E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Shepherd Der mit den Toten spricht
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7453-0696-5
Verlag: riva
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Der bekannteste britische Pathologe erzählt von seinen spannendsten Fällen
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-7453-0696-5
Verlag: riva
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Dr. Richard Shepherd promovierte 1977 an der medizinischen Fakultät des St George's Hospital in London. 1987 schloss er dort seine Ausbildung zum Gerichtsmediziner ab. Als einer der renommiertesten Pathologen Englands hat er Tausende von forensischen Untersuchungen durchgeführt. Seine fachliche Expertise ist weltweit gefragt.
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Der Amoklauf von Hungerford war mein erster großer Fall als Rechtsmediziner gewesen und ereignete sich, als ich am Anfang meiner beruflichen Laufbahn stand. Ich war jung, neugierig und hatte eine lange Ausbildung hinter mir. Jahrelange Spezialausbildung, die weit über das übliche Studium der Anatomie und Pathologie hinausging. Ich muss gestehen, dass ich so viel Zeit damit verbracht hatte, unter dem Mikroskop winzige Zellen auf Objektträgern hinsichtlich ihrer Unterschiede zu betrachten, dass ich vor Langeweile kurz davor war aufzugeben. Um mich selbst wieder zu motivieren, schlich ich mich oft in das Büro meines forensischen Mentors, Dr. Rufus Crompton. Er ließ mich seine Akten lesen und die Fotos seiner Fälle anschauen. Manchmal saß ich dort, vertieft, bis in den späten Abend. Und wenn ich dann ging, wusste ich wieder, warum ich all das eigentlich machte.
Kurz nach Abschluss meiner Facharztausbildung bekam ich eine Stelle am Guy’s Hospital in der Abteilung für Forensische Medizin, unter der Leitung von Dr. Iain West, des damals bekanntesten Rechtsmediziners Großbritanniens.
Damals, in den späten 1980er-Jahren, stellte man sich Rechtsmediziner als trinkfeste, kein Blatt vor den Mund nehmende Alphamänner an der Seite von leitenden Police Officers vor. Sie galten als diejenigen, die notwendige Arbeiten durchführten, vor denen andere zurückschreckten, und die sich daher berechtigt fühlten, entsprechend herumzustolzieren. Iain war einer von ihnen. Er war ein charismatischer Mann, ein ausgezeichneter Forensiker und ein Bulle im Zeugenstand, der vor einem Kräftemessen mit dem Anwalt nicht zurückschreckte. Er genehmigte sich gern einen, beeindruckte die Frauen und konnte mit einer guten Geschichte eine ganze Kneipe unterhalten. Trotz gelegentlicher Schüchternheit hielt ich mich eigentlich für sozial kompetent, bis ich mich plötzlich in der Rolle von Iains linkischem jüngerem Bruder wiederfand. Sein Licht erstrahlte in den Pubs von ganz London, und ich stand zusammen mit dem bewundernden Publikum im Schatten, wagte es nur selten, selbst einen Witz beizusteuern. Vielleicht lag das auch nur daran, dass mir kein guter Witz einfiel, oder frühestens eine Stunde später.
Iain war Leiter der Abteilung, und es war ganz klar, dass er der Boss war. Der Amoklauf von Hungerford war eine nationale Katastrophe und eine persönliche Tragödie für die in dieser Stadt lebenden Menschen, vor allem für die unmittelbar betroffenen Familien. Unter normalen Umständen wäre Iain zum Tatort gefahren. Aber es war Mitte August, und er war gerade im Urlaub, also übernahm ich seine Arbeit.
Ich fuhr gerade nach Hause, als mein Pager sich mit einem Piepton meldete. Heute kann man sich kaum vorstellen, dass wir in einer Welt ohne Handys lebten, aber 1987 musste man sich mit einem einfachen Piepton begnügen, der einem bedeutete, man solle sich schnellstmöglich telefonisch zurückmelden. Ich schaltete das Radio ein für den Fall, dass der Piepton mit einer aktuellen Meldung zu tun hätte. Und die gab es allerdings.
Ein bewaffneter Mann lief Amok in der Nähe von Hungerford, einer Kleinstadt in der Grafschaft Berkshire, von der ich noch nie gehört hatte. Begonnen hatte er seinen Amoklauf im Savernake Forest, war dann zum Stadtzentrum von Hungerford vorgedrungen und hatte sich mittlerweile in einer Schule verschanzt. Die Polizei hatte das Gebäude umstellt und versuchte nun, ihn zum Aufgeben zu bewegen. Die Reporter nahmen an, dass er mindestens zehn Menschen getötet hatte, aber da über die ganze Stadt eine Ausgangssperre verhängt worden war, gab es keine genauen Zahlen.
Ich kam zu Hause an. Ein hübsches Häuschen in Surrey, eine glückliche Ehe, eine Nanny, zwei Kleinkinder, die im Garten spielten: Der Kontrast zu den Mordschauplätzen, die ich aufsuchte, hätte nicht größer sein können. Ich wusste, dass meine Frau, Jen, vermutlich nicht zu Hause, sondern noch in der Uni sein würde. Ich betrat das Haus, verabschiedete die Nanny und eilte sofort ans Telefon. Bei Telefonaten mit der Polizei und dem Büro des Coroners erfuhr ich den aktuellen Stand der Dinge und dass ich noch an diesem Abend nach Hungerford müsse. Ich versprach, mich sofort auf den Weg zu machen, sobald meine Frau zu Hause eintreffen würde.
Dann schaltete ich das Radio ein und hörte mir die aktuellen Meldungen an, während ich für die Kinder Tee kochte. Anschließend badete ich sie, las ihnen eine Geschichte vor und legte sie ins Bett.
»Schlaft schön«, sagte ich wie jeden Abend zu ihnen.
Ich war der fürsorgliche Vater, der sich um seine Kinder kümmert. Und gleichzeitig war ich der Rechtsmediziner, der so schnell wie möglich losfahren wollte, um zu sehen, was im bisher größten Fall seiner beruflichen Laufbahn vor sich ging. Als Jen hereinkam, schlüpfte ich sofort in die Rolle des Rechtsmediziners. Ich gab ihr einen Abschiedskuss und rannte los.
Die Polizei hatte mich angewiesen, die M4 an der Anschlussstelle 14 zu verlassen und an der Auffahrt auf meine Polizeieskorte zu warten. Wenige Augenblicke später hielt neben mir ein Polizeiwagen, und zwei grimmige Gesichter wandten sich mir zu.
Die Begrüßung sparten sie sich.
»Dr. Shepherd?«
Ich nickte.
»Folgen Sie uns.«
Natürlich hatte ich während der gesamten Fahrt Radio gehört und wusste bereits, dass der Amoklauf mit dem Tod des Schützen geendet hatte. Es handelte sich um den 27-jährigen Michael Ryan, der aus unersichtlichen Gründen mit zwei halbautomatischen Gewehren und einer Beretta durch Hungerford gezogen war, 16 Menschen erschossen und mindestens 13 weitere verletzt hatte. Nun war er tot, weil er entweder die Waffe gegen sich selbst gerichtet oder ein Scharfschütze ihn erschossen hatte. Die Reporter durften nicht an den Tatort, die Verletzten waren in Krankenhäuser gebracht worden, die Anwohner mussten in ihren Häusern bleiben, und die Stadt war der Polizei und den Toten überlassen worden.
Wir passierten eine Straßensperre, und ich folgte dem Polizeiwagen langsam durch gespenstisch leere Straßen. Die letzten Strahlen der sommerlichen Abendsonne schienen auf die Geisterstadt, tauchten sie in freundliches, warmes Licht. Die Überlebenden hielten sich in ihren Häusern auf und gingen auch nicht ans Fenster. Außer uns war kein einziges Auto unterwegs. Kein Hund bellte. Keine Katze streifte durch die Blumenbeete. Sogar die Vögel waren still.
Während wir durch die Außenbezirke kurvten, kamen wir an einem roten Renault vorbei, der quer am Fahrbahnrand stand. Über dem Lenkrad hing ein zusammengesackter Frauenkörper. Weiter vorn, als wir nach Southside kamen, glimmten auf der linken Seite die abgebrannten Überreste von Ryans Haus. Die Straße war blockiert. Ein Police Officer saß reglos in seinem Streifenwagen. Der Wagen war übersät mit Einschusslöchern. Ein blauer Toyota war mit ihm zusammengestoßen, und der Fahrer war ebenfalls tot.
Ein älterer Mann lag in einer Blutlache vor seinem Gartentor. Auf der Straße eine ältere Frau, tot. Gesicht nach unten. Anhand der Meldungen wusste ich, dass es sich dabei um Ryans Mutter handeln musste. Sie lag vor ihrem verbrannten Haus. Ein Stück weiter ein Mann auf dem Fußweg mit einer Hundeleine in der Hand. Das Nebeneinander von alltäglichen Straßen und dem völlig wahllosen Töten, das an diesem dämmernden Augustabend hier stattgefunden hatte, mutete offen gesagt surreal an. Etwas Vergleichbares war nie zuvor in Großbritannien passiert.
Wir hielten vor dem Polizeirevier. Auf das Zuschlagen meiner Autotür folgte das der Türen des Polizeiwagens. Danach legte sich bleierne Stille über Hungerford, nein, sie erstickte es vielmehr. Es sollte ein paar Jahre dauern, bis ich wieder eine solche Stille hörte, die Ruhe, die auf das Entsetzen folgt. Für gewöhnlich ist der Schauplatz eines Mordes geprägt vom Gewimmel der Lebenden – uniformierte Polizisten, Kriminalbeamte, Tatortermittler, Leute, die mit Formularen rascheln, Fotos schießen, Anrufe tätigen, die Tür bewachen. Aber das ungeheure Ausmaß des heutigen Tages schien Hungerford in eine Starre versetzt zu haben, die ich nur mit Leichenstarre vergleichen kann.
Das Polizeirevier wurde gerade renoviert: herausgebrochener Putz lag auf dem Boden, und Kabel hingen von der Decke. Man hat mich bestimmt begrüßt. Ich habe bestimmt Hände geschüttelt. Aber soweit ich mich erinnere, erfolgten die Formalitäten in absoluter Stille.
Kurz darauf war es draußen stockdunkel, und ich saß in einem Polizeiwagen, der mich zu der Schule brachte, in der sich Michael Ryan erst verschanzt und dann selbst gerichtet hatte.
Langsam glitten wir durch die stillen Straßen. Die Scheinwerfer erfassten ein beschädigtes Auto, der deutlich sichtbare Fahrer saß reglos hinter dem Steuer. Ich stieg aus, um mir die Sache genauer anzusehen. Der Lichtschein meiner Taschenlampe fuhr über die Füße, den Oberkörper, den Kopf. Nun, die Todesursache war eindeutig. Eine Schusswunde im Gesicht.
Beim nächsten Wagen hielten wir wieder an. Weitere folgten. Jedes Mal befanden sich die Schusswunden an anderen Körperstellen, manche Personen waren nur einmal, andere wieder und wieder getroffen worden.
Abschleppwagen warteten geduldig darauf, dass sie die ramponierten Autos abtransportieren durften, sobald die Polizei alles aufgenommen hatte und die Leichen herausgeholt worden waren. Ich wandte mich an den Polizisten, der mich fuhr. Meine Stimme durchschnitt die Stille wie zerspringendes Glas.
»Es ist nicht notwendig, dass ich mir weitere Leichen vor Ort anschaue. An der Todesursache besteht kein Zweifel, es genügt also, wenn ich alle später obduziere.«
»Sie müssen sich aber Ryan noch ansehen«,...