E-Book, Deutsch, 405 Seiten
Seitzer Wissenschaft der Heil- und Sonderpädagogik
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7799-8948-6
Verlag: Beltz Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein phänomenologischer Klärungs- und Vermittlungsversuch zwischen Disziplin und Profession
E-Book, Deutsch, 405 Seiten
ISBN: 978-3-7799-8948-6
Verlag: Beltz Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Philipp Seitzer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Allgemeinen Heilpädagogik, Theorie der Heilpädagogik und Rehabilitation an der Universität zu Köln sowie akademischer Mitarbeiter im Institut für sonderpädagogische Förderschwerpunkte, Fachbereich Geistige Entwicklung.
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Vorwort von Hans Karl Peterlini
Der Autor der vorliegenden Dissertation Philipp Seitzer bezeichnet den Titel seiner Arbeit als etwas großspurig. Das mag augenzwinkernd erfolgt oder auch dem vorbeugenden Schutz gegenüber möglichen Vorwürfen geschuldet sein, zu hoch gegriffen zu haben und dem ehrgeizigen Anspruch nicht gerecht zu werden. „Wissenschaft der Heil- und Sonderpädagogik“, untertitelt als „phänomenologischer Klärungs- und Vermittlungsversuch zwischen Disziplin und Profession“, ist tatsächlich kein zu unterschätzendes Unterfangen für den Eintritt in die promovierte Wissenschaftsgemeinschaft, deren Rezeptions- und Rezensionskultur ja mitunter nicht ganz gefahrenfrei ist. Großspurig aber, das darf vorweggenommen werden, ist weder das Anliegen noch die Herangehensweise des Autors. Vielmehr versteht sich die Arbeit als Gesprächseinladung, das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis am Beispiel der Heil- und Sonderpädagogik auszuloten und, in weiterer Folge, gegebenenfalls auch neu zu gestalten. Dieses Verhältnis ist wohl in allen Wissenschaften problematisch und brüchig, zweifellos aber in den humanwissenschaftlichen und da vor allem in pädagogischen Disziplinen. Das Verdikt der Systemtheorie, wonach der Pädagogik das „Technologiedefizit der Erziehung“ (Luhmann, Schorr 1982) anhaftet, vorweggenommen schon von Siegfried Bernfeld in seinem Sisyphos (1925), vereitelt konstitutiv jegliches Denken in gesicherten Bahnen sowohl für die pädagogische Praxis als auch für deren theoretische Begründungszusammenhänge.
Umso weniger trittfest sind Konstruktionen, die zwischen Theorie und Praxis in die eine oder andere Richtung monodirektionale Verbindungen herstellen. Für die Heil- und Sonderpädagogik gilt dies, wie Philipp Seitzer einleitend darlegt, in besonderem Maße, ist doch gerade gegenwärtig „sowohl die Wissenschaftlichkeit der heil- und sonderpädagogischen Praxis als auch die Praxisrelevanz der gleichnamigen Wissenschaft […] bedroht“ (S. 7). Die Entkoppelung der beruflichen Qualifizierung von einem einschlägigen wissenschaftlichen Studium aufgrund des Lehr- und Fachkräftemangels sowie die damit einhergehende Entprofessionalisierung der Praxis treffen Disziplin und Praxis zu einer Zeit, in der Bildung insgesamt von Entwicklungen wie Digitalisierung, Budgetkürzungen, Effizienzdiskursen und technisierenden Strategien herausgefordert und prekarisiert wird. So erhöht in der Analyse des Autors das ungern akzeptierte, meist verdrängte Technologiedefizit nachgerade die Sehnsucht nach Technologisierung pädagogischen Handelns.
Ebenso spitz wie feinfühlig verzeichnet Seitzer das Auseinanderdriften leitender Diskurse, das nach Habermas durchaus auch als Verlust eines kommunikativen und damit lösungsorientierten Handelns zugunsten strategischer Polarisierungen wahrgenommen werden kann: „Während ein Zweig der Disziplin durch Technologisierung und Verdatung Praxis effizienter zu gestalten versucht, dabei jedoch kaum an die Komplexität der Handlungswirklichkeit heranreicht, führt ein anderer Zweig intellektuell hochgerüstete Diskurse, die in recht abstrakte Theorien abheben, sich regelmäßig in Aporien verfangen und hinsichtlich konkreter Praxisanschlüsse eher vage bleiben.“ (S. 15)
Vor diesem Hintergrund entwickelt der Autor seine forschungsleitenden Frage- und Aufgabenstellungen, die sich den vielfach üblich gewordenen und Power-Point-tauglichen Zweizeilern entziehen und stattdessen in komplexitätswahrender Verstrickung an verschiedenen Stellen im Text auftauchen und sich teilweise über mehr als eine Seite ziehen. Zentral und immer wiederkehrend, weil nicht einfach und schon gar nicht letztgültig beantwortbar, scheinen folgende Fragestellungen zu sein: „Zwischen welchen Konflikt- und Spannungspolen (etwa: politischen, ethischen und erkenntnistheoretischen) konstituiert und reproduziert sich eine akademische Disziplin? Wie kommt es dazu, dass sich Disziplin und Profession im Zuge der Akademisierung voneinander entfremden? Auf welche Grundlagen kann sich eine Praxiswissenschaft wie die Heil- und Sonderpädagogik heute stützen?“ (ebd.) In realistischer Einsicht, dass sich solche Fragen nicht zwischen zwei Buchdeckeln ausverhandeln lassen, sondern sowohl Theorie- als auch Praxisentwicklung viel breiteren diskursiven Prozessen anvertraut sind, erhebt die Arbeit dennoch den nun gar nicht großspurigen, sondern realistischen Anspruch, zu einer erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Reflexion beizutragen. Die wissenschaftliche Fundierung der Praxis und der Fundierung der Wissenschaft in der Praxis gründet der Autor auf die These, „dass heil- und sonderpädagogische Praxis nicht nur Wissenschaft braucht, sondern Wissenschaft ist“ (S. 17). Diese Festlegung kann als eine Art archimedischer Punkt verstanden werden, von dem aus sich die Arbeit entfaltet und erschließt.
Wer sich nun Festlegungen über die Wissenschaftlichkeit einer Praxis und die Praxistauglichkeit einer Wissenschaft erwartet, nähert sich dieser Arbeit aus einer Haltung, die ihr schlicht nicht entspricht. Allein schon die Benennung des Gegenstands – Behinderung, Beeinträchtigung, Lernschwäche, besondere Begabung, Störung jedweder Art oder auch Disability, um Verfänglichkeiten der deutschen Sprache auszuweichen – ist innerhalb der Wissenschafts- und Praxisgemeinschaften nicht minder strittig als außerhalb. Ohne darauf Bezug zu nehmen, vertraut sich die Arbeit dem von Gianni Vattimo so benannten schwachen Denken, dem pensiero debole an, das sich gar nicht mehr erst auf metaphysische Ordnungen verlässt, sondern sich auf Relativierungen und Erschütterungen jeglicher Sicherheit einlässt (Vattimo und Rovatti 2010). Vattimo sieht den Nietzsche’schen Übermenschen nicht als Ausdruck von übermenschlicher Stärke und Präpotenz, also nicht als superuomo, sondern als oltreuomo, der sich der Schwäche der eigenen Erkenntnisfähigkeit bewusst wird und sich dennoch kreativ auf die schwankende Wirklichkeit einlässt. Philipp Seitzer scheut vor der Bodenlosigkeit wissenschaftlicher Selbstbegründung nicht zurück, sondern vertraut sich, phänomenologisch orientiert, einer Suchbewegung an. Aus einer solchen Haltung heraus löst die Arbeit das Theorie-Praxis-Dilemma nicht auf die eine oder andere Seite hin auf, sondern versucht den zugrundeliegenden Dualismus zu unterlaufen. Mit Bezugnahme auf Bernhard Waldenfels würdigt die Arbeit wohl den Handlungs- und Erfahrungszugang, lässt sich aber auch auf die „Grau- und Grenzzonen der Erfahrung und des Handelns ein“ (S. 164), um die Spannung zwischen Theorie und Praxis in der Schwebe zu halten, statt in einer Synthese zu überwinden zu versuchen: „Die Spannung besteht nun darin, dass diese beiden Seiten trotz aller Unvereinbarkeiten aufeinander angewiesen bleiben: Wissenschaft muss in der Praxis engagiert bleiben, um nicht in einer freien, leeren Denkwelt auszuufern oder vollkommen selbstbezüglich zu werden. Andererseits kann die Praxis hinreichende Gründe für ihr Handeln ebenso wenig aus sich selbst heraus ableiten.“ (S. 171) Daraus ergibt sich die Notwendigkeit eines Dialogs zwischen Theorie und Praxis im Sinne einer transdisziplinären und transdiskursiven Verständigung. Die Husserl’sche Epoché als responsive Übung zeigt hier für den Autor einen gleichermaßen erkenntnistheoretischen wie lebensweltorientierten Weg auf, sich „gegenseitig zu Wort kommen zu lassen“ (S. 380).
Dafür schlägt der Autor einen Dreischritt vor, beginnend mit einem „regelmäßigen Heraustreten aus Handlungssituationen, einhergehend mit der Suspension der selbstverständlichen Geltungsansprüche impliziten Wissens“ (S. 383). Die solcherart konkret werdende Präsenz von Praxis wird im zweiten Schritt einer Reflexion unterzogen, „die auch als Einnehmen einer theoretischen Einstellung“ (ebd.) definiert wird. Im dritten Schritt, der als Funktion der Wissenschaft definiert wird, werden die wahrgenommenen Situationen „in einem weiteren, abstrakteren Bogen“ (S. 384) betrachtet. Damit löst der Autor das Theorie-Praxis-Dilemma nicht, was die Arbeit nicht nur nicht beabsichtigt, sondern geradezu vermeiden will, sondern schlägt einen phänomenologischen Umgang mit den vielen, sich aus Theorie und Praxis ergebenden Fragen vor. Der Wert der Fragen liegt, wie der Autor schon einleitend vorausschickt, nicht im sicheren Antworten darauf, sondern im suchenden Ergründen der Fragen selbst.
Wenngleich die mit einer Wissenschaft der Heil- und...




