Service de Presse Suisse Viceversa 8
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-85869-629-8
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Jahrbuch der Schweizer Literaturen »Berlin - mein Ding«
E-Book, Deutsch, 309 Seiten
ISBN: 978-3-85869-629-8
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Viceversa Literatur ist das Jahrbuch der Schweizer Literaturen und erscheint seit Mai 2007 einmal im Jahr in drei verschiedenen Ausgaben: auf Deutsch im Rotpunktverlag (Zürich), auf Französisch bei den Editions d'en bas (Lausanne) und auf Italienisch bei den Edizioni Casagrande (Bellinzona). Viceversa, hrsg. vom Service de Presse Suisse (SPS), entstand in der Nachfolge der Zeitschrift Feuxcroisés und hat zum Ziel, das literarische Schaffen der Schweiz über die Sprachgrenzen hinaus bekannt zu machen und den Kulturaustausch zu fördern. Neu hat Viceversa eine dreisprachige Online-Schwester: www.viceversaliteratur.ch.
Autoren/Hrsg.
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Berlin als Freigehege und Kunstraum Gespräch mit Christoph Geiser
Von Christa Baumberger
Wer nach Wind hascht, versucht etwas zu fassen, was nicht zu fassen ist. Ist das »Haschen nach Wind« ein Sinnbild Ihres literarischen Schaffens?
Ich verbinde damit vor allem das Vanitas-Motiv, mit dem ich mich seit einigen Jahren stark beschäftige. Wie lässt sich das Vergängliche festhalten? Man muss den Augenblick nutzen und immer wieder versuchen, ihn festzuhalten.
Den Augenblick festhalten – die Malerei vermag dies noch unmittelbarer als die Literatur. Im Text kommt Ihre große Affinität für die bildende Kunst deutlich zum Ausdruck, gleich drei Werke werden evoziert ...
Ja, das ist richtig. Meine Mutter war übrigens Malerin, ich hingegen kann auch heute noch nicht einmal zeichnen. Deshalb wuchs in mir wohl der Wunsch, mich den Bildern mittels Sprache anzunähern. Die drei Gemälde von Caravaggio, Caspar David Friedrich und Adolph Menzel enthalten ein ganzes Programm. Sie sind symptomatisch für bestimmte Stationen meiner Biografie, für Themen, die mich umgetrieben haben und mit denen ich mich in der Folge auch literarisch befasste. Sie alle sind untrennbar mit meinen verschiedenen Berlin-Erfahrungen verknüpft. Von den drei Malern ist Caravaggio, von dem das Gemälde (1601/1602) stammt, zweifellos der Meister des dramatischen Augenblicks. Ihm ist es gelungen, den Höhepunkt einer Geschichte in seiner unmittelbaren Lebendigkeit im Bild zu bannen.
In (2008), dem dritten Band Ihrer Trilogie des Scheiterns, beschreiben Sie, dass der Amor von Caravaggio Sie bei einem Museumsbesuch gleichsam angesprungen habe. War die Überraschung tatsächlich so groß, war Ihnen das Gemälde nicht bereits von Abbildungen bekannt?
Alle drei Werke sind Zufallsfunde. Denn auch wenn ich ein humanistisches Gymnasium besucht habe, waren meine kunsthistorischen Kenntnisse lange bescheiden. Als junger Autor musste ich mich zuerst von Bildungsgut befreien, um zur Realität zu kommen. Erst 1983 in Berlin erwachte das Bedürfnis, mir wieder Wissen anzueignen, in der Not meiner damaligen Situation. So begann ich eher aus Verzweiflung und Verlegenheit mit Museumsbesuchen, und in der Gemäldegalerie kam es dann zur Begegnung mit dem von Caravaggio. Gleich beim ersten Anblick erschreckte mich, wie Caravaggios splitternackter Knabe den Kunstraum sprengt. Amor scheint direkt aus dem Bild herauszusteigen, dem Betrachter entgegen. Auf der anderen Seite glaubt der Betrachter, er könne sich ins Bild hineinbegeben. Diese Verlebendigung von Kunst und dieser Ausbruch aus dem Kunstraum provozierten mich sofort.
Ich hatte das Glück, den Restaurator des Gemäldes kennenzulernen. So konnte ich es im Atelier besichtigen und ohne Goldrahmen war die Wirkung noch viel stärker. »Zu dem kannst du nicht hineinsteigen«, sagte der Restaurator. Natürlich bleibt die Verlebendigung eine Illusion, ein Wunschtraum. Und doch fiel ich in diesem Moment vom Realitäts- in den Kunstraum. In den Jahren davor hatte ich der Autobiografie entlanggeschrieben. Die Stoffe kamen aus der eigenen Wirklichkeit. Durch die Ereignisse in Berlin kam mir die Wirklichkeit abhanden. Nach diesem Schlüsselerlebnis begann ich, mich mit Kunst auseinanderzusetzen, mit Kunst als einer anderen Wirklichkeit. Denn auch das gehört zu Berlin. Diese Stadt hat immer etwas Unwirkliches, und ganz besonders in den 1980er-Jahren, als sie noch so abgeschottet war.
Im Essayband (2009) sprechen Sie von 1983 als dem »Stich-Jahr«: »dem Ersten Europäischen Aids-Jahr, meinem ersten Berlin-Jahr, meinem großen Flucht-Jahr«. Berlin 1983 – was ist da geschehen?
Mit einem DAAD-Stipendium konnte ich 1983 ein Jahr in Westberlin verbringen, und ich blieb aus eigenen Mitteln ein weiteres Jahr. Zum ersten Mal lebte ich längere Zeit im Ausland. Ich wohnte in der Wohnung von Rebecca Horn, ohne zu wissen, wer sie ist. Eine kahle Wohnung mit einem zerschossenen Spiegel, an der Eisenacher Straße Ecke Fugger-/Motzstraße. Berlin hatte familiär immer eine wichtige Rolle gespielt. Mein Großvater, Hans Frölicher, war von 1938 bis 1945 Schweizer Botschafter in Berlin gewesen.
Hans Frölicher hat doch in Berlin während des Zweiten Weltkriegs eine umstrittene Rolle gespielt, indem er gute Beziehungen zum Naziregime pflegte? Thomas Hürlimann ließ sich von ihm zu seinem Theaterstück (1991) inspirieren ...
Ja, doch das geriet für mich jetzt in den Hintergrund.
Berlin war in den 1980er-Jahren eine Stadt im Ausnahmezustand, andererseits aber auch eine Stadt, in der Homosexualität nicht nur toleriert wurde, sondern etwas ganz Normales war. In diesem Punkt war es für mich eine Extremerfahrung. Es war eine Situation von Freiheit, in dem Augenblick, als sie vom Tod bedroht wurde. Ich erinnere mich genau an den -Artikel im Juni 1983, in dem von einer Seuche aus San Francisco berichtet wurde, der Begriff AIDS war ganz neu, den Erreger kannte man noch nicht ... Die Leute starben aber zu diesem Zeitpunkt bereits wie die Fliegen. So wurde mein Coming-out überlagert von einer Todeserfahrung.
Wie haben Sie das Paradox der eingemauerten Stadt erlebt? Sie erwähnen es in Ihrem Text bereits im ersten Satz.
Westberlin war ein Freigehege oder man könnte es auch als Phänomen des Ausgesparten bezeichnen. Das Westberliner Territorium war auf Ostberliner Karten ein weißer Fleck. Und interessanterweise war es für mich tatsächlich ein weißer Fleck, denn ich kannte vor 1983 nur Ostberlin. Meine Bücher erschienen in Schweizer Verlagen – zunächst bei Lenos, dann bei Benziger – und zeitlich versetzt in der DDR beim Ostberliner Verlag Volk und Welt: (1975/1977), (1978/1979), (1980/1983).
Interessant waren in diesen zwei Jahren die unterschiedlichen Reaktionen auf Lesungen in West- und Ostberlin sowie Potsdam und Leipzig. In Westberlin war egal, was man sagt, man galt einfach als gutbürgerlicher Schweizer Autor. In Ostberlin hingegen bekam jedes Wort eine eigene Brisanz. So war Homosexualität in der DDR ein heikles Thema. Nach langem Zögern meines DDR-Verlags erschien auch (1984/1986) noch vor der Wende. Der Verleger wollte damit Bahn brechen für die Homosexualität als Thema in der Literatur. Dies war vonseiten eines Schweizer Autors einfacher als von einem DDR- oder gar westdeutschen Autor.
Bedeutete der Aufenthalt in Berlin 1983 bis 1985 vor allem eine biografische oder auch eine ästhetische Zäsur?
Es war in jeder Hinsicht ein Bruch. Als ich in Berlin ankam, befand ich mich in einer Schaffenskrise, der Roman konnte aus verlagstechnischen und thematischen Gründen auch in der Schweiz noch nicht erscheinen, es war eine völlig blockierte Situation. Zugleich kam eine erste Schaffensphase zum Abschluss: Meine frühen Bücher waren deutlich autobiografisch geprägt, sie behandeln schweizerisch-bürgerliche Themen. Schon in bahnte sich ein neuer Stil an. Und mit den folgenden Texten erschloss ich mir neue literarische Strategien und Themen: die Kerkerthematik mit ihrer Dialektik von Eingeschlossensein und Ausbruch, sexuelle Obsessionen, Projektion eigener Themen auf historische Figuren. Die autobiografische Realität genügte nicht mehr. Wie der durchgedrehte Speicher eines Computers begann ich ein frivoles Spiel mit unendlich vielen Allusionen, Zitaten und Trümmern von Bildungsgut.
»Ein Haschen nach Wind« hebt an mit der Flucht aus dem »Seuchengebiet« in den Kunstraum. Erschien Ihnen Caravaggios zu Beginn der 1980er-Jahre als eine Verkörperung der »reinen« und ungefährlichen Liebe?
Dieses Gemälde ist die pure Provokation. Ich erlebte solche Amor-Knaben in der Realität. Sie boten sich mir auf den Straßen Berlins an. Obszön. Und dieses Gemälde hier war der blanke Hohn: im Museum – zu einem Zeitpunkt, als in den Straßen der Tod allgegenwärtig war. In dieser Zeit begann ich einen Text mit dem Titel »Im Freigehege«. Ein Berlin-Text, der unvollendet geblieben ist und von dem damals nur ein kleines Fragment in der NZZ publiziert wurde. Michael Schläfli hat das Konvolut viel später wieder im Schweizerischen Literaturarchiv ausgegraben. Ein Kondensat des Stoffkomplexes bildete mal den Anfang meines Caravaggio-Romans (1987), fiel dann aber auch wieder raus. Die Begegnung mit dem Gemälde blieb davon übrig, als das für mich letzten Endes Entscheidende. Ich beschloss: Das wird mein neuer Roman. So reiste ich dann auf den Spuren Caravaggios bis nach Neapel.
Das zweite Gemälde im Text stammt von Caspar David Friedrich: (1808–1810). Die sinnliche Präsenz des Amor weicht hier einer ungeheuren Weite, in der der Mensch fast körperlos erscheint.
Genau. Auch dies ist ein...