Schwitter Eins im Andern
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-85420-947-8
Verlag: Literaturverlag Droschl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 232 Seiten
ISBN: 978-3-85420-947-8
Verlag: Literaturverlag Droschl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eines Abends erfährt sie, als sie, statt zu schreiben, nach ihrer ersten Liebe googelt, dass er sich aus dem achten Stock gestürzt hat. Vor fast fünf Jahren schon. Sie ist schockiert, ebenso sehr über seinen Selbstmord wie über die Tatsache, dass sie ihn gar nicht vermisst hat. Nun hat sie ihn am Hals, stärker als zu Lebzeiten. Was ist das, die Liebe? Wieso kann sie kommen und gehen? Wohin geht sie, wenn sie geht? Und was ist eigentlich mit der aktuellen Liebe los? Der sitzt in seinem Zimmer und checkt Mails oder sieht fern. Die Protagonistin in Monique Schwitters neuem Roman beginnt nun eine Liebesrecherche: Sie handelt ihre Liebesbiographie an zwölf Männern ab, die weit mehr als die Namen gemein haben mit den Aposteln, den Gesandten des Glaubens und der Liebe. Es sind beinahe mythische Umrisse von Männern, die sie schreibend mit Liebe, Leben und Geschichte füllt. Und je länger sie schreibt, desto stärker schiebt sich die Rahmengeschichte, ihre aktuelle Liebessituation, ins Zentrum, bis sie die Handlung übernimmt. "Eins im Andern" ist ein außergewöhnliches Buch: ein Wagnis, ein trickreiches, konsequentes Spiel mit Leben und Fiktion. Seine mitreißend lebendige Sprache verleiht ihm, bei aller Intensität, eine fast heitere Leichtigkeit.
Autoren/Hrsg.
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1. Ähnlich schnell, wie ein Mensch geht
Wenn man plötzlich nach seiner ersten Liebe googelt, ist das eine Reaktion auf die Klopfgeräusche, die man vor dem Einschlafen und, noch kräftiger, beim morgendlichen Blick in den Spiegel, beim Anblick der tiefen, senkrechten Falte zwischen den Augenbrauen, vernommen hat. Vergeblich hat man das Klopfen zu orten versucht, hat es immerfort abwechselnd außen und innen vermutet – auf dem Dachboden / unter der Schädeldecke –, aber niemals zu fassen bekommen.
Immer häufiger taucht es auf, immer unerklärlicher, so auch an diesem späten Freitagabend im Januar. Die Kinder waren, wie meistens am Ende der Kindergartenwoche, erschöpft und überreizt; den ganzen frühen Abend haben sie gemeinsam gestritten und abwechselnd geheult, und später, weil sie ins Bett gehen sollten, wie Verrückte geschrien. Endlich schlafen sie, es ist einen Augenblick völlig still, selbst der Hund liegt reglos auf seiner Decke unter meinem Schreibtisch, ich starre auf sein schwarzes Fell, bis ich sehen kann, dass der Brustkorb sich hebt und senkt; ich atme auf, und das Klopfen wird laut. Kurze Hammerschläge erst, dann abwechselnd auch längere. Ich male Striche und Punkte in mein Notizbuch. Es ist nicht so, dass ich viel vom Morsen verstehe, aber ich beuge mich solange über die Tabelle, bis annähernd etwas Sinnvolles herauskommt. Annähernd. RAUCH. ZEIT. KIND. Naja. (Die Alternativen wären LXCH. TDIA. CRNE oder ETINAKSI. MESA. NDKI. Ich kenne keine Sprache, in der das auch nur ansatzweise Sinn ergäbe, also entscheide ich mich für Rauch, Zeit, Kind.) Stille. Mein Mann, nehme ich an, ist in seinem Zimmer damit beschäftigt, die Emails der ganzen Woche aufzuarbeiten, wie jeden Freitagabend, wenn er keinen Dienst hat, um kurz vor Mitternacht Wochenende zu rufen. Wir nehmen uns schon länger vor, wieder einmal etwas gemeinsam zu machen. Etwas. Mal hat er keine Zeit, mal ich. Rauchzeitkind! flitzt es mir durch den Kopf. Ich schlage mein Notizbuch zu, schließe die Word-Datei und öffne ein neues Fenster. Ins Suchfeld gebe ich Petrus’ Namen ein, den Namen meiner ersten Liebe.
Ich bin darauf vorbereitet, gar nichts zu finden und unbefriedigt abzubrechen. Auch mit Hinweisen auf eine Frau und Kinder rechne ich. Warum sollte nicht auch er inzwischen Familie haben? Sogar auf Fotos bin ich gefasst. Nicht aber darauf. Darauf nicht. Angekündigt aber hatte Petrus es schon in der ersten Nacht. Vom Fliegen hatte er gesprochen, zu dem der Mensch nicht fähig, und wie unendlich betrübt er darüber sei. Aufs Fallen war er zu sprechen gekommen, und von da ganz plötzlich aufs Gehen; und er hatte, weil ich nachfragte: Gehen?, ergänzt: Einen Schritt nur, einen einzigen Schritt ins Leere, und gut ist. Er hatte die Arme ausgebreitet, als ob er fliegen wollte, hatte mich angesehen und gelächelt. Mein Mann kommt herein, er hat weder geklopft noch meinen Namen gerufen, das kommt selten vor, nur im Streit, wenn er richtig wütend, richtig empört oder richtig erregt ist. Bist du beschäftigt, fragt er. Nein, antworte ich und verschlucke: Ich habe gerade von Petrus’ Tod erfahren.
Du bist außer Atem, sagt er.
Ja, ich – wovon nur, ich sitze ja nur herum.
Daran wird’s liegen. Er stockt. Er sieht aus, als ob er etwas sagen wolle. Er holt Luft, dann wendet er hastig den Kopf und horcht, keine Ahnung worauf. Er zieht die Tür zu.
War was?, frage ich noch, aber er antwortet: Nichts, was nicht warten könnte. Er schließt die Tür.
Ich ziehe die Schublade mit den Ansichtskarten auf und finde auf Anhieb, was ich suche. Einen riesigen, bärtigen Christophorus im braunen Gewand mit unverhältnismäßig langen Beinen und einem winzigen, puppenhaften Heiland auf der Schulter. Auf der Rückseite steht: Darstellung des Heiligen Christophorus (um 1400) in der Kirche St.Peter in Mistail.
Ich fahre mit dem Finger über Christophorus’ Gewand, greife nach einem braunen Rockzipfel, schließe die Augen und lasse mich forttragen. Jene Tage des Erstenmals. Es ist Winter, unser erster Winter. Petrus und ich zu Besuch bei Marcs Eltern, während der Weihnachtsferien 1992, in ihrem Ferienhaus in den Bergen.
Schneeflocken fallen, je nach Nässe, ähnlich schnell, wie ein Mensch geht. Ich habe keine Winterschuhe, und erst recht keine, die sich für eine längere Schneewanderung eignen. Ich habe Pumps, die ich während des ganzen Jahres trage. Kilometerweit, auch wenn die Füße schmerzen. In der Universität schneit es nicht. Elfi blickt auf meine Schuhe. Kind, weißt du denn, wo du bist? Ich nicke, Lenzerheide. Elfis Sohn Marc und seine Lisa besuchen dieselben Seminare wie ich, und auch sie tragen täglich und überall ein und dasselbe Paar Schuhe, im Gegensatz zu mir aber Wanderschuhe. Hier nun, im Windfang neben der Eingangstür des Ferienhauses, haben sie sich kniehohe Schneestiefel angezogen, mit zusätzlichem Innenfutter und frisch eingefettet, wie Marc mit Blick auf meine Pumps erklärt. Dann bleibe ich eben hier, ich schiele zum offenen Kaminfeuer, zum Rattanschaukelstuhl, zum Schaffell, das Elfi daraufgelegt hat, und zu Urs, ich nenne ihn so, weil ich seinen Namen vergessen habe, der, in ein Geschichtsbuch vertieft, gar nicht hört, was wir sprechen. Er sitzt in seinem schwarzen Ledersessel, das Buch auf den Knien, und schiebt alle paar Augenblicke die Brille hoch, dorthin, wo früher sein Haaransatz war. Aber sie rutscht immer wieder herunter. Mythos Schweiz. Identität – Nation – Geschichte 1291 – 1991. Das Buch hat er im Jahr zuvor zu Weihnachten geschenkt bekommen. Marc hat ihn in Verdacht, dass er es auswendig lernt. Heute ist der 31. Dezember. Es ist kurz nach Mittag. Abends wird es Fondue geben.
Das müsst ihr euch jetzt aber auch verdienen, sagt Elfi und holt ein Rätselheft und ihre Lesebrille aus der Anrichte.
Verdienen? Ich denke an Geld, denn ich habe keines.
Ja, sagt Elfi, durch einen Spaziergang zur Kirche St.Peter in Mistail. Sie will uns aus dem Haus haben, übersetzt ihr Sohn in meine Richtung, umarmt seine Lisa und küsst sie stürmisch. Petrus nimmt seine Daunenjacke vom Holzhaken und zieht sie an. Er geht in die Hocke und schnürt die Timberlandboots. Zu Weihnachten hat er mir ein kleines Buch geschenkt: Dialogue in the Void. Es ist auf Englisch, ich brauche Zeit und ein Wörterbuch, um es zu lesen. Komm doch mit, sagt Petrus. Mein Blick sucht den Kamin. Das Schaffell lockt. Ein Wörterbuch steht drüben im Regal. Komm schon, sagt Petrus, die wollen dich hier nicht haben. Elfi schlägt mit ihrem Rätselheft nach ihm: Also du bist einer, das habe ich doch gar nicht gesagt! Elfi blickt zu Petrus empor, der einen Meter zweiundneunzig groß ist. Ihr Urs, der auch anders heißen könnte, aber nicht ganz anders, misst nur Einszweiundsiebzig, ihr Sohn Marc knapp drei Zentimeter mehr, und sie selbst ist zwei Köpfe kleiner als Petrus. Zu dir kann man aufschauen, sagt sie, langsam und feierlich, wirft den Kopf in den Nacken und schließt die Augen. Petrus stammt aus einer alten, reichen Familie mit einem Vermögen, dessen Wert nur der engste Kreis kennt, und einem Stammbaum, der sich über siebenhundert Jahre zurückverfolgen lässt. Das hat Elfi gleich gespürt, wie sie später sagte. Ja, waaaaas!, rief sie, als sie es erfuhr, von ihrem Sohn, der den Gast beim ersten gemeinsamen Abendessen im Ferienhaus bloßstellte: Reich geboren, er hier. Petrus riss den Mund auf, starrte wortlos auf sein Käsebrot, biss hinein und kaute gründlich. Alle sahen mich an. Ich sollte es bestätigen. Ich nahm einen Schluck von Elfis selbstgepresstem trübem Apfelsaft und tat, als verschlucke ich mich daran. Petrus hat mir nie angeboten, mir Geld für warme Kleidung oder Schuhe zu geben. Ich hätte es auch nie angenommen.
Komm endlich, rufen Petrus, Marc und seine Lisa ausgehbereit im Chor. Und Elfi drückt mir, nachdem sie ihr Rätselheft aufs Schaffell gelegt hat, ein Paar Seehundstiefel in die Hände und sagt: Hier, die sind mollig warm. Seehundstiefel! Wie sie unsere Mütter angeblich in den siebziger Jahren trugen. Silbern schimmernde, echte Seehundstiefel!
Zu klein, sage ich.
38, sagt Elfi.
Ich trage 39.
Elfi: Die fallen groß aus.
Alle schauen gespannt zu, wie ich meinen rechten Fuß in den Seehundstiefel stecke, und bevor ich noch den Reißverschluss hochgezogen habe, sagen sie: Geht doch. Siehst du. Wunderbar. Der drückt, sage ich, aber sie sind schon draußen, Petrus, Marc und Lisa; sie bewerfen sich mit Schnee, und Elfi sagt zum Abschied: Du brauchst auch gar keine so dicken Socken, die Stiefel sind warm genug. Sie schließt die Tür. Jetzt trifft mich ein Schneeziegel am linken Auge, ich sehe Blitze, ich höre es donnern, dann ruft Petrus: Tschuldigung! und schleudert den nächsten in meine Richtung. Hopp, hopp, Marc klatscht in die Hände, Bewegung, Bewegung! Petrus ist mit ein paar großen Schritten bei mir, packt mich und wirft mich über seine Schulter. Was hast du denn gegessen, ächzt er, du wiegst ja mindestens eine Tonne. Marc nimmt seine Lisa Huckepack und wiehert, dann galoppiert er mit ihr davon. Petrus eilt keuchend mit seiner Tonne hinterher, den kleinen Weg zur Dorfstraße hinunter, wirft den Kopf in den Nacken und bricht nach knapp 200 Metern noch vor der Kreuzung ausdrucksstark zusammen, lässt mich dabei rücklings fallen und landet schwer auf mir. Wir stöhnen beide. Wo ist denn diese Kirche, frage ich, und Petrus lacht. Marc, rufen wir gemeinsam, ist es noch weit?
Nein, nein, sagt Marc, und es lohne sich, die paar...




