer meiner liebsten Weihnachtsbräuche: Die Küche war so überfüllt, dass wir kaum alle darin Platz fanden, der große Ofen brannte von morgens bis abends und machte es überall im Haus schön warm, und der Duft von Hefe, Zucker, Zimt und Ingwer lag in der Luft. Die Frauen schwatzten und lachten, sangen Weihnachtslieder, und manchmal, wenn sie sich unbeobachtet fühlten, tuschelten sie leise miteinander. Wenn sie unsere Blicke bemerkten, lächelten sie und ließen uns heiße, abgebrochene Stücke von Plätzchen stibitzen.

Endlich war es Heiligabend. Ich zog mein gutes Kleid an und ging mit meinen Brüdern und Paula zur Kirche in Boddin, die etwa eine Dreiviertelstunde von unserem Haus in Dölitz entfernt war und die wir jeden Sonntag mit meiner Mutter besuchten. Mein Vater kam nicht mit. Er gehörte der freikirchlichen Gemeinde der Siebenten-Tags-Adventisten an, die sich samstags zum Gottesdienst versammelte, ein ständiger Streitpunkt zwischen meinen Eltern. Ich konnte nicht verstehen, warum er nicht mit uns in die wunderschöne evangelisch-lutherische Kirche ging, die über tausend Jahre alt war, mit Holzschnitzereien, riesigen Buntglasfenstern und einem Kirchturm, der die höchsten Tannen überragte. Ich fühlte mich dort immer so friedlich, aber an Heiligabend fiel mir das Stillsitzen schwer – ich konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen, um zu sehen, was meine Mutter für uns gekocht hatte, und die Geschenke auszupacken. Meine Brüder zappelten ebenfalls herum, und Paula, die als Älteste für uns verantwortlich war, warf uns böse Blicke zu.

Endlich entließ uns der Pastor. Wir eilten nach Hause, stürmten in die Küche, und da war er: der Duft des Weihnachtsessens meiner Mutter. Ein köstlicher Geruch nach Gans, Zwiebeln, Äpfeln und frischgebackenem Brot schlug uns entgegen, als wir aus der feuchten Kälte, in der sich Schneeflocken in unseren Haaren sammelten, hereinkamen.

Meine Mutter erwartete uns schon. Sie wischte sich die Hände an der fleckigen Schürze ab und strich ihre braunen Strähnen unter das Kopftuch zurück. »Frohe Weihnachten«, sagte sie zu uns, und ihr warmherziges Gesicht strahlte vor Liebe.

Sie drehte sich um und ging ins Wohnzimmer. Wir folgten ihr, begierig, den Baum zu sehen.

Vor der Kirche waren meine Brüder und mein Vater in den Wald gegangen und hatten eine Fichte gefällt, sie nach Hause geschleppt und, noch ganz schief, schmucklos und nackt, in einer Ecke aufgestellt. Jetzt war sie wie verwandelt. Die Flammen der Kerzen leuchteten hell auf den Zweigen, an denen mit Gold- und Silberfarbe bemalte Walnüsse neben roten und gelben Äpfeln hingen. Ein glänzender Stern prangte auf der Spitze. Ich erhaschte einen Blick auf die Päckchen unter dem Baum. Die Geschenke des Christkinds, dachte ich aufgeregt.

Ich stellte mir immer vor, wie es mit seinem Heiligenschein inmitten von Sternen schwebte und mit einem heiteren Lächeln auf die winzigen Dörfer und größeren Städte herabblickte, die es alle irgendwie innerhalb einer Nacht besuchen würde.

Ich wollte sofort zum Baum laufen, aber meine Mutter drohte mir mit dem Finger. »Noch nicht!«, sagte sie. »Erst wird gegessen.«

Wir setzten uns an den Esstisch, wo mein Vater schon auf uns wartete. Alle Kerzen auf dem Adventskranz brannten, eine bestickte Tischdecke zierte den Tisch. Das gute Geschirr wurde erst am ersten Weihnachtsfeiertag benutzt, und so hatte meine Mutter den Tisch mit dem Alltagsgeschirr gedeckt. Aber der Kerzenschein, der sich darin spiegelte, verlieh an diesem Tag allem in unserem kleinen alten Haus einen Hauch von Glanz und Magie. Obwohl wir in den Augen der meisten keine reiche Familie waren, speisten wir an diesem und den beiden folgenden Tagen wie die Könige. Ich schlang die weichen, mit Äpfeln und Zwiebeln gefüllten Hefeknödel und den heißen Eintopf aus Gänseinnereien und Kartoffeln hinunter, und alles schmeckte mild, würzig und köstlich.

Nach dem Abendessen versammelten wir uns um unsere Mutter, die in einem Schaukelstuhl neben dem Baum Platz genommen hatte. Sie schlug die alte schwarze Bibel auf ihrem Schoß auf und las uns die Weihnachtsgeschichte vor. Dann fiel ihr Blick auf die Päckchen unter dem Baum.

»Du liebe Zeit! Das Christkind war ja schon da«, rief sie in gespieltem Erstaunen aus, beugte sich vor und nahm ein Paar cremefarbene Socken. »Seht mal, was es für Tilli dagelassen hat«, sagte sie und reichte mir die Socken mit einem Lächeln. So gab sie allen ihre Geschenke, außer sich selbst. Neue Schreibhefte für meine Brüder, eine Schürze für Paula, ein Glas Johannisbeermarmelade für meinen Vater – das alles wäre von reicheren Familien wohl als bescheiden angesehen worden, aber für mich war es perfekt.

Nachdem alle Geschenke verteilt waren, holte Helmut sein Akkordeon. Es war Zeit zu singen: Weihnachtslieder, Kirchenlieder, Volkslieder, wonach auch immer uns der Sinn stand. Der schreckliche, beängstigende Krieg war vergessen und rückte für ein paar Stunden in weite Ferne. Die Kerzen auf dem Baum leuchteten, und während um mich herum fröhliche Musik erklang, hatte ich das Gefühl, in einen Kokon aus Liebe, Geborgenheit und reinem Glück eingebettet zu sein.

Drei Wochen waren seit Weihnachten vergangen, als ich vom Kindergarten nach Hause kam und sah, wie ein fremder Wehrmachtsoffizier unser Haus verließ. Er hatte ein langes, strenges Gesicht und ging an mir vorbei, ohne mich zu bemerken, geschweige denn zu lächeln.

Ich kam in die Küche und war geschockt. Meine Mutter saß mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf am Tisch und schaute auf, als sie mich kommen hörte. Tränen standen ihr in den Augen, ihr Kinn bebte, ihre Wangen waren gerötet.

Ich hatte meine Mutter noch nie weinen sehen.

»Oh, Tilli«, sagte sie, und es klang halb wie ein Flüstern, halb wie ein Schluchzen. »Hol deinen Vater. Geh, und such deine Brüder und Paula.«

Ich rannte in den kalten, rutschigen Stall und rief alle zusammen.

Als jeder da war, zog meine Mutter mich auf ihren Schoß und verkündete uns die schreckliche Nachricht.

Wir hielten einander in den Armen, dann rannte ich nach oben und holte Doris aus ihrem Kinderwagen, obwohl ich sie ja eigentlich nicht anfassen durfte. Ich legte mich mit ihr...



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