E-Book, Deutsch, Band 1, 490 Seiten
Reihe: Die Frauen von Shanghai
See Töchter aus Shanghai
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-98690-085-4
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman | Die Frauen von Shanghai 1 - Eine Familiensaga über zwei Schwestern
E-Book, Deutsch, Band 1, 490 Seiten
Reihe: Die Frauen von Shanghai
ISBN: 978-3-98690-085-4
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Lisa See entstammt einer chinesisch-amerikanischen Familie. Sie wurde in Paris geboren und wuchs in Los Angeles in Chinatown auf. Dreizehn Jahre lang arbeitete sie als Journalistin für Publishers Weekly. Später betreute sie als Kuratorin mehrere große Ausstellungen, die sich mit interkulturellen Beziehungen zwischen Amerika und China beschäftigen. Bereits ihr erstes Buch, eine Biographie ihrer Familie, war ein internationaler Bestseller und erhielt die »Notable Book«-Auszeichnung der New York Times. Dieselbe Auszeichnung bekam sie auch für ihren bald darauf folgenden ersten Thriller »Die rote Klinge«. Sie wurde als »National Woman of the Year« ausgezeichnet, erhielt den »Chinese American Museum's History Makers Award« und den »Golden Spike Award« in Kalifornien. Mit ihrem Roman »Der Seidenfächer« gelang ihr ein Weltbestseller, der auch verfilmt wurde. Heute lebt sie in Los Angeles. Die Website der Autorin: https://www.lisasee.com/ Bei dotbooks veröffentlicht Lisa See die historischen Romane »Der Seidenfächer« und »Eine himmlische Liebe«, außerdem »Töchter aus Shanghai« und »Tochter des Glücks« aus ihrer Reihe um »Die Frauen von Shanghai«. Zudem erscheint bei dotbooks auch ihre Thrillerreihe um die Polizistin Liu Hulan und den Staatsanwalt David Stark mit den Bänden »Die rote Klinge«, »Der Feuerdrache« und »Tod am Jangtse«.
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Kapitel 1
Kalendermädchen
»Mit ihren roten Bäckchen sieht unsere Tochter aus wie eine südchinesische Bäuerin«, mäkelt mein Vater und ignoriert demonstrativ die Suppe, die vor ihm steht. »Kannst du nichts dagegen tun?«
Mama schaut Baba an, aber was soll sie schon sagen? Ich habe ein recht hübsches Gesicht – manche finden es sogar reizend –, doch es schimmert nicht wie die Perle, nach der ich benannt bin. Ich erröte leicht. Außerdem bin ich sehr sonnenempfindlich. Seit ich fünf bin, reibt mir meine Mutter Gesicht und Arme mit Perlencreme ein und mischt mir morgens zermahlene Perlen in den jook – den Reisbrei –, in der Hoffnung, das Weiß würde mir in die Haut eindringen. Alles vergebens. Jetzt glühen meine Wangen rot – genau das, was mein Vater nicht leiden kann. Ich sacke auf meinem Stuhl zusammen. In Babas Nähe werde ich immer klein, aber es wird noch schlimmer, wenn er den Blick von meiner Schwester abwendet und mich anschaut. Ich bin größer als mein Vater, das stört ihn sehr. Wir leben in Shanghai, wo das größte Auto, die größte Mauer oder das größte Gebäude eindeutig und unumstößlich verkündet, dass der Besitzer ein sehr bedeutender Mensch ist. Ich bin kein bedeutender Mensch.
»Sie hält sich für besonders schlau«, fährt Baba fort. Er trägt einen gut geschnittenen Anzug im westlichen Stil. Seine Haare haben nur wenige graue Strähnen. In letzter Zeit wirkte er häufig nervös. Aber heute Abend ist seine Stimmung noch düsterer als sonst. Vielleicht hat sein Lieblingspferd nicht gewonnen, oder die Würfel wollten nicht zu seinen Gunsten fallen. »Dabei ist sie alles, nur nicht klug.«
Das ist ein weiterer Kritikpunkt, den mein Vater gerne äußert. Er bezieht sich auf Konfuzius, bei dem es heißt: »Eine gebildete Frau ist eine wertlose Frau.« Man bezeichnet mich als Bücherwurm, was sogar im Jahr 1937 nicht als Kompliment gilt. Doch so schlau ich auch sein mag, ich weiß nicht, wie ich mich vor den Worten meines Vaters schützen soll.
Die meisten Familien essen an einem runden Tisch. So bilden sie einen Kreis, ein harmonisches Ganzes, ohne harte Kanten. Wir hingegen essen an einem eckigen Tisch aus Teakholz. Jeder von uns hat seinen festen Platz: neben May auf der einen Seite des Tisches mein Vater, gegenüber von ihr meine Mutter, damit Mays Anblick meine Eltern gleichermaßen erfreut. Tag um Tag, Jahr um Jahr ist jede Mahlzeit eine Erinnerung daran, dass ich nicht ihr Liebling bin und es auch nie sein werde.
Während mein Vater weiter an mir herummäkelt, schalte ich ab und tue so, als interessierte ich mich für unser Esszimmer. An der Wand zur Küche hängen normalerweise vier Bildrollen mit den vier Jahreszeiten. Heute wurden sie abgenommen, sodass nur noch dunkle Umrisse zu sehen sind. Das ist nicht das Einzige, was fehlt. Früher hatten wir einen Deckenventilator, aber letztes Jahr kam Baba auf die Idee, es wäre angenehmer, wenn wir uns beim Essen von den Dienern Luft zufächeln ließen. Sie sind heute Abend nicht da, und wir vergehen vor Hitze. Sonst wird der Raum von einem Art-Déco-Lüster und passenden Wandlampen aus gelbem und rosafarbenem Ätzglas erhellt. Auch die sind weg. Doch ich zerbreche mir nicht den Kopf darüber und gehe davon aus, dass die Bildrollen abgenommen wurden, damit sich die seidenen Ränder in dieser Feuchtigkeit nicht aufrollen, dass Baba den Dienern freigegeben hat, damit sie mit ihren Familien zu einer Hochzeit oder einer Geburtstagsfeier gehen können, und dass die Lampen vorübergehend entfernt wurden, weil sie geputzt werden müssen.
Koch – der weder Frau noch Kinder hat – trägt unsere Suppenschalen ab und serviert nun Garnelen mit Wasserkastanien, in Sojasauce geschmortes Schweinefleisch mit getrocknetem Gemüse und Bambussprossen, gedämpften Aal, ein Acht-Kostbarkeiten-Gemüsegericht sowie Reis, aber die Hitze dämpft meinen Hunger. Lieber wären mir ein gekühlter Ume-Pflaumensaft, kalte, süße Mungobohnensuppe mit Minze oder eine süße Mandelbrühe.
Als Mama sagt: »Der Korbmacher hat heute zu viel Geld verlangt«, entspanne ich mich. Ebenso absehbar wie die Kritik meines Vaters an mir ist die Tatsache, dass meine Mutter von ihren alltäglichen Problemchen berichtet. Sie sieht elegant aus, wie immer. Spangen aus Bernstein halten ihren Haarknoten im Nacken genau an der richtigen Stelle. Ihr Kleid, ein cheongsam aus mitternachtsblauer Seide mit halblangen Ärmeln, ist perfekt auf ihr Alter und ihren Stand zugeschnitten. Am Handgelenk trägt sie einen Armreif aus einem einzigen Stück hochwertiger Jade. Wenn er auf die Tischkante trifft, macht es ein beruhigendes, vertrautes Klack. Sie hat gebundene Füße und verhält sich in manchen Dingen ebenso altmodisch. Sie deutet unsere Träume, überlegt, ob es wohl ein gutes oder schlechtes Omen ist, wenn darin Wasser, Schuhe oder Zähne vorkommen. Sie glaubt an Astrologie. Sie rügt oder lobt May und mich für alle möglichen Dinge, nur weil wir im Jahr des Schafs beziehungsweise im Jahr des Drachen geboren wurden.
Mama führt ein glückliches Leben. Die arrangierte Ehe mit meinem Vater verläuft einigermaßen friedlich. Morgens liest sie buddhistische Sutras, lässt sich mit einer Rikscha zum Mittagessen bei Freundinnen fahren, spielt bis in den späten Nachmittag hinein Mah-Jongg und klagt mit Ehefrauen ähnlicher Stellung über das Wetter, phlegmatische Dienstboten oder über die Wirkungslosigkeit der neuesten Mittelchen gegen Schluckauf, Gicht oder Hämorrhoiden. Sie hätte eigentlich keinen Grund, missmutig zu sein, und doch sind all ihre Geschichten von leiser Verbitterung und ständiger Sorge durchtränkt. »Es gibt kein glückliches Ende«, sagt sie oft. Trotzdem ist sie eine schöne Frau, und ihr Liliengang ist so anmutig wie das Schwanken von jungem Bambus im Frühlingswind.
»Der faule Diener von nebenan hat den Nachttopf der Familie Tso überschwappen lassen, und jetzt stinkt es in der ganzen Straße nach Jauche«, sagt Mama. »Und dann Koch!« Sie gestattet sich ein missbilligendes Zischeln. »Die Garnelen, die uns Koch vorgesetzt hat, waren alt, und der Geruch hat mir völlig den Appetit verdorben.«
Wir widersprechen ihr nicht, aber dieser erstickende Gestank stammt nicht von einem umgekippten Nachttopf oder alten Garnelen, sondern von ihr. Da unsere Diener nicht da sind, um die Luft im Raum zu bewegen, steigt mir der Geruch der mit Blut und Eiter vollgesogenen Bandagen um Mamas gebundene Füße so in die Nase, dass ich würgen muss.
Mama klagt unablässig weiter, bis Baba sie unterbricht. »Ihr Mädchen könnt heute Abend nicht ausgehen. Ich muss mit euch reden.«
Dabei schaut er May an, die ihm ihr strahlendstes Lächeln schenkt. Wir sind keine schlechten Mädchen, aber wir haben Pläne für den Abend. Und dazu gehört bestimmt kein Vortrag von Baba, wie viel Wasser wir im Bad verschwenden oder dass wir nicht jedes Reiskörnchen in unseren Schalen aufessen. Normalerweise reagiert Baba auf Mays Charme, erwidert ihr Lächeln und vergisst, was er sagen wollte, doch diesmal blinzelt er nur ein paarmal und richtet seine schwarzen Augen auf mich. Wieder sacke ich auf meinem Stuhl zusammen. Manchmal glaube ich, dass ich meinen Eltern nur dann wahren kindlichen Respekt entgegenbringe, wenn ich mich vor meinem Vater klein mache. Ich betrachte mich als modernes Shanghaier Mädchen und mag nicht an diesen ganzen Unsinn vom bedingungslosen Gehorsam glauben, den man den Mädchen in der Vergangenheit eingebläut hat. Aber es ist nun einmal so: May – sosehr unsere Eltern sie auch anhimmeln – und ich sind nur Mädchen. Keine von uns wird den Familiennamen weitergeben, und keine von uns wird unsere Eltern später einmal als Ahnen verehren. Mit meiner Schwester und mir endet die Linie Chin. Als wir noch klein waren, hatten unsere Eltern wegen unseres geringen Werts kein Interesse daran, uns zu erziehen. Wir waren der Mühe und Anstrengung nicht wert. Später passierte dann etwas Merkwürdiges: Meine Eltern fanden plötzlich Gefallen an ihrer jüngeren Tochter – sie waren völlig vernarrt in sie. Dadurch konnten wir uns ein gewisses Maß an Freiheit bewahren, und es fiel meistens gar nicht auf, dass meine Schwester verwöhnt war oder wir manchmal jeglichen Respekt und unsere Pflicht vergaßen. Was andere vielleicht als respektlos und ungezogen betrachten würden, bezeichnen wir als modern und unabhängig.
»Nicht eine Kupfermünze bist du wert«, sagt Baba mit schneidender Stimme zu mir. »Ich weiß nicht, wie ich dir jemals ...«
»Ach, Ba, jetzt hör doch auf, an Pearl herumzunörgeln. Du kannst dich glücklich schätzen, so eine Tochter zu haben. Und ich noch viel mehr, weil sie meine Schwester ist.«
Alle Blicke richten sich auf May. So ist das mit ihr. Wenn sie spricht, muss man ihr einfach zuhören. Wenn sie im Raum ist, muss man sie einfach ansehen. Alle lieben sie – unsere Eltern, die Rikschajungen, die für meinen Vater arbeiten, die Missionare, die uns in der Schule unterrichtet haben, die Künstler, Revolutionäre und die Ausländer, die wir in den letzten Jahren kennengelernt haben.
»Wollt ihr gar nicht wissen, was ich heute gemacht habe?«, fragt May. Ihre Stimme klingt so leicht und luftig wie Vogelschwingen im Flug.
Damit verschwinde ich aus dem Gesichtskreis meiner Eltern. Ich bin zwar die ältere Schwester, aber in vielerlei Hinsicht kümmert sich May um mich.
»Erst hab ich mir im Metropol einen Film angeschaut, dann bin ich in die Avenue Joffre gegangen, um Schuhe zu kaufen«, fährt sie fort. »Von dort war es nicht weit zu Madame Garnets Laden im Cathay Hotel, wo ich mein neues Kleid abholen wollte.« May hört sich jetzt ein bisschen vorwurfsvoll an. »Sie hat gesagt, sie gibt es mir erst, wenn du vorbeikommst.«
»Kein...




