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E-Book

E-Book, Deutsch, Band 2, 448 Seiten

Reihe: Die China-Trilogie

Sendker Drachenspiele

Roman
1. Auflage 2009
ISBN: 978-3-641-02772-8
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, Band 2, 448 Seiten

Reihe: Die China-Trilogie

ISBN: 978-3-641-02772-8
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein akribisch recherchierter China-Roman, der sowohl das Verständnis für die fremde Kultur mehrt als auch große Gefühle weckt

Paul hat gelernt, mit dem Tod seines Sohnes zu leben. Geholfen hat ihm dabei Christine, die seine ganze Hoffnung für die Zukunft ist. Sie hatten geplant, auf der kleinen Insel Lamma vor Hongkong zusammenzuleben, doch Christine will davon nun nichts mehr wissen. Ein Wahrsager hat ihr und dem Mann, den sie liebt, eine düstere Zukunft vorausgesagt. Wie viele Chinesen ist Christine nicht religiös, jedoch sehr abergläubisch, und die Prophezeiung verunsichert sie zutiefst. Paul ist verstört und enttäuscht – er glaubt nicht an Schicksal oder die Macht der Sterne.

Als Christine von ihrem während der Kulturrevolution verschollenen Bruder Da Long einen Brief erhält, in dem er dringend ihre Hilfe erbittet, fühlt sie ihre dunklen Vorahnungen bestätigt. Sie überwindet ihre Angst und macht sich zusammen mit Paul auf die Reise zu Da Long in ein Dorf nahe Schanghai, in dem Menschen und Tiere auf rätselhafte Weise erkranken und sterben.

Paul, der rationale Westler, will der Sache auf den Grund gehen – und kommt dabei einem von höchster Stelle gedeckten Verbrechen auf die Spur. Immer tiefer verstrickt er sich in ein Land, das er zu kennen glaubte und das ihm zunehmend fremder wird. Wie sehr er sich und die Menschen, die ihn um Hilfe baten, dabei in Gefahr bringt, bemerkt er zu spät. Die Prophezeiung scheint sich zu erfüllen. Pauls alte Gewissheiten gelten nicht mehr.
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I
Du bist ein liebeshungriger Mensch.
Es war das erste Mal, dass er diesen Satz von einer Frau hörte. Liebeshungrig. Er wusste nicht, ob das eine Klage oder ein Kompliment sein sollte. Sind wir das nicht alle?, antwortete er, ohne darüber lange nachzudenken.
Sie lächelte. Manche mehr, manche weniger.
Und ich? Mehr oder weniger?
Mehr. Mehrmehrmehr.
Er nahm sie in den Arm. Diesen schmächtigen Körper, den er manchmal zu zerdrücken fürchtete. Der ihn aufregen konnte, ihn in langen, schlaflosen Nächten um den Verstand brachte wie zuvor kein anderer in seinem Leben. Er atmete tief ein und schloss die Augen.
Mehr. Mehrmehrmehr.
Liebeshungrig. Es hat Menschen in seinem Leben gegeben, die hätten ihn mit diesem Wort verletzen wollen. Und Zeiten, in denen ihnen das gelungen wäre. Er hätte die Behauptung als Affront empfunden und als eine geradezu absurde Unterstellung zurückgewiesen.
Heute nicht. Obgleich die Worte Hunger und Liebe in seinem Kopf nicht zusammenpassen wollten. Liebe klang für ihn, zumindest mit Christine im Arm, nach Reichtum, Glück, Erfüllung. Hunger hingegen war eine Not. Hunger musste gestillt werden, notfalls um jeden Preis. Hunger kannte nur sich, Liebe nur den anderen. Hungrige Menschen waren schwach, Liebende stark. Wenn Hunger und Liebe etwas verband, war es die Maßlosigkeit, die in beidem steckte.
Er fragte, wie es gemeint war. Ob er es als Beschwerde oder Schmeichelei verstehen dürfe.
Weder noch, antwortete sie. Nur als Feststellung.
Dabei beließen sie es. Zunächst.
Vielleicht, dachte er, hatte sie Recht. Vielleicht hatten die vergangenen drei Jahre tiefere Spuren hinterlassen, als ihm bewusst war. Drei Jahre, in denen er sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als allein zu sein. Drei Jahre, in denen ein Tag, an dem er mit keinem Menschen ein Wort gewechselt hatte, ein guter Tag gewesen war. Eine Zeit, in der seine Welt auf die Größe eines Hauses und einer kleinen, autofreien, kaum bewohnten Insel im Südchinesischen Meer geschrumpft war. Vielleicht war ein Mensch, der sich so zurückziehen musste, der in der Vergangenheit und von Erinnerungen lebte, der nichts und niemanden auf der Welt mehr liebte als einen Toten, vielleicht war so ein Mensch in größerer Not, als Paul es wahrhaben wollte.
Liebeshungrig. Hungrig nach Liebe. Es war die Bedürftigkeit, die in dem Wort mitklang, die ihm nicht gefiel, ohne dass er genau hätte sagen können, warum. Bedürftig sind wir alle, wollte er laut einwenden, und ahnte Christines Antwort. Manche mehr, andere weniger.
Und ich?
Mehr. Mehrmehrmehr.
Er sagte nichts und küsste sie auf die Stirn. Er fuhr mit seinen langen Fingern ihren Nacken entlang und massierte mit sanften rhythmischen Bewegungen ihren Kopf. Sie schloss die Augen, und er strich ihr über das Gesicht und den Mund. Er spürte, wie seine Hände die Lust in ihr weckten, hörte, wie ihr Atem schneller wurde. Nicht viel, aber genug, um ihm zu zeigen, dass es dabei nicht bleiben würde. Er küsste sie auf den Hals, und sie flüsterte, sie wolle ihn lieben. Hier, auf der Terrasse. Jetzt.
Er hörte die Zikaden schnarren, hörte lautes Vogelgezwitscher und aus der Ferne die Stimmen der Nachbarn und wollte einwenden, dass jemand sie überraschen könnte, und ob sie nicht lieber hinauf in sein Schlafzimmer gehen sollten. Aber die Leidenschaft, mit der sie ihn küsste und festhielt, mit der sie ihm zeigte, wie sehr sie ihn begehrte, hier, jetzt, ließ ihn schweigen.
Sie zog einen der Gartenstühle heran, drückte seinen Körper sanft, aber bestimmt auf den Stuhl und setzte sich auf ihn.
Sie trug einen Rock und verlor keine Zeit. Sie bestimmte den Rhythmus und liebte ihn heftiger und wilder, als er es von ihr kannte. Am Ende stieß sie einen kurzen Schrei aus, laut, aber nicht hell und erleichtert wie sonst, sondern dunkel und tief, mit Macht herausgepresst, fast verzweifelt. Als wäre es das letzte Mal.
Sie hielten sich lange fest, klammernd, schweigend, horchend, wie sich ihr Atem allmählich beruhigte.
Bevor sie aufstand, nahm sie seinen Kopf in ihre Hände und schaute ihm in die Augen. Ob er ahne, wie sehr sie ihn liebe? Was er ihr bedeute? Er nickte etwas überrascht und musste versprechen, das nie zu vergessen.
Er nickte wieder, zu erschöpft, um Fragen zu stellen.
Als er sie später zur Fähre brachte, war sie auf eine beunruhigende Weise schweigsam. Es war ein warmer, feuchter tropischer Abend, sie gingen den Hügel nach Yung Shue Wan hinunter, in den Büschen um sie herum zirpte, fiepte und zischelte es, und er wollte wissen, worüber sie nachdachte.
Nichts Bestimmtes, behauptete sie.
Ob alles in Ordnung sei?
Sie überging seine Frage.
Die letzten Meter mussten sie laufen. Christine durfte die Fähre nicht verpassen, sie hatte ihrem Sohn und ihrer Mutter versprochen, spätestens zum Abendessen zu Hause zu sein.
Er hasste die Rennerei. Die nächste Fähre fuhr in vierzig Minuten, und Paul empfand es als unerträgliche Zumutung, sich von einem Fahrplan zur Hast zwingen zu lassen. Es geschah ihm häufiger, dass er, spät kommend, auf dem Kai gemessenen Schrittes Richtung Anlegestelle ging, während andere Passagiere, angetrieben durch das Klingeln, welches das langsame Schließen der Tore ankündigte, ihn in einem wilden Spurt schnaufend überholten und er am Ende als Einziger das Schiff verpasste. Statt zu fluchen setzte er sich dann in aller Ruhe auf eine kleine Bank, die im Schatten der Pinien vor der Bücherhalle stand, und schaute aufs Wasser. Oder hockte sich auf einen Polder und beobachtete die Gischt unter ihm. Schon als Kind hatte er es geliebt, spritzenden Tropfen mit den Augen zu folgen, es faszinierte ihn zu sehen, wie sie sich aus dem Wasser lösten, für wenige Sekunden eine Form annahmen und durch die Luft wirbelten, um sogleich wieder für immer in der Weite des Ozeans zu verschwinden. Menschen waren wie diese kleinen Tropfen, hatte er sich damals gedacht, sie tauchten auf und verschwanden wieder in jener Unendlichkeit, aus der sie kamen. Sie hörten zu existieren auf und blieben doch Teil eines Ganzen. Irgendwie hatte dieser Gedanke für den Zehnjährigen etwas Tröstendes gehabt. Seinem Vater gefiel dieses Bild, allerdings fand er, dass Menschen endeten wie Tropfen, die auf eine heiße Platte fielen: Mit einem kurzen Zischen lösten sie sich in nichts auf. Ein Vergleich, den der junge Paul alles andere als tröstlich empfand.
Er sah gern den Wellen zu, wenn sie mit den Fischerbooten spielten und auf die Steine vor ihm schwappten. Er hörte die Stimmen des Meeres. Manchmal passierte es, dass er auf diese Weise selbst die folgende Fähre verträumte.
Du hast auch keinen Sohn, der auf dich wartet, hatte Christine gesagt, als er einmal davon erzählte.
Nein, den hatte er nicht. Sein Sohn war tot.
Sie hatte sich sofort entschuldigt. Sie habe nur sagen wollen, dass er keine familiären oder beruflichen Verpflichtungen kenne, keinen Chef, keine Geschäftspartner, die auf Pünktlichkeit bestanden, niemanden, der auf ihn wartete, außer ihr selbst. Und sie würde ihm eine Verspätung im Zweifelsfall nachsehen.
Auch da hatte sie Recht. Obschon, wie er anmerkte, ihre Nachsicht, was Unpünktlichkeit betraf, von ihm bisher nicht in Anspruch genommen worden war. Wenn sie verabredet waren, wollte er die Fähre unter keinen Umständen verpassen und kam fünfzehn, zwanzig Minuten früher an den Anleger als nötig. Freiwilliges Warten machte ihm nichts aus. Für ihn war diese Zeit ein Geschenk an sich selbst.
Christine verabschiedete sich in aller Eile mit einem flüchtigen Kuss. Er sah, wie sie über die Gangway lief, ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen, wenige Sekunden später war sie im Bauch des Schiffes verschwunden. Er blieb auf dem Pier stehen, winkte in die Dunkelheit und blickte der Fähre nach, bis sie hinter der Inselspitze nicht mehr zu sehen war.
Es war ein dunkler Abend, das Meer lag tiefschwarz vor ihm, in der Ferne funkelten die Lichter von Cheung Chau und Lantau. Eine Dschunke mit Sonntagsausflüglern schipperte dicht an Lamma vorbei, er konnte das monotone Stampfen des Dieselmotors hören, ausgelassenes Kindergeschrei und die mahnenden Worte eines Erwachsenen. Von der Uferpromenade in Yung Shue Wan drangen Stimmen und Gelächter zu ihm herüber, er schlenderte die Mole entlang, genoss die milde, warmfeuchte Luft, sanft wie Seide, setzte sich in die Green Cottage direkt ans Wasser und bestellte einen frisch gepressten Apfel-Karotten-Ingwer-Saft. Niemand außer ihm war allein unterwegs. Er vermisste Christine. Schon jetzt, obwohl ihre Fähre gerade erst in den Hongkonger Hafen einlief.
Vor vier Wochen hatten sie an dieser Stelle gesessen, auf die dümpelnden Fischerboote geblickt, die roten Lampions, die sich im Wasser spiegelten und zum ersten Mal darüber nachgedacht, ob sie zu ihm ziehen solle. Ihr Sohn könnte die Fähre zur Schule nehmen, sie eine etwas spätere ins Büro. Platz gab es im Haus genug. Zumindest räumlich. Würde er es ertragen, ein anderes Kind in Justins Zimmer zu sehen? Die Idee war so ungeheuerlich wie verlockend für ihn. Der Versuch...


Sendker, Jan-Philipp
Jan-Philipp Sendker, geboren in Hamburg, war viele Jahre Amerika- und Asienkorrespondent des Stern. Nach einem weiteren Amerika-Aufenthalt kehrte er nach Deutschland zurück. Er lebt mit seiner Familie in Potsdam. Bei Blessing erschien 2000 seine eindringliche Porträtsammlung Risse in der Großen Mauer. Nach dem Roman-Bestseller Das Herzenhören (2002) folgten Das Flüstern der Schatten (2007), Drachenspiele (2009), Herzenstimmen (2012), Am anderen Ende der Nacht (2016), Das Geheimnis des alten Mönches (2017), Das Gedächtnis des Herzens (2019), Die Rebellin und der Dieb (2021) und Akikos stilles Glück (2024). Seine Romane sind in mehr als 35 Sprachen übersetzt. Mit weltweit über 4 Millionen verkauften Büchern ist er einer der aktuell erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren.



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