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E-Book, Deutsch, 294 Seiten, Format (B × H): 1260 mm x 204 mm, Gewicht: 317 g

Seiwert Enthüllungen

Zur musikalischen Interpretation im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-86674-659-6
Verlag: zu Klampen Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Zur musikalischen Interpretation im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit

E-Book, Deutsch, 294 Seiten, Format (B × H): 1260 mm x 204 mm, Gewicht: 317 g

ISBN: 978-3-86674-659-6
Verlag: zu Klampen Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Adornos Aufführungstheorie, die im Nachlassband »Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion« zusammengefasst ist, blieb fragmentarisch. Elvira Seiwert verfolgt sie in ihren Hauptzügen, setzt sie in Beziehung vor allem zu Benjamin und seiner Findung der »dialektischen Bilder«, nicht zuletzt auch zum Spontaneitätsgedanken Ulrich Sonnemanns. Der Dirigent Michael Gielen schreibt: »Was bei Adorno angedeutet wurde, ist hier breit ausgeführt und mit Beispielen und Analysen belegt, für die die langjährige Rundfunkarbeit der Autorin das phantasievolle Gerüst liefert. Die Arbeit von Elvira Seiwert sollte obligatorische Lektüre all der meist ahnungslosen Musikbeflissenen sein.«

Elvira Seiwert, Jahrgang 1957, studierte Musik, Philosophie und Germanistik, arbeitete im öffentlich-rechtlichen Hörfunk, widmete sich den Rundfunkarchiv-Beständen, diese als Unruhe-Depots verklungener Musikgeschichte aktualisierend. Daneben Promotion und Habilitation zu Thomas Mann, Adorno, Beethoven und zur Archäologie der Musikreproduktion. Sie ist Mitarbeiterin der Ulrich Sonnemann-Schriften-Ausgabe und der Michael Gielen-CD-Edition.
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Kapitel 1


Musikalische Interpretation

im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit

»Theorien sind gewöhnlich Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes, der die Phänomene gern los sein möchte und an ihrer Stelle deswegen Bilder, Begriffe, ja oft nur Worte einschiebt. Man ahnet, man sieht auch wohl, daß es nur ein Behelf ist; liebt sich nicht aber Leidenschaft und Parteigeist jederzeit Behelfe? Und mit Recht, da sie ihrer so sehr bedürfen.«

(Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen34)

Als wollte er dem technisch-medialen Aspekt gleich von Beginn an begrifflich Rechnung tragen, spricht Adorno schon früh, in einer ersten kleinen Arbeit zum Thema35, von »Reproduktion«36 statt von »Interpretation«. Ohne der allein schon durch den Begriff »Interpretation« evozierten Mehrdeutigkeit nachzugeben, springt so der Akzent von selber aufs Nachschaffen, Nachahmen; wird überdies der (Neben-)Gedanke ans reproduzierende Medium zugelassen. Das freilich seinerseits (als, vom Begriff her, ›Mitte‹, ›Mittleres‹, ›Vermittelndes‹) vieldeutig schillernd in, historisch, wandelnden Gestalten erscheint. Einen zumal spiritualistisch-spiritistischen Auftritt hat es in Zeiten der Romantik. In E.T.A. Hoffmanns Erzählung vom »Ritter Gluck« etwa erscheint ein Phantom des »Ritters« als Medium, das die Verhältnisse von Glucks Originalkompositionen reproduziert und dabei in neuer Weise ordnet37; aktuell versorgen die Mittel der Digitalisierung mit neuen, virtuellen Welten. Herbeizitiert jedenfalls ist als zugehöriger Bereich die Medientheorie.

Die – notabene – selbst heute auf Grundlegungen, wie sie Benjamins Essay vom »Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« liefert, nicht nur nicht verzichten will, vielmehr solchen Frühgeschichts-Reflexionen eine Konjunktur beschert. Die Jahrtausendwende ist das Datum, an welchem zurückgeschaut und der Kurs der Mediendiskussion resümiert werden wollte. Und so informiert das rechtzeitig erschienene »Kursbuch Medienkultur«: daß die seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts ausgebildeten Medien nicht allein als die Instrumente, die sie vorgeblich sind, zu lesen, sondern »gerade als Instrumente« selbst zu »Quellen kultureller Praxis« geworden wären und eine ihrer Eigenwilligkeit sich anmessende Deutung erforderten. Freilich sei die Disziplin »Medienwissenschaft« verhältnismäßig jung, ihre Geschichte »noch nicht geschrieben«. Das liege nicht zuletzt »an der Unklarheit darüber, wessen Abkömmling das, was sich heute Medienwissenschaft nennt, eigentlich sei«. »Denn hier«, heißt es weiter, »treffen die Auslagerungen der alten und erprobten Philologien, der kunst- und geschichtswissenschaftlichen Disziplinen, mit Nachrichtentechnik, Publizistik, Ökonomie, kommunikationswissenschaftlichen und wissenshistorischen Fragen in einem unbestimmten Mischungsverhältnis aufeinander und machen nur deutlich, daß ein gemeinsamer Ort ungewiß und ein gemeinsamer Gegenstand wenigstens problematisch ist.« Als ›Ausweg‹ wird ein »erstes medientheoretisches Axiom« statuiert: »daß es keine Medien gibt, keine Medien jedenfalls in einem substantiellen und historisch stabilen Sinn«. Allenfalls winke ein »gemeinsamer Horizont«, vor dem Medien dann als »systematisierbare Objekte« erkannt werden könnten, die das, »was sie speichern, verarbeiten und vermitteln, jeweils unter Bedingungen stellen, die sie selbst schaffen und sind«. Womit wieder in eine bewährte Flugbahn eingeschwenkt wäre, deren Kurs von einem weiteren »Klassiker« der Medientheorie eingestellt worden war: Marshall McLuhans »Magischen Kanälen« aus den frühen 1960er Jahren und seiner lakonischen These, daß »das Medium die Botschaft« sei38. Im Versuch, den weiten Horizont auf die Dimension eines (unter Umständen) bestellbaren Untersuchungsgebietes zu komprimieren, heißt es bei Tholen: »Die von der Mediengeschichte über die Mediensoziologie bis zur Medienästhetik inzwischen anerkannte, aber epistemologisch noch nicht abschließend geklärte Frage, ob Medien den Wandel von Gesellschaft, Kultur und Wahrnehmung konstituieren oder nur sekundär begleiten, führte zur Begründung zumindest eines einheitlichen Forschungs- und ›Grabungsfeldes‹, das man […] gemäß der starken Bedeutungsvariante des Medienbegriffs die ›mediologische‹ Perspektive einer gewiß noch nicht kanonisierten Medienwissenschaft nennen kann.«39

Eine Medientheorie, welche die Sache der Musik betriebe, fand sich seinerzeit nahezu ausschließlich – da von zuständiger Seite kaum eine Widerrede deutlich wurde – in den Händen der allgemeinen Disziplin, wo ihr, dank der allgemeinen Verunsicherung, auf eigentümliche Weise zugesetzt werden konnte. So etwa in den technikfrohen und zeitgeistaffinen Arbeiten von Norbert Bolz, der, in Marshall McLuhans Spuren, sich zu Wagners »Gesamtkunstwerk« aufmacht, das »aus der Immanenz der Gutenberg-Galaxis nicht zu verstehen« sei40. Nietzsche (wie ihn der französische Strukturalismus versteht) ist sein Zeuge: von »medienästhetischer Prägnanz« sei dessen »Kampfparole: ›Überwindung des Begriffs ›Litteratur‹ –: Wagner.‹« »Das«, meint Bolz, »ist die radikale Antithese zu jeder vergeistigten Musikästhetik, von der Adorno meint, daß sich das adäquate Hören neuer Musik eigentlich im einsamen Studium der schweigenden Partitur erfülle. In Wagner zerbricht die durch Lesen, Schreiben und Studium kontinuierte Tradition der Gutenberg-Galaxis«. Und: »An die Stelle von Literatur tritt eine viel strengere Form von ›Styl-Überlieferung‹, nämlich körperliche Einschreibung. Die musikalische Praxis des Gesamtkunstwerks ist ›nicht mit Zeichen auf Papier, sondern in Wirkungen auf menschliche Seelen eingeschrieben‹. Diese Einschreibung ist Einübung eines neuen Sprachvermögens – antimodern in dem genauen Sinne, daß sie gegen die Konvention der Gutenberg-Galaxis gerichtet ist. Wagner ist der Herold derer, die in der ›absoluten Verstandessprache‹ der Moderne ›gewissermaßen nicht mitsprechen‹ können und deshalb in die Musik ›flüchten‹«. Eine Flucht, die bekanntlich in Deutschland schon einmal fatale Karriere gemacht, und deren »Einschreibungen« Ulrich Sonnemann als psychohistorisches Verhängnis der Deutschen diagnostiziert hat. Kein Grund also zum Feiern. Bolz aber – unbekümmert um musikalische Sachverhalte, sich am jargonkonformen Gleichklang Genüge tuend: »Rauschmusik erobert das Spektrum des Rauschens«41 – feiert den Dithyrambus als Reflexions-Ersatz: »So beginnt mit Wagners Gesamtkunstwerk ein Exerzitium der Sinne, an dessen Ende sich die elektronischen Medien zu einer neuen mythischen Welt zusammenschließen werden«. Das Licht, in dem diese schöne neue Welt aufblitzt, verdankt sich einem Kurzschluß von McLuhan mit Wittgenstein, bei dem die Musik endlich vollends auf der Strecke bleibt. »Denn die Welt ist alles, was unsere Sinne in ihren medialen Extensionen inszenieren«42. –

Medientheoretische Reflexion seitens der Musikwissenschaft jedenfalls akzentuiert zumal den »Mittel«-Aspekt der neuen Medien, unterscheidet sich insofern grundsätzlich von der allgemeinen Medientheorie. Einschlägig hier: die Arbeiten von Hermann Gottschewski. Dem »Remastering« historischer Aufnahmen – ehemals mit Rauschunterdrückung sich bescheidend (Bolz’ Rauschmetaphysik als kuriose Pointe) – eröffnet die digitale Technik Möglichkeiten des Eingriffs in Klangfarbe, Dynamik und selbst Agogik, so daß die Gefahr, daß »vom Original nicht mehr viel übrig bliebe«, nicht von der Hand zu weisen sei. »Daß dabei der Bearbeiter als erneuter Interpret in Erscheinung tritt, eröffnet für unsere pluralistische Kultur neue Perspektiven« – und vervielfältigt die Probleme der Interpretationstheorie. Allein: die Frage nach der Bedeutung des Mediums selber (schon die nach der Abbildungs-Zuverlässigkeit des ›Originals‹, i.e. des ›originalen‹ Tonträgers) – sie wird hier nicht gestellt.43

Adornos früher Reproduktions-Essay übrigens war seinerseits Reaktion, gliederte sich ein in eine Umfrage der Zeitschrift »Pult und Taktstock« zum Thema »Mechanisierung der Musik« von 1925. Hier, in der von der Wiener Universal Edition herausgegebenen, als »Fachzeitschrift für Dirigenten« konzipierten Zeitschrift – mit Erwin Stein als verantwortlichem Schriftleiter (Erscheinungszeit 1924 bis 1930; dann sang- und klangloses Ende respektive offizielle Überführung in die andere UE-Zeitschrift, den »Anbruch«) – läßt sich der Doppelaspekt von Reproduktion in krisenhafter Frühzeit studieren. In weiträumigem An- und Umgang werden diskutiert: die damals junge Radiotechnik samt der ihr verschwisterten Mechanisierungsmöglichkeit der Musik44, sowie, ebenso assoziiert und polemisch unters Stichwort »Dirigentendämmerung« gefaßt, Anmerkungen über den Komponisten als den »wahren« Interpreten seiner Musik. In seinem Artikel: »Über den Vortrag von Schönbergs Musik« schreibt Erwin Stein: »Der Behauptung […], ›es wäre am besten, wenn immer der Komponist selbst seine neuen Werke einstudieren und dirigieren würde‹, ist von vielen Dirigenten widersprochen worden. Es sei nicht die Regel, daß ein guter Komponist auch ein guter Kapellmeister sei, zur Interpretation bedürfe es einer gewissen Distanz usw. Ich gestehe, daß ich bei meiner Behauptung in erster Linie an einen Standard-Fall gedacht habe: an Schönberg und seine Werke. Und wenn auch jetzt der Widerspruch nicht verstummt, so muß doch gesagt sein: Es geht hier nicht um das Handwerkszeug...


Seiwert, Elvira
Elvira Seiwert, Jahrgang 1957, studierte Musik, Philosophie und Germanistik, arbeitete im öffentlich-rechtlichen Hörfunk, widmete sich den Rundfunkarchiv-Beständen, diese als Unruhe-Depots verklungener Musikgeschichte aktualisierend. Daneben Promotion und Habilitation zu Thomas Mann, Adorno, Beethoven und zur Archäologie der Musikreproduktion. Sie ist Mitarbeiterin der Ulrich Sonnemann-Schriften-Ausgabe und der Michael Gielen-CD-Edition.

Elvira Seiwert, Jahrgang 1957, studierte Musik, Philosophie und Germanistik, arbeitete im öffentlich-rechtlichen Hörfunk, widmete sich den Rundfunkarchiv-Beständen, diese als Unruhe-Depots verklungener Musikgeschichte aktualisierend. Daneben Promotion und Habilitation zu Thomas Mann, Adorno, Beethoven und zur Archäologie der Musikreproduktion. Sie ist Mitarbeiterin der Ulrich Sonnemann-Schriften-Ausgabe und der Michael Gielen-CD-Edition.



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