Seiler | Ben Wheatley | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 69, 116 Seiten

Reihe: Film-Konzepte

Seiler Ben Wheatley


1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-96707-821-3
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, Band 69, 116 Seiten

Reihe: Film-Konzepte

ISBN: 978-3-96707-821-3
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ben Wheatley gehört zu den wandelbarsten und eigenwilligsten Regisseuren des britischen Gegenwartskinos.

In den letzten 15 Jahren hat Ben Wheatley – oft in enger Zusammenarbeit mit seiner Partnerin Amy Jump – neun nicht selten verstörende, aber gleichsam faszinierende Spielfilme gedreht. Einem größeren Publikum mag er mit seinem Remake des Hitchcock-Klassikers "Rebecca" (2020) für Netflix bekannt geworden sein, doch seine bedeutendsten Werke lassen sich dem gegenwärtig breit diskutierten Genre des Folk Horror zuordnen. Doch auch in diesen Filmen – unter anderem dem Genre-Klassiker "Kill List" (2011) sowie seinem jüngsten Werk "In the Earth" (2021) – unterwandert Wheatley die Genre-Konventionen, indem er Elemente des Hard-Boiled-Thrillers, der Komödie, des Historienfilms sowie der Öko-Dystopie konsequent miteinander verbindet und dem Publikum in der Folge ein oftmals surreal anmutendes, schwer zu entschlüsselndes Filmerlebnis präsentiert. Die zahlreichen stilistischen Brüche in seinen Werken sind für Wheatley ebenso zum Markenzeichen geworden wie seine Unberechenbarkeit. Der vorliegende Band beschäftigt sich eingehend mit Wheatleys Filmen, die stets als Teil eines im Entstehen begriffenen, ineinandergreifenden Gesamtwerks angesehen werden.

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Weitere Infos & Material


Lioba Schlösser Der filmische Blick als moralische Absolution
Zur Konnotation und Wirkung des Tourist Gaze in SIGHTSEERS
Einleitung: Mord aus der Perspektive von Reisenden
In seinem dritten Langfilm SIGHTSEERS (2012) inszeniert Ben Wheatley die Campingreise eines frisch verliebten Paares durch Großbritannien. Beide entdecken dabei nicht nur die Landschaft und die Sehenswürdigkeiten des Landes, sondern auch ihren ganz eigenen Umgang mit sozialen Konflikten. Sie ermorden Menschen, die zufällig ihren Weg kreuzen, von ihnen für eigene Probleme verantwortlich gemacht werden und für diese zugeschriebene Verantwortung mit ihrem Leben bezahlen. Wheatley inszeniert den makabren Plot mit einer ordentlichen Portion schwarzen, britischen Humors und Ironie, und zeigt damit nicht nur eine überspitzt-satirische Sichtweise auf die Alltagsprobleme eines britischen Durchschnittspaares im Urlaub, sondern gibt auch dem touristischen Blick der beiden, durch den das Publikum den Plot wahrnimmt, einen faden Beigeschmack. Als touristischer Blick lässt sich hier nicht nur das Betrachten der Umgebung und der Sehenswürdigkeiten bezeichnen, er wird sogar auf die Wahrnehmung der Morde und des absurden Verhaltens gegenüber Mitmenschen und in sozialen Situationen übertragen, was diese jeder moralischen Wertung entzieht. So bleiben die Morde des Paares bis zum Ende ohne tatsächliche Konsequenzen, sie werden sogar romantisiert und verklärt. Die Dynamik, die der gesamte Film dadurch entwickelt, scheint somit destruktiv, was Zuschauende durchaus ratlos zurücklassen kann. Diese spezielle Inszenierung mithilfe des touristischen Blicks steht im Mittelpunkt der folgenden Betrachtung. Welche Rolle kommt dem Tourist Gaze innerhalb der filmischen Inszenierung zu und inwieweit beeinflusst er die Konnotation und Lesart der Filmhandlungen – insbesondere der Morde? Um Fragen wie diese soll es hier gehen. I. Durchschnittsmenschen als Protagonist*innen im satirischen Roadmovie
SIGHTSEERS ist ein Roadmovie, dessen Plot sich größtenteils auf den Straßen Großbritanniens abspielt. Das äußerst durchschnittlich erscheinende Paar Chris und Tina1 fährt mit einem Abbey Oxford Caravan eine Route, die sich von Süden nach Norden erstreckt und von Heanor nach Castlerigg führt. Dabei arbeitet die Route einige tatsächlich bekannte Sightseeing-Stationen ab. So wird das National Tramway Museum in Crich Tramway Village der erste Stopp des Paares, gleich nach dem ersten Mord an einem Fußgänger. Dieser wirft achtlos seinen Müll auf die Straße, zieht damit den Zorn von Chris auf sich und wird kurzerhand von diesem überfahren.2 Nach einem kurzen Besuch bei der örtlichen Polizei, um den Unfall zu melden, machen sich die beiden auf zum »Straßenbahnmuseum«, wie Chris es nennt. Dieses ist tatsächlich für Besuchende geöffnet und stellt bis heute die größte Sammlung elektronischer Oldtimer-Straßenbahnen in Großbritannien aus. Auf einem Campingplatz in Richtung Norden begeht Chris seinen zweiten Mord, diesmal an einem Schriftsteller. Er ist eifersüchtig auf dessen vermeintlichen Erfolg, da er mit seinem eigenen Buch nicht vorankommt, und erschlägt ihn mit einem Stein.3 Tina nimmt daraufhin dessen Hund Banjo mit. Der nächste Stopp ist der Castlerigg Stone Circle, der vom National Trust betreut wird. Der dritte Mord findet an einem Touristen statt, der Tina dazu auffordert, den von Banjo hinterlassenen Hundekot aufzusammeln.4 Abends essen die beiden in einem Restaurant, wo ein Junggesellinnenabschied in vollem Gange ist. Als die Braut sich an Chris heranmacht und auf dessen Schoß landet, gehen Tina die Nerven durch und sie stößt die Frau eine Böschung hinunter.5 Der nächste Stopp ist die Blue John Cavern, eine von vier Kalksteinhöhlen in Castleton. Es folgt das Cumberland Pencil Museum in Keswick, Cumbria, das Tina alleine besucht, da sie sich mit Chris wegen seines neuen Freundes Martin gestritten hat.6 Chris scheint das veränderte Verhalten seiner Freundin derart zu schockieren, dass die beiden immer mehr in Streit geraten und sich die Stimmung zwischen ihnen abkühlt. Auf dem Weg zum Honister Pass überfährt sie schließlich einen Fahrradfahrer, nur um Chris weiter aufzuregen.7 Am Honister Pass in Cumbria angekommen, nimmt der Streit des Paares einige seltsame Wendungen und endet mit Tinas Mord an Martin: Sie wirft ihn in seinem Fahrradanhänger von einer Klippe.8 Chris und Tina versöhnen sich und verbrennen vor der eindrucksvollen Naturkulisse des Passes ihren Wohnwagen. Zum Filmende wird dann auch das Ribblehead-Viadukt in Szene gesetzt, eine einspurig befahrbare Eisenbahnbrücke, erbaut in den 1870er Jahren. Das Paar hat beschlossen, sich von der Brücke zu stürzen, um seine Liebe zu zelebrieren, und der Film scheint zunächst mit diesem Liebestod zu enden. Tatsächlich springt Chris jedoch als einziger, während Tina seine Hand loslässt und stehenbleibt, als er in den Tod stürzt.9 SIGHTSEERS: Das Ribblehead-Viadukt ist ein Wahrzeichen der Grafschaft North Yorkshire und der Ort, an dem Chris Selbstmord begeht Diese Handlungsorte sind nicht nur zentral für den Plot, sondern auch wichtige Sehenswürdigkeiten auf touristischen Campingreisen durch Großbritannien. Sie verorten den Plot in der tatsächlichen Realität und lassen Chris und Tina damit grundsätzlich als glaubhaftes Durchschnittspaar durchgehen. Der Film wird zu einer Mischung aus realistischem Roadmovie und satirischer Komödie. Schwarze britische Komödien zeichnen sich oft durch die Inszenierung durchschnittlicher Menschen aus. Sie thematisieren deren Leben, Alltag und die kleinen, besonderen Momente darin, wie Urlaub, Familienfeste oder andere persönliche Events. Dabei definieren sie sich meist über die Persönlichkeit der Charaktere und deren Entwicklung.10 Roadmovies hingegen thematisieren das Ausbrechen aus diesem Kontext, Selbstfindung und persönliche Weiterentwicklung. Sie definieren sich neben den Protagonist*innen vor allem über den Ort oder das Land, auf dessen Straßen sie spielen.11 SIGHTSEERS impliziert beides und definiert seine Qualität sowohl über seine Hauptfiguren und deren Entwicklung zu Mörder*innen, als auch über die Sehenswürdigkeiten Großbritanniens. Jedoch passiert dies derart überspitzt, dass der gesamte Film absurd und teilweise sogar grotesk wirkt, und dabei den bekannten schwarzen Humor in den Mittelpunkt stellt, für den britische Komödien bekannt sind. Er bringt damit das Publikum eben mit jener übertriebenen Durchschnittlichkeit zum Lachen, die so absurd erscheint, dass sie sich von der eigenen Durchschnittlichkeit des Publikums abhebt. II. Der Tourist Gaze als Konnotationsgeber
Der Tourist Gaze, also der Blick auf die Welt aus einer touristischen Perspektive, wurde maßgeblich durch den Kulturgeografen John Urry geprägt, der den Diskurs der Tourismusforschung um den Tourist Gaze als Betrachtungskategorie erweiterte. Er begann in den 2000er Jahren, zunächst aus soziologischer Perspektive auf Tourismus als Massenphänomen zu blicken, und evaluierte nicht allein Voraussetzungen und Eigenschaften touristischer Reisen, sondern auch spezifische Rezeptions- und Wahrnehmungsmuster, die während des Reisens zum Tragen kommen und seiner Meinung nach als abwandelbares Universalphänomen existieren. Tourismus definiert er als Freizeitgestaltung, in der betreffende Personen ihren eigentlichen Wohn- oder Arbeitsort verlassen und eine begrenzte Zeit an einem anderen Ort verbringen. Dieses Leben findet jedoch unter vollkommen anderen Voraussetzungen statt, als das Leben in der Heimat, so Urry.12 Meist wird während des Urlaubs nicht gearbeitet, es werden kaum persönliche, soziale Beziehungen zu Familie oder Freunden aufrechterhalten und nicht selten – bis auf eine obligatorische Postkarte oder einen Anruf – gar keine Kontakte zu den Daheimgebliebenen gepflegt. Pflichten im Haushalt entfallen und auch sonst reduziert sich die Verantwortung auf ein Minimum, sodass sich der Blick auf die Welt in dieser Phase schon durch diese Verschiebung der Perspektive grundsätzlich verändert.13 Der Tourist Gaze ist damit auch immer an Handlungen und konkretes Verhalten der Reisenden geknüpft. Er umfasst davon ausgehend alle Blick- und Rezeptionsstrategien, Verhaltensweisen und Interaktionen der touristischen Personen, die vor diesem Hintergrund stattfinden. Er fokussiert sich insbesondere auf Landschaften, Sehenswürdigkeiten und Kulturgüter sowie den Umgang und Begegnungen mit Einheimischen. Primär geht es den Tourist*innen darum, die andere Kultur oder den anderen Lebensstil hautnah mitzuerleben, jedoch ohne tatsächlich daran zu partizipieren oder ernsthaft darin verwickelt zu werden. Sie verhalten sich meist den Konsequenzen gegenüber unbewusst, da sie immer in dem Wissen handeln, später wieder nach Hause zurückzukehren. Dabei werden automatisch Differenzen zum eigenen Lebensstil und -umfeld wahrgenommen und bewertet, und nicht selten werden medial vorgefertigte Stereotype bestätigt.14 John Urry definiert den Tourist Gaze damit als ein Phänomen, das er als in stetiger Veränderung begreift. Es finde besonders mit dem Aufkommen moderner Arbeitsverhältnisse, dem Prinzip von Erholungsurlaub und den finanziellen Möglichkeiten des 20. Jahrhunderts Anwendung. Reisen sei zwar schon immer ein Statusmerkmal gewesen, doch es nehme nicht zuletzt mit der Globalisierung und dem Senken bürokratischer, finanzieller, organisatorischer, zeitlicher und räumlicher...


Seiler, Sascha
Sascha Seiler vertritt die W3-Professur im Institut für Weltliteratur und schriftorientierte Medien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und ist Mitherausgeber von literaturkritik.de.

Köhler, Kristina
Kristina Köhler ist Juniorprofessorin für Kunst- und Mediengeschichte der Bildmedien an der Universität zu Köln. Zuvor war sie Juniorprofessorin in Mainz sowie Assistentin und Oberassistentin in Zürich.

Liptay, Fabienne
Fabienne Liptay ist Professorin für Filmwissenschaft an der Universität Zürich. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen u. a. Aspekte der Bildlichkeit und Erzähltheorie des Films sowie die Wechselbeziehungen zwischen den visuellen Medien und Künsten.

Schweinitz, Jörg
Jörg Schweinitz ist emeritierter Professor für Filmwissenschaft der Universität Zürich. Er ist Mitherausgeber der "Film-Konzepte", der Zeitschrift "Montage AV" sowie mit Margrit Tröhler der Reihe "Zürcher Filmstudien".



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