Sendker | Die Rebellin und der Dieb | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Sendker Die Rebellin und der Dieb

Roman
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-641-22766-1
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-641-22766-1
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Angst ist eine Macht, die überwunden werden kann

Der 18-jährige Niri, seine Eltern und Geschwister haben eine bescheidene, aber gesicherte Existenz als Bedienstete in der Villa einer reichen Familie. Bis die Pandemie kommt, Niris ganze Familie entlassen wird und in den Abgrund tiefster Armut starrt. Der bisher brave Klosterschüler will nicht auf die Gnade einer gleichgültigen Regierung warten und begehrt angesichts der wachsenden Not gegen die Schicksalsergebenheit seines Vaters auf. An den Patrouillen vorbei schleicht er nachts durch eine abgeriegelte Stadt zurück zu der Villa, um zu holen, was die Familie zum Überleben braucht. Dort wartet seine Jugendfreundin Mary auf ihn, die ihm nicht nur Lebensmittel gibt, sondern einen größeren Plan hat, der das Leben der Stadt und der beiden für immer verändern wird.

Die universelle Geschichte zweier Liebender aus verschiedenen Welten, die lernen, was im Angesicht einer Katastrophe zählt: Mut zum Widerstand, Wille zur Veränderung und bedingungsloses Vertrauen ineinander.
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1

Mir bleibt nicht viel Zeit, meine Geschichte zu erzählen. Es ist nur noch eine Frage von Stunden, wenn wir Glück haben vielleicht einem Tag, bis sie uns finden.

Wie bin ausgerechnet ich, der stille, folgsame Niri, zu einem Dieb auf der Flucht geworden? Wie wird ein Mensch zu dem, der er ist?

Die Wahrheit ist: Ich weiß es nicht. Um meiner Schwester zu helfen, habe ich eine Grenze überschritten. Eine Grenze, von der ich zuvor nicht gedacht habe, dass ich jemals auch nur in ihre Nähe kommen würde.

Ich fühlte mich hilflos und entschloss mich zu handeln. Eine Tat führte zur nächsten, nicht, weil ich einen bestimmten Plan gehabt hätte, sondern einfach, weil wir nie stehen bleiben, weil das Leben kein Film ist, den wir anhalten oder zurückspulen können.

Ich habe nicht davon geträumt, ein Held zu sein. Was ich getan habe, hat mich in den Augen vieler Menschen zu einem gemacht, aber es war den Umständen geschuldet, und für diese Umstände konnte ich nichts.

Habe ich eine Wahl gehabt? Blicke ich zurück, mag es so scheinen. Aber in den Momenten, in denen ich mich entscheiden musste, kam es mir nicht so vor.

Ich habe mir die Freiheit genommen, in meiner Not nicht lange über die Konsequenzen meines Handelns nachzudenken. Ich habe nie geglaubt, dass ich die Welt retten kann. Höchstens ein paar Menschen vor Krankheit, Hunger und Tod.

Alles begann damit, dass meine kleine Schwester im Schlaf weinte.

Eigentlich war es kein Weinen, sondern ein schwaches, von Husten unterbrochenes Wimmern. Trotz der Hitze war sie ganz dicht an mich herangerutscht, hatte einen Arm auf meinen Bauch gelegt, ihr warmer Atem strich über meine Haut. Sie schluchzte – und ich wusste nicht, was ich machen sollte.

Aber vielleicht hatte auch alles schon viel früher begonnen: auf einem Markt in China, wo jemand ein Schuppentier oder eine Fledermaus kaufte und sich dabei mit einem Virus infizierte; oder in einem Labor, wo eine Unachtsamkeit genügte, um etwas freizusetzen, das von dort um die Welt reiste, bis es vermutlich meine Tante tötete.

Möglicherweise begann alles auch noch viel früher, nämlich in dem Moment, als meine Eltern beschlossen, ihr Land zu verlassen, weil sie glaubten, in der Fremde ihr Glück zu finden. Oder zumindest weniger Unglück.

Wer weiß schon, wann und wo Geschichten ihren Anfang nehmen und wann und wo sie ihr Ende finden? Das Leben ist ein Kreislauf, sagt mein Vater. Wir werden geboren, wir sterben, wir werden wiedergeboren … Es ist sinnlos, nach Anfängen und Enden zu suchen.

Meine Schwester zitterte, als würde sie frieren.

Ich schwitzte.

Am Tage waren es fast vierzig Grad gewesen, und in unserer Hütte staute sich die Hitze wie Wasser hinter einem Damm. Die Nächte brachten nur wenig Abkühlung. Hungrige Moskitos summten um unsere Köpfe, eine Spinne kroch mir das Bein hoch, ich versuchte gar nicht erst, sie abzuschütteln, ich wollte meine Schwester nicht wecken. Wir lagen auf unserer Matte aus Bast, es musste nach Mitternacht gewesen sein, die Stimmen des Abends waren verstummt. Der alte Trinker in der Hütte nebenan rührte sich nicht mehr. Das streitsüchtige Paar gegenüber musste vor Erschöpfung eingeschlafen sein. Und auch im Verschlag der Witwe mit ihren sechs Kindern und noch mehr Liebhabern herrschte endlich Ruhe.

Neben uns schliefen unsere Eltern. Ich hörte es am Schnarchen meines Vaters und an dem schweren, von gelegentlichem Husten unterbrochenen Atem meiner Mutter. Auch sie war krank. Vielleicht hatte sie sich bei ihrer Schwester angesteckt. Sie hustete jedenfalls, war fiebrig und wurde von Tag zu Tag schwächer. Es konnte Malaria sein. Eine Lungenentzündung. TBC. Oder auch der neue Virus. Wir würden es nie herausfinden, so wenig, wie wir sicher sein konnten, woran meine Tante gestorben war.

Gestern hatte es meine Mutter mit meiner Hilfe noch zur Toilette geschafft. Heute war sie gar nicht aufgestanden. Jeder ihrer Atemzüge klang nach einer großen Anstrengung.

Ich bin nicht sehr empfindlich, was Geräusche betrifft. Das Nagen von Ratten neben meinem Ohr. Das Schwirren von Insekten. Das Gezeter der Streitenden in den benachbarten Hütten. Das leise Stöhnen der Liebenden und Bedürftigen. Ich hörte es und hörte es nicht. Es ging durch mich hindurch, ohne Spuren zu hinterlassen. Mit dem Schluchzen meiner Schwester war es etwas anderes. Es tat mir fast körperlich weh. Es erinnerte mich zu sehr an das Weinen von Mayari, meiner anderen kleinen Schwester. Sie starb vor drei Jahren, ihr Wimmern hatte ähnlich geklungen in den Nächten, bevor sie nicht mehr aufwachte.

»Thida«, flüsterte ich, »was ist mit dir?« Eine dumme Frage, ich wusste ja, dass sie Hunger hatte.

Ich überlegte, ob es noch etwas Essbares in der Hütte gab. Die kleine Packung Kekse, die ich zwischen den Brettern versteckt hatte, hatte sie gestern schon bekommen. Die Bananen waren lange gegessen. Reste vom Abendessen gab es keine, weil es kein Abendessen gegeben hatte. Mittagessen auch nicht. Die einzige Mahlzeit des Tages waren eine Schale Reis gewesen und eine Mango, die wir am Morgen unter uns dreien aufgeteilt hatten. Wo mein Vater die aufgetrieben hatte, war mir ein Rätsel. Das letzte Stück Kaugummi, das manchmal gegen den Hunger half, hatte ich vorgestern gegen einen halben Becher Reis eingetauscht.

Ich strich meiner Schwester die schweißnassen Haare aus dem Gesicht, sie schaute mich aus halb geöffneten Augen an. Ihre Lippen bewegten sich, aber sie musste gar nichts sagen. Auch mein Magen war leer. Ein Loch im Bauch. Wer das nie erlebt hat, weiß nicht, wie es sich anfühlt. Den ganzen Tag über hatte ich Krämpfe gespürt. Aber ich bin achtzehn Jahre alt, ich halte das aus. Meine Schwester ist fünf.

Eine Ratte huschte durch den Raum, blieb stehen, richtete sich auf, schnupperte. Ich warf einen von Thidas Flip-Flops nach ihr. Selbst sie würde in dieser Hütte nichts Essbares finden, und ich fürchtete, sie könnte vor Hunger meine Schwester beißen.

Es war noch nicht lange her, da hatten wir nicht gewusst, was Hunger war. Mein Vater hatte fünfzehn Jahre lang als Wachmann bei Mister Benz gearbeitet, und wir hatten ein gutes Auskommen gehabt. Sein Chef hieß eigentlich anders, aber bevor er anfing, Einkaufszentren zu bauen und Reisfelder in Stadtviertel zu verwandeln, handelte er mit Autos dieser Marke. Mein Vater hatte schon damals für ihn gearbeitet, und solange ich denken kann, nannten wir ihn Mister Benz.

Mein Vater hatte als Hilfsgärtner begonnen und war bald zum Wachmann aufgestiegen. Die meiste Zeit des Tages saß er in seiner graublauen Uniform und gründlich polierten schwarzen Stiefeln auf einem Hocker in einer kleinen Hütte neben der Einfahrt. Am Morgen, wenn Mister Benz mit seinem Fahrer das Grundstück verließ, sprang er auf, schob das schwere schwarze Gittertor zur Seite, stand stramm, blickte dem Wagen nach und rührte sich erst wieder, wenn dieser im Verkehr verschwunden war. Die Szene wiederholte sich jeden Abend, wenn Mister Benz zurückkehrte, oder sobald Mrs Benz oder ihre Kinder das Grundstück verließen. Davon abgesehen, hatte mein Vater als Wachmann nicht viel zu tun. Das gesamte Grundstück war von einer mehrere Meter hohen Mauer umgeben, aus deren oberer Kante sehr spitze und sehr scharfe Scherben ragten. Darüber waren noch einmal drei Lagen Stacheldraht montiert. Früher gab es noch Überwachungskameras, deren Bilder auf einen Monitor in die Hütte meines Vaters übertragen wurden. Er verbrachte Stunden damit, von einer Kamera zur anderen zu schalten und auf die immer gleichen Schwarz-Weiß-Bilder zu starren. Als Kind leistete ich ihm dabei manchmal Gesellschaft. Da nie etwas passierte, wurde es mir bald zu langweilig. Meinem Vater nicht. Oder er zeigte es nicht. Irgendwann gingen sie kaputt und wurden nicht ersetzt.

Meine Mutter arbeitete als Köchin der Familie, ihre Schwester, meine Tante, erledigte die Einkäufe und ging ihr beim Kochen zur Hand. Ich war im letzten Jahr für den großen Garten und den Tennisplatz verantwortlich, nachdem der Gärtner entlassen worden war, weil er mit seinem Smartphone heimlich Fotos von dem Grundstück gemacht hatte.

Außerdem gehörte die Pflege des Geisterhauses zu meinen Aufgaben. Im Garten stand ein mächtiger alter Banyanbaum, in dem ein Geist wohnte, der über die Villa und das Grundstück wachte. Für ihn war vor langer Zeit ein Häuschen gebaut worden, in das ich im Namen der Familie Benz jeden Tag eine Vase mit frischen Blumen, ein kleines Glas Wasser und allerlei Opfergaben brachte. Die Benz waren zwar Christen, Mrs Benz war jedoch sehr abergläubisch. Mehrmals in der Woche kam sie zum Geisterhaus und prüfte, ob es sauber war und die Blumen frisch. Oft sah ich sie eine besonders große Pomelo oder Mango vor den Altar legen und den Geist um seinen Schutz oder einen Gefallen bitten. In den Monaten nach dem Unfall ihrer Tochter war sie jeden Tag da.

Meine Eltern, meine Tante,...


Sendker, Jan-Philipp
Jan-Philipp Sendker, geboren in Hamburg, war viele Jahre Amerika- und Asienkorrespondent des Stern. Nach einem weiteren Amerika-Aufenthalt kehrte er nach Deutschland zurück. Er lebt mit seiner Familie in Potsdam. Bei Blessing erschien 2000 seine eindringliche Porträtsammlung Risse in der Großen Mauer. Nach dem Roman-Bestseller Das Herzenhören (2002) folgten Das Flüstern der Schatten (2007), Drachenspiele (2009), Herzenstimmen (2012), Am anderen Ende der Nacht (2016), Das Geheimnis des alten Mönches (2017), Das Gedächtnis des Herzens (2019), Die Rebellin und der Dieb (2021) und Akikos stilles Glück (2024). Seine Romane sind in mehr als 35 Sprachen übersetzt. Mit weltweit über 4 Millionen verkauften Büchern ist er einer der aktuell erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren.



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