E-Book, Deutsch, 512 Seiten
Shirley HITZEFÜHLER REDUX
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7396-7941-9
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Science-Fiction-Erzählungen
E-Book, Deutsch, 512 Seiten
ISBN: 978-3-7396-7941-9
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Hitzefühler Redux - eine Neu-Ausgabe der erstmals im Jahre 1991 auf Deutsch erschienenen Kollektion Hitzefühler - versammelt 19 Science-Fiction-Erzählungen plus drei weitere, nicht in der Original-Zusammenstellung enthaltene Texte aus der Feder von Cyberpunk-Legende John Shirley, meisterhaft illustriert von Christian Dörge. Entstanden in den Jahren von 1975 bis 1989 reicht das Spektrum des Autors von geradezu klassischer Science Fiction (Zwei Fremde) über vom literarischen Surrealismus beeinflusste Texte (Die fast leeren Räume, Quill Tripstickler entkommt einer Braut) bis hin zu Texten, die den Cyberpunk - jene post-moderne SF-Literatur der (19)80er Jahre - nicht nur lesenswert machten sondern darüber hinaus mit Unsterblichkeit versahen (Der Schamane, Wölfe des Plateaus). Science-Fiction-Erzählungen, zwischen deren Zeilen man die düsteren Klänge der Proto-Punk-Musik erklingen hört; Science-Fiction-Erzählungen, geschrieben von einem wahren Meister seines Fachs. Abgerundet und ergänzt durch ein Vorwort von Stephen P. Brown und durch eine Einleitung von William Gibson. 'Die Stories in HITZEFÜHLER sind eine Offenbarung: Surrealismus mit der Waffe - und einem Lächeln...' - Richard Kadrey (Autor von Metrophage) 'John Shirleys Werk ist visuell, voll Energie und voller Esprit - diese Stories zu lesen, ist wie plötzlich in überraschender Gesellschaft zu sein: wie's ausgeh'n wird, kann man unmöglich voraussagen, aber es ist auf jeden Fall den Trip wert.' - Pat Cadigan (Autorin von Synder) 'John Shirleys Stimme ist die eines Propheten in der Cyberpunk-Wildnis. Er ist einer der Besten. An ihn wird man sich erinnern.' - Roger Zelazny (Autor von Straße der Verdammnis)
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setzte sie vor dem Haus ihrer Eltern ab, und sie griff durch das Wagenfenster hinein, um ihm die Hand zu schütteln. Sie lächelte sogar. Er lächelte zurück und bekam Lachfältchen um seine blauen Augen, und sie richtete sich auf, zog ihre Hand zurück und trat auf den Bordstein. Er wurde über die Straße fortgerissen; fortgerissen von dem Wagen, den er fuhr. Sie blieb mit dem Haus zurück. Sie wusste, dass sie sich zum Haus umdrehte. Sie wusste, dass sie darauf zuging. Sie wusste, dass sie die Treppe hinaufstieg. Aber die ganze Zeit über spürte sie das Ziehen. Der Zug des Unten war so sanft, dass man denken konnte: Ich weiß, ich drehe mich um und gehe und steige, während es in Wirklichkeit gar nicht so war. Man wurde durch all diese Bewegungen hindurch geführt, deshalb war man es gar nicht, der das alles tat. Aber am besten dachte man, man täte es. Sie hatte es geübt, dieses sich durch den Hinderniskurs der freien Assoziationen Hindurchmanövrieren. Sie tat es jetzt wieder, und sie schaffte es, die Empfindung des Gezogenwerdens zu unterdrücken. Sie fühlte sich gut. Sie fühlte sich gut, weil sie nichts fühlte. Nicht sonderlich viel. Nur... nur Normales. Das Haus sah wie ein Haus aus, die Bäume sahen wie Bäume aus. Bilderbuchhäuser, Bilderbuchbäume. Das Haus machte höchstens einen ungewöhnlich ruhigen Eindruck. Niemand zu Hause? Und wo war Doobie? Der Hund war diesmal nicht vor dem Haus angeleint. Sie hatte sich vor dem Dobermann immer gefürchtet. Sie war erleichtert darüber, dass er weg war. Vielleicht mit der Familie zusammen weg gegangen. Sie öffnete die Tür - komisch, dass sie fort waren und die Tür offen gelassen hatten. Es passte nicht zu Dad. Dad war paranoid. Er gab es sogar selbst zu. Ich rauche ein Wahnsinnskraut, sagte er. Er und Mom rauchten Pot und hörten sich alte Jimi Hendrix-Platten an und vögelten, wenn sie glaubten, Cindy sei eingeschlafen, lustlos auf dem Sofa. »Hallo? Dad? Mom?«, rief Cindy jetzt. Keine Antwort. Gut. Sie hatte Lust, allein im Haus zu sein. Eine Platte zu spielen, fernzusehen. Nichts, womit man fertig werden musste. Keine Zufallsfaktoren, jedenfalls kaum welche. Und keiner, der nicht harmlos gewesen wäre. Fernsehen war wie in ein Kaleidoskop zu blicken: es veränderte sich andauernd und produzierte seine Bewegungen auf seine verworrene Art, aber niemals geschah dabei etwas wirklich Unerwartetes. Oder fast nie. Einmal hatte Cindy es angeschaltet und sich einen japanischen Horrorfilm angesehen. Und der japanische Horrorfilm hatte viel zu sehr einer Karikatur des Unten geähnelt. Als hätten sie sich über sie lustig machen wollen, indem sie ihr zeigten, was sie wussten. Was sie von dem wussten, was sie wusste. Jetzt, sagte sie sich. Denk ans Jetzt! Sie wandte sich von der Diele zu dem Türbogen, der zum Wohnzimmer führte. Im Wohnzimmer war etwas, das stark einem Sofa ähnlich sah. Wenn es sich im Erholungsraum der Klinik befunden hätte, wäre sie ziemlich sicher gewesen, dass es ein Sofa war. Hier jedoch hockte es fett und blau-grau verstaubt im Dämmerlicht des Wohnzimmers, die verschnörkelten Armlehnen ein wenig allzu verschlungen; es räkelte sich drohend genau im Mittelpunkt des Zimmers. Seine Maserung hatte etwas Unnatürliches. Es war auf eine Art gekörnt, die ihr noch nie aufgefallen war. Wie einer dieser ekligen, unförmigen Quallenhaufen an der Küste, ein hautiges Ding, dessen Klebrigkeit es mit einem Überzug aus Sand versehen hatte. Eher noch befremdlicher war die eindeutig vertraute Form des Sofa-Dings. Aber es hatte etwas Aufgedunsenes, Angeschwollenes. Als wäre es aufgebläht vom Essen. Das ist also ihr Geheimnis, dachte sie. Ihr Sofa ist es. Normalerweise fällt mir nichts Ungewöhnliches daran auf - weil ich es normalerweise nicht erwische, gleich nachdem es gegessen hat. Sie fragte sich, wen es verschlungen hatte. Eine ihrer Schwestern? Im Haus war es ruhig. Vielleicht hatte es die ganze Familie gegessen. Aber dann hätte ihre Mutter nicht gesagt, dass sie bei ihrer Ankunft nicht zu Hause wären: jetzt fiel es ihr wieder ein. Eine der Krankenschwestern hatte es Doktor Gainsborough gesagt. Manchmal machte das Stelasin Cindy vergesslich. Sie waren zum Mittagessen aus. Sie wollten wahrscheinlich ein letztes Mal auswärts essen, bevor Cindy zurückkam. Es war peinlich, mit Cindy ins Restaurant zu gehen. Cindy hatte eine Art an sich, an den Dingen herum zu kritteln. »Immerzu machst du alles mies, Cindy«, sagte Dad. »Du solltest lockerer werden. Du gehst mir auf den Keks, wenn du diese Scheiße abspulst.« Cindy würde erst die Serviererin heruntermachen und dann vielleicht die Tische, das Tischtuch, die Falten im Tischtuch. »Es ist die Symmetrie des Karomusters auf dem Tisch, die die Täuschung beweist«, würde sie ernsthaft sagen wie ein Fernsehkommentator, der über Terrorismus sprach. »Diese andauernde Häufung symmetrischer Muster ist ein Versuch, uns in einem Gefühl der Harmonie mit unserer Umwelt zu wiegen, die gar nicht vorhanden ist.« »Ich weiß, dass du frühreif bist, Cindy«, würde ihr Dad sagen und sich Baguette-Krümel aus dem Bart wischen oder vielleicht an einem seiner Ohrringe ziehen, »aber du gehst mir echt auf den Keks.« »Es könnte sein«, sagte Cindy laut zu dem Sofa, »dass du eine meiner Schwestern gegessen hast. Das ist mir ziemlich egal. Aber ich muss dir gleich eindringlich versichern, dass du mich nicht essen wirst.« Dennoch wollte sie mehr über das Sofa-Ding herausbekommen. Vorsichtig. Sie ging in die Küche, nahm einen Büchsenöffner und eine Taschenlampe und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Sie schwenkte das Licht über das Ding, das auf dem polierten Parkettboden saß. Die Beine des Sofa-Dings, das sah sie jetzt, waren eindeutig mit dem Boden verschmolzen: sie schienen aus ihm herauszuwachsen. Cindy nickte und fühlte sich bestätigt. Was sie sah, war eine Art von Blüte. Sie musste weit unter der Erde Wurzeln haben. Das Sofa-Ding zuckte selbstbewusst im Strahl ihrer Taschenlampe. Mit der Taschenlampe in der linken Hand - sie hätte die Deckenbeleuchtung einschalten können, aber sie wusste, dass sie die Taschenlampe für die Höhlen unten brauchen würde - näherte sie sich dem ausgestreckten, blaugrauen Ding, wobei sie darauf achtete, dass sie ihm nicht zu nahe kam. In ihrer rechten Hand hatte sie den Büchsenöffner. Die ganze Zeit über schien sie einen Besserwisser zu hören, der sagte: Das geht dich nichts an. Du solltest raufgehen und fernsehen und dich mit gefahrlosen Gedanken von einem Moment zum nächsten bewegen, die Hindernisse umschiffen und die gefährlichen Assoziationsballungen abwenden, indem du vorgibst, nicht zu wissen, was du weißt. Doch es war schon zu spät. Ihr Stelasin war fast abgebaut, und das Sofa hatte sie in eine falsche Richtung geschubst, und jetzt befand sie sich auf der Nebenstraße eines fremden Vororts, und den Weg zurück zu der vertrauten Hauptstraße wusste sie nicht. Und es waren keine Polizisten da, bei denen sie sich hätte erkundigen können, keine Psychobullen wie Doktor Gainsborough. Also kroch Cindy auf das Sofa-Ding zu. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass das Sofa ihr nur dann wehtun konnte, wenn sie sich darauf setzte. Wenn man darauf saß, würde es sich um einen zusammenrollen, einen in sich einschließen. Wie eine Venus-Fliegenfalle. Sie kniete vor seinen Beinen hin. Ihre Absicht spürend, bockte es ein wenig, und aus seinen Kissen quoll Staub. Es zog sich zusammen, die Kissen hoben sich. Es machte ein grässliches Geräusch. Sie begann an seinen Beinen zu arbeiten, dort, wo sie in den Fußboden übergingen. Achtunddreißig Minuten lang arbeitete sie eifrig mit ihrem Büchsenöffner. Das Sofa-Ding gab eine Reihe gedehnter, mitleiderregender Laute von sich. Ihr Arm schmerzte, aber der Büchsenöffner war überraschend scharf. Bald hatte sie die Höhle unter dem Sofa teilweise freigelegt; man konnte sie unterhalb der lose herabhängenden Umhüllung erkennen. Cindy holte tief Luft und riss das lose Stück hoch, um die Öffnung zu erweitern. Innendrin war es dunkel. Ein Geruch nach Moschus; nach Moschus und ein wenig nach Metall, wie Schmiermittel für einen Motor. Und ein kleiner Beigeruch von Verwesung. Schwer arbeitend rollte sie die Haut des Fußbodens rund um das Sofa zurück. Die Natur war erfinderisch; bis jetzt hatte die Haut wie ein Parkettboden aus Hartholz ausgesehen. Sie war hart gewesen, massiv und auf die richtige Art gemustert. Eine wunderbare Verstellung. Die Haut war hart - aber nicht so hart, wie sie aussah. Man konnte sie abpellen wie Baumrinde, wenn man nur Geduld hatte und nichts auf schmerzende Finger gab. Cindy gab nichts darauf. Das Wehklagen des Sofa-Dings steigerte sich zu einem Crescendo, so laut und schrill, dass Cindy zurückweichen und die Ohren mit den Händen bedecken musste. Und dann faltete sich das Sofa in sich zusammen. Auch sein sirenenhaftes Geheul faltete sich zusammen und wurde gedämpft wie ein Schrei, der einer Hand zu entfliehen suchte, die den Mund eines kleinen Kindes verschloss. Das Sofa glich einer sich schließenden Seeanemone; es schrumpfte zusammen, verschwand, wurde von der dunklen Wunde in der Mitte des Wohnzimmerbodens eingesaugt. Im Haus war es wieder still. Cindy leuchtete mit der Taschenlampe in die Wunde hinein. Sie war feucht, schleimig, rot, gelb gesprenkelt. Das Blut des Hauses sprudelte nicht, es blutete in Tropfen, wie Schweiß. Das dicke, glasige Unterfleisch erzitterte und zog sich zurück, als sie es...




