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E-Book, Deutsch, 432 Seiten
Seiffge-Krenke Die Psychoanalyse des Mädchens
4., überarbeitete und erweiterte Neuauflage, 2025
ISBN: 978-3-608-12506-1
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-608-12506-1
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Inge Seiffge-Krenke, Dr. phil., war Professorin für Entwicklungspsychologie und Gesundheitspsychologie an der Universität Mainz mit Schwerpunkt Jugendforschung. Sie ist Psychoanalytikerin und in der Lehre und Supervision von Ausbildungskandidaten für Kinder- und Jugendlichentherapeuten tätig.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Differentielle Psychologie, Persönlichkeitspsychologie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologie / Allgemeines & Theorie Psychologische Theorie, Psychoanalyse
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie Psychodynamische Psychotherapie
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Entwicklungspsychologie
Weitere Infos & Material
Kapitel 1
Hurra – ein Mädchen?! Der Wunsch nach einem Mädchen und das Verhalten von Eltern gegenüber Töchtern
Heutzutage scheint zumindest in der westlichen Welt der Geschlechtswunsch relativ gleichmäßig auf Jungen und Mädchen verteilt, und in Deutschland werden auch (fast) gleich viele Töchter wie Söhne geboren. Welches Geschlecht das Baby hat, ist für die Eltern eine spannende Frage – bevor Ultraschall oder sogar erst die Geburt endlich Gewissheit verschaffen.
Wie man das Geschlecht beeinflusst, darüber gibt es schon seit vielen Jahrhunderten die verrücktesten Strategien und Ammenmärchen. Sie zeigen insgesamt eine erschreckend negative Haltung gegenüber der Geburt von Töchtern, aber auch oftmals eine sehr vernachlässigendes Verhalten gegenüber der Erziehung dieser Töchter, von dem wir gegenwärtig durchaus noch Spuren finden können. In Kapitel 14 werde ich dann auf die gesundheitlichen Gefährdungen dieser unerwünschten Mädchen eingehen.
Im therapeutischen Raum stößt man allerdings auch heute noch bisweilen auf eher unbewusste Wünsche und Tendenzen, die das Geschlecht des Kindes betreffen. Auch bei einer geschlechtsneutralen Erziehung, wie wir sie heute in vielen westlichen Industrieländern haben, gibt es manchmal ein Betrauern, dass es doch kein Sohn geworden ist, und das reale und das imaginäre Baby müssen zusammengebracht werden, was für manche Eltern ein schmerzlicher Lernprozess ist; denn der Wunsch nach einem bestimmten Geschlecht hängt auch mit der Biographie der Eltern zusammen.
1.1
Schockierende Dokumentationen wie die von Phoenix am 1. 5. 2016 über Kinder, die tot auf Müllplätzen in Karatschi gefunden werden (Die Kinder von Karachi. Film von Gábor Halász), verdeutlichen, dass es nicht in allen Kulturen Lebensbedingungen und Einstellungen gibt, die Kindern ein Überleben ermöglichen. Zweimal in der Woche fahren Helfer auf die Müllkippe und suchen nach toten oder noch lebenden Babys – die meisten davon sind Mädchen. Ein freiwilliges Helferteam geht durch die Straßen, um die Polioimpfung kleiner Kinder zu ermöglichen – oft unter Lebensgefahr, denn die Polioimpfung ist durch die Taliban verboten und es vergeht kaum ein Tag, an dem keine Bombe explodiert. Wiederum sind Mädchen in der schlechteren Position – es werden vor allem Jungen gebracht und geimpft.
In manchen Kulturen galt und gilt es als ein Makel, wenn ein Mädchen geboren wurde. Die Frau gilt als Versagerin, wenn sie ihrem Mann keinen Sohn geboren hat. Zwei Beispiele mögen das illustrieren:
Sohnpräferenz in Indien und China
Wir wissen inzwischen, dass chinesische Kinder wieder Geschwister haben können. China hat die seit 1979 bestehende Ein-Kind-Politik für beendet erklärt. Die Nebenwirkungen des Gesellschaftsversuchs waren am Ende zu groß. Weil sich die meisten Paare einen Jungen wünschten, wurden weibliche Föten abgetrieben. Nun fehlen die Frauen im Land, die Zahl der frustrierten Single-Männer ist hoch, die Gesellschaft droht zu vergreisen. Die Idee, dass der Staat als oberster Geburtenplaner auftritt, hat ziemliche Kratzer bekommen (Süddeutsche Zeitung, 31. 10. 2015, S. 23).
Vor einer ähnlichen Situation steht Indien: Die indische Geburtenkontroll-Politik mit Sterilisations- und Verhütungsprogrammen hat wie in China vor allem den Effekt, dass sehr viel weniger Mädchen geboren werden, so dass indische Männer inzwischen, ähnlich wie die chinesischen Männer, im Ausland auf Brautschau bzw. Brautkauf gehen müssen. Wie ich in Kapitel 14 zeige, hat die starke Sohnorientierung dramatische Auswirkungen auf die Lebenssituation, die Gesundheit und die Bildung der Mädchen in Indien.
Über viele Jahrhunderte war Bevölkerungspolitik vor allem Wachstumspolitik. Menschen waren knapp, nach Kriegen, Hungersnöten und Seuchen war es wichtig, das viele Babys geboren wurden, und angesichts der mangelnden Geburtenkontrolle und kirchlicher Interventionen (»Seid fruchtbar und mehret Euch«) war dies auch erwünscht bzw. nicht zu verhindern. Dabei hatten Mädchen und Frauen genauso ihren Platz und ihre Aufgabe in der Familie und Gesellschaft wie Jungen und Männer. Zwar wurden Söhne traditionell bevorzugt, solange das Erbrecht am erstgeborenen Sohn festgemacht wurde, aber Töchter waren auch willkommen, sicherten sie doch Pflege und Unterstützung für die alten Eltern.
Auch Töchter sind »nützlich«
Die gelungene Heiratspolitik der Habsburger, allen voran Maria Theresia (1717–1780) mit ihren vielen Töchtern, die sie mit anderen Herrscherhäusern verheiratete (»Kriege führen mögen andere, du, glückliches Österreich, heirate«) illustriert, dass Töchter sehr nützlich sein konnten. Maria Theresia war nicht nur eine große Kriegerin, sondern auch eine weitblickende Reformerin (Hamann, 2011). Die Erbfolge war, falls kein männlicher Erbe da war, auf eine Tochter möglich, und die von ihr 1774 erlassene Schulordnung legte eine sechsjährige Schulpflicht für Jungen und Mädchen fest. Ihre Töchter verheiratete sie geschickt, nur einer der Töchter wurde eine Liebesheirat zugestanden. Berühmtestes Beispiel für den »Nutzen« von Töchtern ist Maria Antonia, die als Marie Antoinette Königin von Frankreich wurde (und auf dem Schafott endete).
Wie die Ausstellung Frauensache: Die Frauen der Hohenzollern in Berlin 2015 zeigte, war die Heiratspolitik der Hohenzollern ähnlich erfolgreich: Ehen verankerten die Hohenzollern in ganz Europa. Von Italien bis Dänemark, von England bis nach Russland reichte das von den Frauen geknüpfte Netzwerk. Sie wurden nicht nach Zuneigung, sondern nach politischen Überlegungen verheiratet, legten aber eine bemerkenswerte Kompetenz und Expertise an den Tag, was das Networking angeht. Heute werden zwar weniger Schüsse abgefeuert, wenn ein Mädchen (im Vergleich zu einem Sohn) in den royalen Häusern geboren wird, so dass das »Hurra, ein Mädchen!« etwas weniger laut ausfällt, doch die Tatsache, dass in allen europäischen Herrscherhäusern kurzerhand die Gesetzgebung geändert und eine Thronfolge der Töchter möglich ist, verdeutlicht, dass Gleichberechtigung angestrebt und realisiert wird.
Mädchenopfer zu Ehren einer Kriegerin
Es gibt einige Kulturen, in denen Mädchen, vor allem Häuptlingstöchtern, eine herausragende Position zukam. In der Nähe einer Pyramide, der Huaca Cao Viejo im Norden Perus, entdeckten Forscher 2006 die Mumie eines jungen Mädchens – bestattet in einem prunkvollen Grab, eingewickelt in Hunderte Meter Baumwollstoff; das Mädchen war offenbar geopfert worden. Das Seil, mit dem es erwürgt wurde, hing noch um seinen Hals. Eine Datierung mit dem Radiokarbon-Verfahren ergab, dass das Seil aus der Zeit um das Jahr 450 stammt. Noch erstaunlicher als der Schmuck, die Halbedelsteine, waren die Tätowierungen auf dem Körper der Bestatteten, die Bären und mythische Wesen zeigen. Außerdem fanden Archäologen als Beigabe zahlreiche Waffen. Zwei zeremonielle Keulen und 28 sogenannte Speerschleudern – Stöcke, welche die Reichweite und Durchschlagskraft eines Speers enorm erhöhen – befanden sich in dem Grab. Man vermutet, dass es sich bei dem Mädchen um eine junge Kriegerin handelt. Mädchenopfer sind aus anderen Funden in Peru bekannt, und sie waren für die Betroffenen eine Ehre. Heute erscheint es als erstaunlich, wie die auserwählten Mädchen, häufig Häuptlingstöchter, den beschwerlichen Aufstieg in große Höhen (4000 m) ohne Essen, nur mit ihren Waffen und vermutlich Kokablättern, geschafft haben.
»Töchter der Erde«: Mädchen in matrilinearen Kulturen
Ein hoher Status von Mädchen wird auch in Bezug auf matrilineare Kulturen berichtet, bei denen die individuellen Rechte und Pflichten, insbesondere die Erbansprüche, nach der Deszendenz aus der mütterlichen Linie abgeleitet wurden (Bronowski, 1979). Entscheidend ist dabei die weibliche Abstammung der Vorfahren (uterine Deszendenz: »Nachkommen aus der Gebärmutter«), die Linie läuft über die Mutter, deren Mutter (Großmutter), wiederum deren Mutter (Urgroßmutter) und so weiter zurück bis zu einer Stammmutter. Solche einlinigen Abstammungsregeln – nur über die mütterliche oder nur über die Linie der Väter – finden sich in ethnischen Gruppen, in denen es wichtige Güter wie Land und Vieh aufzuteilen und zu vererben galt. Allerdings wurden auch in solchen Gesellschaften politische und repräsentative Aufgaben in der Regel von Männern wahrgenommen. Im Jahre 1998 verzeichnete der Ethnographic Atlas 160 rein matrilineare Ethnien, das sind rund 13 % der weltweit erfassten 1267 Ethnien.
Ein Beispiel für solche Familien und Erbschaftsverhältnisse, die mit einer besonderen Wertschätzung von Töchtern einhergehen, sind die Tuareg in Nordafrika und viele Indianerstämme, wie die Navajo und Zuñi in New Mexiko sowie die Hopi in Arizona, USA. In ihrem Buch Töchter der Erde beschreibt Carolyn Niethammer (1977; dt. 1985 unter diesem Titel) das Leben der Navajo-Mädchen. Nach der Verheiratung zog die junge Frau nahe zu ihrer Mutter, ihre Geschwister halfen ihr bei der Aufzucht ihrer Kinder. Es gab bei der Geburt keine Geschlechterpräferenz, das Wichtigste war, dass das Baby »strong« war, also stark und gesund. Die Mädchenerziehung umschloss das Herstellen der Lebensmittel (»grinding corn«), Pflanzungen, aber auch Beteiligung an der Jagd, so dass jedes Mädchen früh schwimmen, reiten sowie den Umgang mit Werkzeug und...




