E-Book, Deutsch, Band 2, 464 Seiten
Reihe: The Girls I've Been
Sharpe The Girl in Question
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-646-94005-3
Verlag: Carlsen Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Du glaubst, du kriegst mich? Falsch gedacht. | Die überraschende Fortsetzung des Ausnahme-Thrillers "The Girls I've Been"
E-Book, Deutsch, Band 2, 464 Seiten
Reihe: The Girls I've Been
ISBN: 978-3-646-94005-3
Verlag: Carlsen Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tess Sharpe wurde in einer Berghütte geboren und wuchs mit ihrer Punkrocker-Mutter im ländlichen Kalifornien auf. Heute lebt sie irgendwo in den Backwoods zusammen mit einem Hunderudel und einer wachsenden Kolonie Katzen, ist Herausgeberin einer Anthologie und hat mehrere preisgekrönte Bücher für Kinder, Jugendliche und Erwachsene geschrieben.
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1
Siebter Tag. Die Hütte
Ich bin an den Stuhl gefesselt. Nicht die beste Position, um mich zu verteidigen. Meine Finger werden langsam taub. So geht das nicht. Ich zapple herum, versuche die Durchblutung wieder in Gang zu kriegen.
Die Hütte ist nicht unbedingt eine Bruchbude, aber doch ziemlich muffig und widerlich. In einer Ecke liegt eine tote Maus und nirgends gibt es ein offenes Fenster, von einer Klimaanlage ganz zu schweigen. Also habe ich meine Klamotten vollkommen durchgeschwitzt, seit mich ihr Handlanger hier festgesetzt hat.
Ihr geht es vor allem darum, mich mental schwitzen zu lassen. Aber Leute körperlich unter Stress zu setzen, ist eine bewährte Foltermethode. Sie schreckt vor nichts zurück, das weiß ich sicher.
Mein Blick huscht zu dem bestickten Halstuch auf dem Beistelltisch. Es ist mit Blut verschmiert. Ich atme tief durch und mache mir klar, warum ich hier bin.
Weil du zu impulsiv warst. Du hast nicht mal einen Plan gemacht. Du bist einfach losgestürmt!
Aber das heißt nicht, dass ich nicht jetzt noch einen Plan machen kann.
Ich bewege mich, versuche den Strick zum Nachgeben zu bringen. Die Stuhllehne wackelt und knarrt, wenn ich dagegendrücke. Ich drücke fester und die Verbindungsstrebe, an der ich festhänge, lockert sich noch mehr. Dieser Stuhl ist wirklich ein klappriges Ding.
Ich kann mich losmachen. Ich muss mich nur fokussieren.
Tiefe Atemzüge. Die Aufgabe in Einzelschritte zerlegen, so wie ich es gelernt habe.
Schritt 1: Werd den Stuhl los.
Die Tür scharrt über den Boden. Ich erstarre. Klack, klack, klack. High Heels statt Stiefel. Das ist mir schon aufgefallen, als sie mich von ihrem Handlanger in die Hütte hat bringen lassen. Anscheinend ist sie bereit, sich hier draußen die Füße zu brechen. Wie dumm von ihr.
Sie setzt sich in den Sessel mir gegenüber, der Armlehnen hat und viel stabiler wirkt. An den hätte sie mich fesseln lassen müssen.
Ihre Backe ist immer noch rot von dem Schlag, den ich ihr versetzt habe. In ihrem Schoß liegt eine Mappe. Papierkram achtzig Meilen weit durch den Wald zu schleppen, ist typisch für sie, also bin ich nicht überrascht. Eher angewidert.
»Ich bin froh zu sehen, dass du o–«
Das -kay bleibt ihr im Hals stecken, als sie den Kopf hebt und mich richtig anschaut. Sie sieht den Dreck und Schweiß vieler Tage. Das getrocknete Blut – teils von mir, teils nicht. Meinen Blick, der sagt: Ich bring dich um.
Wenn sie mir nicht gibt, was ich will, werde ich das vielleicht wirklich tun. Warum sonst hätte ich mich von ihr festsetzen lassen sollen?
Sie, das ist Agent Marjorie North vom FBI. An dieser Stelle könnte ich jetzt so einen Witz anbringen, wie inkompetent das FBI ist, aber nach allem, was passiert ist, wäre das zu billig.
»Ich versuche, schnell zu machen«, redet North nach einer Weile weiter. »Dann können wir dich hier wegschaffen und versorgen lassen.«
»Ich gehe nirgends hin.«
Sie blitzt mich ärgerlich an. Ein herablassender Blick. Sie weiß es natürlich besser, sie ist hier die Autorität. »Du musst medizinisch versorgt werden.«
Nur noch ein bisschen mehr Druck auf die Lehne. Ich spüre, wie sich die Strebe aus der Verankerung löst, in der sie feststeckt.
Meine Augen wandern wieder zurück zu dem Halstuch.
Schritt 2: Stell die Frage.
»Wo ist sie, Agent North?«
North hat immerhin Anstand genug, nicht so zu tun, als wüsste sie nicht, von wem ich rede.
»Du hast meine Fragen zu beantworten, nicht umgekehrt.«
»Aber so wird das nicht laufen.«
Sie hebt die Augenbrauen, sarkastisch wie nur was. »Du bist keine Minderjährige mehr. Dir ist ja wohl klar, was das heißt.«
»Dass ich auf eine FBI-Black-Site verschleppt werde? Oder gibts die bloß bei der CIA?«
Ich drücke noch mal fest gegen die Lehne. Die Strebe lockert sich noch mehr, dann noch ein kräftiger Stoß und ich habe es geschafft.
Ich bin frei! Na ja, halbwegs. Meine Hände sind immer noch hinter dem Rücken zusammengebunden, aber am Stuhl hänge ich nicht mehr fest.
Schritt 3: Weg mit den Fesseln.
Ich klemme die Beine zusammen und krümme mich wie vor Schmerzen – was nicht weiter schwer ist, denn meine wundgescheuerten Hände tun wirklich weh. Jedenfalls kann ich auf die Art verbergen, dass ich die Handgelenke in den Fesseln verdrehe. Nachdem die Strebe weg ist, sitzen sie lange nicht mehr so straff, wie sie sollten. Noch ein paar Drehungen und … ja, geschafft. Das reicht. Wenn die Zeit reif ist, kann ich mich aus den Fesseln befreien.
Gleich ist es so weit. Ich muss sie nur ein bisschen näher locken.
»Hey«, sagt sie, als ich mich vorbeuge und aufstöhne. »Hör auf damit.«
»Ich hab Schmerzen. Wie soll ich da mit irgendwas aufhören?«, fahre ich sie an.
»Ihr dummen Kids«, brummelt sie.
»Gings nicht eben noch darum, dass ich volljährig bin?« Ich zerre die Fessel von meinem rechten Handgelenk. Ich muss North nur dazu bringen, dass sie aufsteht und auf mich zugeht, das ist alles. Aber auf einmal erscheint mir das wie eine Riesenaufgabe.
Soll ich sie weiter nerven, damit sie näher kommt? Oder sie richtig in Rage versetzen? Keine Ahnung. Ich weiß einfach nicht, auf welche Art ich sie am besten erwische.
»Wenn auch nur einer von euch daran interessiert wäre, das Ganze hier zu überleben, wärt ihr zu uns gekommen.«
»Weil beim letzten Mal, als das FBI mitgemischt hat, alles so super gelaufen ist, was?«, erwidere ich schneidend.
Darauf kann sie nichts antworten, oder? Aber in ihren Augen flackert Wut auf.
Anscheinend ist das also meine Strategie: Ich werde dafür sorgen, dass sie so richtig angepisst ist, damit sie auf mich losgeht und ich weitermachen kann mit …
Schritt 4: Schnapp dir Agent North.
»Du hast keine Ahnung, was du da redest«, knurrt sie.
Oh, das ist definitiv die richtige Strategie. Sie hat mir mehr oder weniger ihr gebrochenes Herz auf dem Silbertablett serviert.
»Ich hab eindeutig mehr Ahnung als Sie«, erkläre ich. »Schließlich bin ich diejenige, die Zeit mit Lee verbracht hat.« Jetzt hole ich zum vernichtenden Schlag aus, so wie ich es gelernt habe. Ziel auf die Stelle, wo es am meisten wehtut. Dann reiß ihnen den Boden unter den Füßen weg. »Aber Sie nennen Lee ja anders, stimmts? Sie verwenden eins von den Pseudonymen.«
»Ich benutze ihren echten Namen.« Ihre Worte sind ein abwehrendes Fauchen, in dem sich alle möglichen widersprüchlichen Gefühle mischen. Und es funktioniert, wow, ich habe es geschafft! Sie springt auf. Sie kommt auf mich zu! Ich muss bereit sein. Das hier darf ich nicht verbocken.
Gewalt habe ich nie gemocht. Aber irgendwann musste ich feststellen, dass ich wirklich gut darin bin. In letzter Zeit habe ich viele Dinge entdeckt. Wenn ein Mädchen zu sehr unter Druck gerät, passiert das eben.
Und der Druck von letzter Woche war Wahnsinn.
Als sie dicht bei mir ist, stürze ich mich auf sie, einfach so. Kein Gedanke. Kein Zögern. Denn auch das habe ich gelernt: Wenn du wirklich wild bist, verlierst du jede Angst. Ungezähmt sein, im Dreck versinken, jede Ordnung hinter mir lassen, das fügt sich jetzt ganz geschmeidig, ganz ohne Mühe. Ich fürchte, es gefällt mir sogar.
Der Überraschungseffekt funktioniert – sie taumelt erschrocken zurück, und dann passiert der Moment meines Lebens: Sie stolpert über ihre albernen Absätze. Sie fällt nach hinten, und weil sie mit den Papieren in den Händen den Sturz nicht abfangen kann, knallt ihr Kopf voll auf den Holzboden. Atemlos und benommen, wie sie ist, kommt sie nicht schnell genug hoch. Ich habe bloß eine Sekunde für meine Entscheidung, aber ich treffe sie schnell. Den Strick, mit dem ich gefesselt war, halte ich in der Hand. Ich werfe mich auf sie, presse ihr die Knie in den Bauch, wo es richtig wehtut, dann schlinge ich ihr den Strick um den Hals und ziehe zu.
Und statt nach ihrer Waffe zu greifen, setzt sie ihre ganze Energie dafür ein, die Finger unter die Fessel zu kriegen. Ihr Gesicht läuft rot an, während ich mit aller Kraft an dem Strick ziehe. Meine Arme zittern, in meinem Kreuzbein pocht Schmerz. Als ich loslasse, ringt sie nach Luft, und bevor sie mich daran hindern kann, habe ich mir schon ihre Knarre und das Messer an ihrem Fußgelenk geschnappt.
North gehört inzwischen zu den Papiertigern. Sie managt ein Office, statt Jagd auf Verbrecher zu machen. Wobei das auch früher nicht ihr großes Ding war. Jedenfalls macht sie selbst keine Einsätze mehr, das ist der Punkt. Sie ist nicht mehr in Form.
North liegt auf dem Boden und würgt, das Gesicht hochrot und geschwollen, die Augen blutunterlaufen.
»Herrgott, bist du schnell!«, keucht sie.
»Das liegt an Lees Training«, spotte ich. »Sie kennen sie wirklich nicht gut, was?«
Sie will mich packen, aber stattdessen spuckt sie Blut. Sie muss sich auf die Zunge gebissen haben, als sie zu Boden gegangen ist. Da ist sie wieder, diese Wut. Der Kick, dass ich ihren wunden Punkt so präzise erwischt habe, berauscht mich.
Ich stecke die Waffe hinten in meine Jeans, dann fessele ich sie mit dem gleichen Strick, mit dem ich festgebunden war. Wobei meine Knoten nicht so schlampig sind wie die von ihrem Handlanger. Ich mache sie so, wie Wes es mir beigebracht...