Scott | Unwirkliche Bewohner | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Scott Unwirkliche Bewohner


1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-8031-4140-8
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-8031-4140-8
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Paulo Scott erzählt die Geschichte einer unmöglichen Liebe zwischen den Kulturen, die dennoch bleibende Spuren hinterlässt - und er beschwört das Erbe der indianischen Ahnen, der unwirklichen Bewohner Brasiliens:

Als der Jurastudent Paulo in seinem VW- Käfer die 14- jährige Autostopperin Maína mitnimmt, verändert sich das Leben der beiden. Das Mädchen aus dem Indianercamp an der Ausfallstraße von Porto Alegre und der politisch engagierte Sohn aus gutem Hause kommen sich schnell näher - und doch nie wirklich nahe; zu unterschiedlich sind die beiden Welten, die hier aufeinanderprallen.

Erst Donato, ihrem gemeinsamen Kind, gelingt es, das Unvereinbare zusammenzubringen. Alleingelassen von Vater und Mutter, wächst er zu einem jungen Mann heran, der unwissentlich in die Fußstapfen seiner Eltern tritt: Die Stimme seiner Mutter im Ohr - auf einer Tonbandkassette mit Guaraní-Legenden -, entlarvt Donato die Selbstzufriedenheit einer ganzen Gesellschaft.

Paulo Scotts Roman hat in Brasilien viel Aufmerksamkeit erhalten. Seine Figuren stehen sinnbildlich für die brasilianische Geschichte der vergangenen 25 Jahre, und gehen mit der portugiesisch-indianischen Begegnung von Paulo und Maína an die Ursprünge der brasilianischen Literatur zurück.

Ein beeindruckender, dichter Roman, der den Preis der Brasilianischen Nationalbibliothek für den besten Roman 2012 erhielt und hervorragend ins Deutsche übertragen wurde von der Saramago Übersetzerin Marianne Gareis.

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neunzehnhundertneunundachtzig*
* Müsste Paulo ein Resümee ziehen über seine Zeit als politischer Aktivist, würde er sagen, dass sie den Übergang von einer absoluten Idealisierung zu einem unvergleichlichen Zynismus darstellt und schließlich in den letzten Monaten zur Flucht in die Melancholie geführt hat. Eigentlich sollte es anders sein, schließlich hat die PT, die brasilianische Arbeiterpartei, gerade die Kommunalwahlen in Porto Alegre gewonnen, und er ist zu einer der wichtigsten Figuren der nationalen Studentenbewegung geworden, eine Position, die es ihm in drei Jahren ermöglichen wird, sich um einen Posten beim Stadtparlament zu bewerben, er, der gerade mal einundzwanzig ist, der Ende des Jahres seinen Abschluss in Rechtswissenschaften an der Bundesuniversität von Rio Grande do Sul machen wird und dem im Laufe des vergangenen Jahres eines klar geworden ist: Trotz seines ganzen Potentials wird er doch immer nur ein kleines Licht bleiben, ein Bauer unter den anderen Schachfiguren, ihm fehlt einfach der Ehrgeiz, sich auf Augenhöhe mit den fragwürdigen Vorgehensweisen der zweiten politischen Garde auseinanderzusetzen, dieser Bande von Halunken, die er bereits vor seinem Parteieintritt im Jahr neunzehnhundertvierundachtzig gehasst hat. Wenn er jetzt schon solche Schwierigkeiten hat, sich ganz und gar auf die Politik einzulassen, darin Karriere zu machen und für diese Karriere zu kämpfen, kann am Ende nur körperliche Abhängigkeit dabei herauskommen, ein Preis, der ihm jetzt schon zu hoch erscheint; und er weiß, wenn er sich nicht durchsetzt, sondern den schier unvermeidlichen Aufstieg der Partei einfach so mitmacht, besteht die Gefahr, dass er irgendwann beschämt einem dieser verhassten Halunken in den Arsch kriechen muss, um eine Stelle im Verwaltungsapparat zu ergattern und sein finanzielles Überleben zu sichern. Ähnlich wie diese Hunderte von Genossen, die sich gerade in den Kampf um die Posten gestürzt haben, die in Sekretariaten, im Büro des Bürgermeisters, des stellvertretenden Bürgermeisters, den Stiftungen, den staatlichen und halbstaatlichen Betrieben ausgeschrieben wurden; Leute, die sich vor Kurzem noch, und insbesondere nach ein paar Bierchen, auf die Brust geklopft und behauptet haben, sie würden einzig und allein deswegen mitmachen, um Brasilien vor der Ausbeutung durch das Kapital zu retten. In gewisser Weise kann er sie verstehen: Er selbst fordert sich zu viel ab und schafft es nicht, die sich nun endlich bietende Chance gelassen zu ergreifen, eine Chance, auf die er in den letzten vier Jahren all seine körperliche, geistige und emotionale Energie gerichtet hat. Doch wie dem auch sei, er hat sich von Anfang an, seit er neunzehnhundertdreiundachtzig an seiner ersten Parteiversammlung in Glória teilgenommen hat, geschworen, niemals zuzulassen, dass sein Mangel an theoretischem Wissen und seine komplette Naivität in Bezug auf Politik sich je in Mittelmäßigkeit verwandeln. Inzwischen betrachtet er die meisten der politischen Anführer nur noch als Verbündete einer machiavellistischen, ränkeschmiedenden Schmarotzer-Clique, deren einziger Plan darin besteht, an die Macht zu gelangen und schnellstmöglich zu Geld zu kommen. Er hat die Fähigkeit verloren, diese Widersprüche hinzunehmen. Sein Glaube ist weg. Deshalb kann er sich auch nicht mehr auf das konzentrieren, was getan werden muss, und hat die aus diesem Glauben resultierende Ruhe verloren. Geblieben ist ein Unbehagen. Vor knapp einem Monat hat Dr. Geraldo, Hausarzt seiner Familie seit drei Generationen, ihm bei einer Untersuchung gesagt: »Paulo, du lässt diese ganze Spannung zu sehr an dich ran, sie schlägt dir regelrecht auf den Magen. Es ist nicht normal, dass ein junger Kerl wie du eine chronische Gastritis in so fortgeschrittenem Stadium hat.« Der Arzt hat in seinem schleppenden südbrasilianischen Tonfall gesprochen und Paulo lange angeblickt, bis dieser sagte, Ich weiß, Herr Doktor, ich werde versuchen, besser auf mich aufzupassen. Er verließ die Praxis mit einem Rezept für einen noch stärkeren Säureblocker als das Cimetidin, das er bereits nahm, und dem absoluten, mindestens vierzehntägigen Verbot, Alkohol oder gewürzte Speisen zu sich zu nehmen. Paulo fühlt sich unwohl. Und obwohl er beschlossen hat, sich komplett aus der Partei zurückzuziehen, ist er immer noch Mitglied dieser trotzkistischen Gruppierung, in der er seit drei Jahren aktiv ist, und letzten Samstag ist er (auch wenn er am Freitag absichtlich getrödelt und den Bus um zweiundzwanzig Uhr dreißig verpasst hat, der mit fünfzehn weiteren Aktivisten an Bord von Porto Alegre nach Rio Grande do Sul zum ersten konspirativen Treffen seiner Organisation in diesem Jahr fuhr) vor sechs Uhr morgens aufgewacht, hat sich das Gesicht gewaschen, drei Garnituren Wechselklamotten in seinen Rucksack Marke Jurastudent gepackt und ist mit seinem stahlgrauen VW-Käfer Modell dreiundachtzig losgefahren, hat eine halbe Stunde später an der Tankstelle Nummer vier der Ipiranga-Kette an der Kreuzung Santo Antônio und Voluntários angehalten und den Tankwart gebeten, dreißig Liter Sprit einzufüllen, dessen Kosten er sich mit seinen beiden als Panzerknacker verkleideten Bekannten aus São Lourenço do Sul teilen wird, Eduardo Vanusa und Nico Schnauzbart, einer auf dem Beifahrersitz, der andere auf dem Rücksitz (beide noch betrunken von mehreren Runden Bier mit Steinhäger, die sie im Lola getrunken haben, während sie auf eine gewisse Neide aus dem Porto de Elis warteten, die im Kostüm des Dr. Frank Furter, des transsexuellen Vampirs aus der Rocky Horror Picture Show, erscheinen sollte, um sie in eine exklusive Kostümparty ins Ocidente einzuschleusen, am Ende jedoch gar nicht erschienen ist), hat dann, ohne sich um seine Mitfahrer zu kümmern, die bereits dem Schlaf hingegeben auf die Polster sabberten, um Viertel vor sieben die Hebebrücke über den Guaíba passiert und ist in den Süden des Bundesstaates zu seiner vielleicht letzten größeren Versammlung als Mitglied dieser Organisation gefahren, ohne dreihundert Kilometer lang seichte Gespräche über die Revolution aushalten zu müssen, über die sozialistische Internationale, über die Genossinnen, die man bereits flachgelegt hat und die, wenngleich anfangs störrisch, nach Einsatz bizarrster reichianischer Argumente lustvoll ihre Möse hinhielten. Der Samstag verlief schleppend, Paulo hatte Mühe, bei den Debatten nicht einzuschlafen, und ertrug es kaum noch, diesen Leuten ins Gesicht zu sehen. Deshalb schlich er sich am Abend, als die letzte Podiumsdiskussion beendet war, heimlich hinaus, schnappte sich das Auto und fuhr zum Cassino-Strand. Dort landete er auf einer Geburtstagsparty im Hotel Atlântico, wo er zufällig Manoela traf, eine Kulturmanagerin, zwei Jahre älter als er, in die er sich vor drei Jahren im Spätsommer auf der Ilha do Mel verliebt hatte. Sie war es, die ihn wiedererkannte, begeistert auf ihn zukam und ihm nach dem unvermeidlichen Wo hast du dich rumgetrieben, Was hast du gemacht, Wieso haben wir bloß die ganze Zeit nichts voneinander gehört, und nachdem er beiläufig erwähnt hatte, dass er mit dem Auto aus Porto Alegre gekommen sei, erzählte, sie arbeite als Theaterproduzentin und sei gerade mit einer Gruppe unterwegs, die am Sonntag in Pelotas auf der Bühne des Sete de Abril auftrete und jemand Vertrauenswürdiges suche, der die Garderobe des Theaterstücks nach Novo Hamburgo, wo die Gruppe beheimatet sei, zurückbringe, denn das Anfangsbudget habe leider nicht ausgereicht, und kein Transportunternehmen tätige eine solche Auslieferung in der erforderlichen Zeit, ohne einen komplett zu schröpfen, und dann sagte sie, ohne ihn zu Wort kommen zu lassen, dass sie ihm siebentausend Cruzados bezahlen werde, wenn er die Kostüme bei ihrer Assistentin vorbeibringe, damit sie gewaschen und rechtzeitig vor der Aufführung an der Universidade do Vale do Rio dos Sinos am Freitag ausgebessert würden, wobei sie noch hinzufügte, sie und die Schauspieler blieben bis Donnerstagabend in Pelotas, um ihren Verpflichtungen gegenüber der Stadtverwaltung nachzukommen; und als sie dann gleich darauf fragte, Das wirst du mir doch nicht abschlagen?, sagte er zu. Allerdings, fügte sie strategisch geschickt hinzu, gebe es da noch eine Kleinigkeit: Die Kostüme stünden erst am Dienstag zur Verfügung, Dienstag ganz früh, weil es ja noch einen Workshop gebe, und er wisse ja, wie das sei mit den didaktischen Anreizen, dem Lernen, der Phantasie der Schüler etc. Paulo fühlte sich angeschmiert, er musste am Montagnachmittag im Rechtsanwaltsbüro sein, wo er gerade ein Praktikum absolvierte. Er dachte einen Augenblick nach, es gab keine Aufgaben, die nicht auch bis Mittwoch warten konnten (er würde anrufen und sagen, er könne erst am Mittwoch zur Arbeit kommen). Dann ließ er Manoela noch eine Weile reden und unterbrach sie schließlich mit den Worten: »Ich habe von Sonntag auf Montag und von Montag auf Dienstag keine Unterkunft.« Sie lächelte (Lächeln ist sozusagen die Verkörperung ihres Sinns für das spontane Ergreifen von Gelegenheiten). »Wir sind im besten Hotel von Pelotas untergebracht«, sagte sie überheblich, »an Platz mangelt es uns nicht. Das Zimmer des Beleuchters ist gestern frei geworden, die Tagessätze sind schon bezahlt, es passt also alles. Mach dir darüber keine...


Paulo Scott, geboren 1966 in Porto Alegre, hat vor "Unwirkliche Bewohner" bereits einen Roman, zwei Erzählsammlungen und einen Gedichtband veröffentlicht. Er lebt und arbeitet in Rio de Janeiro.



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