E-Book, Deutsch, Band 1, 288 Seiten
Reihe: Die City of Ghosts-Reihe
Schwab City of Ghosts - Die Geister, die mich riefen
Deutsche Erstausgabe
ISBN: 978-3-641-24034-9
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 1, 288 Seiten
Reihe: Die City of Ghosts-Reihe
ISBN: 978-3-641-24034-9
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Seit Cassidy Blake fast ertrunken wäre, kann sie Geister sehen und die Welt der Toten betreten. Sogar ihr bester Freund ist ein Geist! Und als ob das nicht schon merkwürdig genug wäre, werden ausgerechnet ihre Eltern die neuen Stars einer Geisterjäger-Fernsehshow. Der erste Drehort: Edinburgh. Die Friedhöfe, Burgen und Geheimgänge der alten Stadt wimmeln nur so vor Geistern – und nicht alle sind freundlich. An diesem unheimlichen Ort wird Cassidy langsam klar, wie viel sie noch über ihre Verbindung zum Reich der Toten zu lernen hat. Doch dafür bleibt ihr nicht viel Zeit, denn eine besonders dunkle Seele streckt schon die Krallen nach ihr aus ...
Alle Bände der City-of-Ghosts-Reihe:
Die Geister, die mich riefen
Im Reich der vergessenen Geister
Der Bote aus der Dunkelheit
Victoria Schwab lebt in Nashville, Tennessee, und arbeitete nach dem Studium in den verschiedensten Jobs, ehe sie ihre Leidenschaft professionalisierte und Autorin wurde. Bücher hat sie schon immer über alles geliebt - und Geschichten, in denen die Realität aufbricht und etwas Dunkles, Geheimnisvolles, Anderes durchscheint. Verflucht ist ihr Debütroman.
Weitere Infos & Material
Kapitel 1
Die meisten Leute glauben, dass Geister nur nachts oder an Halloween erscheinen, wenn die Welt dunkel ist und die Mauern zwischen den Lebenden und Toten dünn sind. Aber im Grunde sind Geister einfach überall. In der Brotabteilung im Supermarkt, mitten im Garten eurer Großmutter, auf dem Nachbarsitz im Bus.
Nur weil ihr sie nicht sehen könnt, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht da sind.
Ich sitze gerade in der Geschichtsstunde, als ich das Tipp-tipp-tipp auf meiner Schulter spüre, wie Regentropfen. Manche Leute nennen es Intuition, andere das zweite Gesicht. Es ist ein Kribbeln am Rande des Bewusstseins, das einem sagt, dass da noch etwas anderes ist.
Ich spüre das nicht zum ersten Mal – bei Weitem nicht. Nicht einmal hier in der Schule. Ich habe versucht, es zu ignorieren – das versuche ich immer –, aber es nützt nichts. Es raubt mir die Konzentration, und ich weiß, dass ich es nur zum Verstummen bringen kann, indem ich nachgebe und der Sache auf den Grund gehe.
Von der anderen Seite des Raums fängt Jacob meinen Blick auf und schüttelt den Kopf. Er kann das Tipp-tipp-tipp nicht spüren, doch er kennt mich gut genug, um zu wissen, wann ich es fühle.
Unruhig rutsche ich auf dem Stuhl herum und versuche, mich auf das Geschehen in der Klasse zu konzentrieren. Mr Meyer versucht heroisch, uns noch etwas beizubringen, obwohl es die letzte Woche vor den Sommerferien ist.
»… Gegen Ende des Vietnamkrieges im Jahr 1975 haben die US-Truppen …«, erzählt er. Niemand kann still sitzen, geschweige denn zuhören. Derek und Will schlafen mit offenen Augen, Matt arbeitet an seinem neuen Papierfußball, und Alice und Melanie schreiben irgendeine Liste.
Alice und Melanie sind beliebt.
Das sieht man daran, dass sie wie Kopien voneinander aussehen: das gleiche glänzende Haar, die gleichen perfekten Zähne, die gleichen lackierten Fingernägel. Ich bestehe nur aus Ellbogen und Knien, habe runde Wangen und braune Locken. Nagellack besitze ich nicht einmal.
Ich weiß, man sollte eigentlich zu den beliebten Kids gehören wollen, aber eigentlich hatte ich nie Lust dazu. Ich finde es viel zu anstrengend, mich an all die Regeln zu halten. Lächeln, aber nicht zu breit. Lachen, aber nicht zu laut. Die richtige Kleidung tragen, die richtigen Sportarten machen, Anteilnahme zeigen, aber nicht zu viel.
(Jacob und ich haben zwar auch Regeln, aber die sind anders.)
Wie aufs Stichwort steht Jacob auf und geht zu Melanies Tisch. Er könnte beliebt sein, mit seinem verwuschelten, blonden Haar, den strahlend blauen Augen und der immer guten Laune.
Er wirft mir einen teuflischen Blick zu und setzt sich auf den Rand ihres Tisches.
Er könnte beliebt sein, doch da gibt es ein kleines Problem.
Jacob ist tot.
»Was wir für die Filmnacht brauchen«, liest er laut von Melanies Blatt ab. Aber ich bin die Einzige, die ihn hören kann. Melanie faltet ein weiteres Blatt zusammen – die Großbuchstaben und die rosa Schrift sagen mir, dass es eine Einladung ist – und reicht sie an Jenna weiter, die vor ihr sitzt. Dabei geht ihre Hand glatt durch Jacobs Brust hindurch.
Er sieht pikiert nach unten, als wäre das extrem beleidigend. Dann springt er vom Tisch.
Tipp-tipp-tipp, macht es in meinem Kopf wie ein kaum hörbares Flüstern. Ungeduldig sehe ich zur Wanduhr und sehne das Klingeln herbei.
Jacob schlendert zu Alice’ Tisch und betrachtet die vielen Buntstifte, die sie ordentlich aufgereiht hat. Er beugt sich herunter und streckt vorsichtig einen Finger danach aus. Hoch konzentriert stupst er den äußersten Stift an.
Doch der rührt sich nicht.
Im Film können Poltergeister Fernseher anheben und Betten durchs Zimmer schieben. Aber in Wirklichkeit braucht es schon eine Menge Willenskraft, damit ein Geist den Schleier – den Vorhang zwischen ihrer Welt und unserer – durchbrechen kann. Und die Geister, die diese Macht haben, sind normalerweise echt alt und nicht sehr nett. Die Lebenden beziehen ihre Kraft meistens aus Liebe und Hoffnung, aber die Toten nähren sich von anderen Dingen. Von Schmerz und Zorn und Reue.
Jacob runzelt die Brauen, während er vergeblich versucht, Matts Papierfußball wegzukicken.
Ich bin froh, dass er nicht so viel Kraft hat.
Ich weiß nicht, wie lange Jacob schon tot ist. (Ich denke das Wort leise, denn ich weiß, dass er es nicht mag.) Es kann noch nicht so lange sein, denn an ihm ist überhaupt nichts retro. Er trägt ein Superhelden-T-Shirt, dunkle Jeans und Chucks. Er spricht nicht darüber, was ihm passiert ist, und ich frage nicht nach. Man muss seinen Freunden ihre Privatsphäre lassen – auch wenn er meine Gedanken lesen kann. So etwas kann ich zwar nicht, aber ehrlich gesagt bin ich lieber lebendig und nicht übersinnlich begabt als übersinnlich begabt und ein Geist.
Beim Wort Geist sieht Jacob auf und räuspert sich. »Ich bevorzuge den Ausdruck ›körperlich eingeschränkt‹.«
Ich verdrehe die Augen. Er weiß, dass ich es nicht mag, wenn er ohne meine Erlaubnis meine Gedanken liest. Ja, das ist eine merkwürdige Nebenwirkung unserer Freundschaft, aber so ist es eben. Es gibt Grenzen!
»Ist doch nicht meine Schuld, wenn du so laut denkst«, entgegnet Jacob grinsend.
Ich schnaufe und ein paar Schüler sehen sich nach mir um. Ich rutsche auf meinem Stuhl tiefer nach unten, wobei meine Turnschuhe an meine Büchertasche stoßen. Die Einladung, die Melanie an Jenna gegeben hat, macht ihre Runde durch den Raum. Bei mir landet sie nicht. Ist mir egal.
Es ist fast Sommer, und das heißt: frische Luft und Sonne und Bücher, die man nur zum Spaß liest. Es bedeutet den jährlichen Familienausflug zum gemieteten Strandhaus auf Long Island, damit Mum und Dad an ihrem nächsten Buch arbeiten können.
Aber vor allem heißt es: keine Geister.
Ich weiß nicht, was es mit dem Strandhaus auf sich hat – vielleicht liegt es daran, dass es so neu ist oder an einem ruhigen Strandabschnitt liegt –, aber dort scheint es weit weniger Geister zu geben als hier nördlich von New York. Und das bedeutet: Wenn die Schule aus ist, liegen sechs Wochen mit Sonne, Sand und ruhigen Nächten vor mir.
Sechs Wochen ohne das Tipp-tipp-tipp unruhiger Geister.
Sechs Wochen, in denen ich mich fast normal fühle.
Ich kann es kaum erwarten.
Ich kann es kaum erwarten, und dennoch springe ich auf, sobald es läutet, werfe mir den Rucksack über die eine und den lila Kamerariemen über die andere Schulter und folge dem hartnäckigen Tipp-tipp-tipp.
»Ich habe eine verrückte Idee«, sagt Jacob, der neben mir herläuft. »Wir könnten doch einfach essen gehen.«
Es ist Hackbratendonnerstag, denke ich, bedacht darauf, nicht laut zu antworten. Da sind mir sogar Geister noch lieber.
»Na, na«, antwortet er. Aber wir wissen beide, dass Jacob kein normaler Geist ist, so wie ich kein normales Mädchen bin. Nicht mehr. Es gab einen Unfall. Ein Fahrrad. Ein zugefrorener Fluss. Die Kurzversion lautet: Er hat mir das Leben gerettet.
»Genau, ich bin quasi ein Superheld«, bestätigt Jacob, bevor ihm eine Schranktür ins Gesicht schwingt. Ich zucke zusammen, doch er geht einfach durch die Tür hindurch. Es ist nicht so, dass ich vergesse, was Jacob ist – es ist schwer zu vergessen, wenn dein bester Freund für alle anderen unsichtbar ist. Aber es ist schon erstaunlich, an was man sich so alles gewöhnt.
Und die Tatsache, dass Jacob mich schon seit einem Jahr begleitet, ist nicht einmal das Merkwürdigste in meinem Leben.
Wir kommen an die Abzweigung im Gang. Links geht es zur Cafeteria, rechts zu den Treppen.
»Letzte Chance für Normalität«, warnt Jacob, doch er hat dieses schiefe Lächeln im Gesicht. Er weiß genauso gut wie ich, dass wir über normal schon seit einer ganzen Weile hinaus sind.
Wir gehen nach rechts.
Die Treppe hinunter und durch einen weiteren Gang, gegen den Strom zum Mittagessen. An jeder Abzweigung wird das Tipp-tipp-tipp stärker, wird zu einem Sog, wie ein Seil. Ich muss nicht darüber nachdenken, wohin ich gehe. Es ist sogar leichter, wenn ich gar nicht darüber nachdenke, sondern mich einfach ziehen lasse.
Es zieht mich zur Tür des Auditoriums. Jacob schiebt die Hände in die Hosentaschen und murmelt etwas von blöder Idee, woraufhin ich ihn daran erinnere, dass er ja nicht mitkommen muss, auch wenn ich froh bin, dass er da ist.
»Neunte Freundschaftsregel«, erklärt er: »Geisterbeobachtung ist eine Zwei-Personen-Aktivität.«
»Genau«, erwidere ich und nehme die Kappe von der Kameralinse. Die Kamera, die an dem lila Riemen an meiner Schulter hängt, ist ein klobiges altes Gerät, manuell, mit einem kaputten Sucher und Schwarz-Weiß-Film.
Wenn mich ein Lehrer im Auditorium erwischt, sage ich, ich mache Fotos für die Schulzeitung. Auch wenn die Wahlfächer für dieses Schuljahr alle schon vorbei sind.
Und ich nie für die Zeitung gearbeitet habe …
Ich mache die Tür zum Auditorium auf und trete ein. Es ist ein großer Saal mit hoher Decke und schweren roten Vorhängen vor der Bühne.
Plötzlich ist mir klar, warum mich das Tipp-tipp-tipp hierher geführt hat. Jede Schule hat ihre Geschichten. Geschichten, die erklären, woher...