E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Siepen Das Buch der Zumutungen
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-423-42871-2
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Betrachtungen
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-423-42871-2
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stefan aus dem Siepen wurde 1964 in Essen geboren, studierte Jura in München und trat in den Diplomatischen Dienst ein. Über Stationen in Bonn, Luxemburg, Shanghai und Moskau führte ihn sein Weg nach Berlin, wo er seit 2009 im Auswärtigen Amt arbeitet. Nach >Luftschiff< (2006) und >Die Entzifferung der Schmetterlinge< (2008) veröffentlichte er 2012 >Das Seil< und zuletzt >Der Riese<. Stefan aus dem Siepen lebt mit seiner Familie in Potsdam. .
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Erster Teil
Zumutungen des täglichen Lebens
Warum man nicht Auto fahren sollte
Es handelt sich um eine einfache, vorwiegend körperliche Tätigkeit, für die keine besonderen Fähigkeiten erforderlich sind. Bereits dies sollte das Autofahren dem geistig anspruchsvollen Menschen verdächtig machen und ihm nahelegen, sich nach anderen Methoden der Fortbewegung umzuschauen. Merkwürdigerweise sieht man dennoch viele kluge Köpfe, die keinerlei Scheu empfinden, an einem Lenkrad zu sitzen, zwei oder drei Pedale zu bedienen, gelegentlich auf einen Knopf zu drücken – und sich dabei auch noch beobachten zu lassen.
Sozialgeschichtlich betrachtet, stellt der Übergang von der Reisekutsche zum Automobil einen Niedergang des Reisenden dar: Er wird zum Postillon.
Warum man nicht Auto fahren sollte
Die Umgangsformen unter Autofahrern entsprechen denen, die früher zwischen Fuhrknechten üblich waren. Kaum jemand zögert, mit der flachen Hand auf das Lenkrad zu schlagen, allerlei Gesten der belehrenden, rügenden oder drohenden Art zu vollführen, ja sogar den Zeigefinger an die Stirn zu legen. Auch das Hupen ist ein Verständigungsmittel, das man schwerlich als kultiviert bezeichnen kann – es entspricht dem Anschreien. Welch eigentümlicher Widerspruch: Ein zivilisierter Mensch, dem es außerhalb seines Autos nicht im Traum einfiele, die Stimme zum Brüllen zu erheben, erachtet es als eine legitime Form der Meinungsäußerung, seine Hupe zu betätigen. Am Lenkrad darf sich jedermann von den Gepflogenheiten des guten Benehmens entbunden fühlen: Autofahren macht frei.
Warum man nicht Auto fahren sollte
Man kennt die folgende Geschichte: Ödipus, auf dem Bock eines Fuhrwerks sitzend, traf in einem engen Hohlweg auf einen entgegenkommenden Wagen. In diesem saß sein Vater Laios, der König von Theben. Keiner der beiden wollte den Weg freimachen, so kam es zum Streit; und Ödipus erschlug, ohne zu ahnen, mit wem er es zu tun hatte, seinen Vater. – Sigmund Freud ist es gelungen, diese Geschichte für sich in Beschlag zu nehmen, sie mit seiner Theorie des Vater-Sohn-Konflikts scheinbar unauflöslich zu verknüpfen. Dies ist bedauerlich, denn sie lässt auch eine andere Deutung zu, die ich als nicht weniger überzeugend empfinde, ja die mir sogar um vieles näherliegend scheint: Wer ein Gefährt lenkt, verwandelt sich zum Rohling. Selbst edle Prinzen werden auf dem Bock zu Totschlägern. Der Ödipus-Komplex des Autofahrers.
Warum man nicht Auto fahren sollte
Erinnerung an meine Zeit in Shanghai. – Die chinesischen Taxifahrer hupen munter und häufig, um sich im Straßengewimmel den Weg freizumachen. Nicht nur Autos, auch Fahrradfahrer und Fußgänger werden akustisch von ihnen bedrängt. Als westlicher Fahrgast betrachtet man dies Gebaren nicht ohne ein Stirnrunzeln; doch sagt man sich zur eigenen Beschwichtigung, dass man das Verhalten des Fahrers nicht ändern könne, dass es den Sitten oder Unsitten des Landes entspreche und einen, alles in allem, nichts angehe. Einmal hatte ich ein Erlebnis, das mich an dieser Sichtweise irre werden ließ. Ich war eine längere Strecke durch die Stadt gefahren, und der Chauffeur hatte dutzendfach gehupt. Am Fahrtziel angekommen, stieg ich aus und knöpfte mir, für einige Sekunden vor der Motorhaube stehen bleibend, den Mantel zu; sogleich hupte der Fahrer mich an, denn ich war für ihn nun kein Fahrgast mehr, sondern ein Hindernis wie tausend andere. Dies belehrte mich, dass die Gleichmütigkeit, mit der ich das Hupen bisher hingenommen hatte, eine Rohheit gewesen war. Jeder Fußgänger, den der Fahrer vor mir bedrängt hatte, war ein Mensch wie ich. Was dem einen angetan wird, richtet sich gegen alle. Die Menschen stehen, auch wenn sie einander nicht kennen, in moralischer Gemeinschaft. Dies lässt sich ins Metaphysische steigern: Die Seelen der Menschen sind zwar getrennt, doch gehören sie auf wesenhafte Weise zusammen. Man kann nicht die eine Seele beleidigen, ohne sich gegen alle übrigen zu wenden.
Die buddhistische Lehre von der Seelenwanderung kennt den Satz: »Du wirst einst als der, den du jetzt verletzt, wiedergeboren werden und die gleiche Verletzung erleiden.«
Warum man nicht Auto fahren sollte
Das Hupen nahm in den chinesischen Städten so sehr überhand, dass ein gesetzliches Hupverbot erlassen wurde. In Shanghai habe ich beobachtet, dass auf dem Lenkrad eines jeden Taxis ein roter Aufkleber prangte: Hupen verboten! Nicht selten war der Aufkleber sogar mitten auf dem Hupknopf angebracht, was von praktischem Sinn zeugte. Freilich ließ die Wirkung, welche das Gesetz und die ihm dienenden Aufkleber erzielten, zu wünschen übrig. Die meisten Taxifahrer hupten ungerührt weiter, und auf manchem Lenkrad war der Aufkleber bis zur Unkenntlichkeit abgegriffen.
Warum man nicht Auto fahren sollte
Es ist üblich, das allzu große, auf protzigen Effekt berechnete Auto mit amüsierten oder missfälligen Blicken zu betrachten, seinen Fahrer für einen Aufschneider zu halten. Dabei vergisst man, dass jedem Auto, selbst dem zurückgenommensten, ein Element von Prahlerei eigen ist. Der Fahrer hat, sobald er sich ans Steuer setzt, die angenehme Empfindung, zu einem größeren zu werden: Sein Körper verbindet sich mit der Karosserie und gewinnt eine imposantere Ausdehnung. »So gehört das Auto, das ich lenke, wenn ich es ganz beherrsche, zum Eigenraum und ist wie ein erweiterter Körper, in dem ich mit meinem Empfinden überall anwesend bin.« So Karl Jaspers in seiner »Allgemeinen Psychopathologie«. Ähnliches ließ Goethe auch seinen Mephisto sagen, fünfundsiebzig Jahre vor Erfindung des Automobils: »Setz deinen Fuß auf ellenhohe Socken. / Setz dir Perücken auf von Millionen Locken, / Du bleibst doch immer, der du bist.«
Warum man nicht Auto fahren sollte
Nach einer alten abendländischen Vorstellung ist Gott das einzige Wesen, das nicht von anderen Mächten bewegt wird, sondern sich selbst bewegt. Die Fähigkeit zur Auto-Mobilität ist also ein Kennzeichen des Göttlichen. Selbst in unseren Zeiten lebt dieser Gedanke fort: Zwar hat der moderne westliche Mensch den Glauben an Gott verloren, doch im Auto empfindet er ein Gefühl der Gottähnlichkeit. Sobald er am Steuer Platz nimmt, entfesselt er gewaltige, über das Maß eines Sterblichen hinausgehende Kräfte, besiegt die hemmenden Grenzen des Raumes, zieht mit überirdischer Leichtigkeit und Schnelligkeit durch die Weite, ja besitzt die Macht, über Sein oder Nichtsein anderer Menschen zu entscheiden.
Das Auto zeigt eine Lücke im modernen Atheismus an.
Warum man nicht Auto fahren sollte
Wenn der Autofahrer sich wie ein Gott fühlt, ist es nur folgerichtig, dass er seinem Automobil die Formen eines Tempels verleiht. Der Kunstgeschichtler Erwin Panofsky wies darauf hin, dass der Kühlergrill des Rolls-Royce die Villenarchitektur Palladios und damit die Säulenfront eines griechischen Tempels nachahme. Der Automobilist als Zeus der Moderne.
Kühlergrill eines Rolls-Royce
Akropolis in Athen
Warum man nicht Auto fahren sollte
Die Psychologie weiß, dass schnelles Autofahren zu den sexuellen Ersatzbefriedigungen gehört. Der Rausch der Geschwindigkeit ähnelt der geschlechtlichen Extase. Von »Sublimation« zu sprechen, dürfte angesichts der wüsten Rücksichtslosigkeit, die dem Vorgang meist zu eigen ist, eine Beschönigung darstellen. Der lustvolle Raser vollzieht in aller Öffentlichkeit einen Geschlechtsakt mit der unbelebten Materie. Wer schreitet ein?
Warum man nicht Auto fahren sollte
Es gibt auf der Erde sieben Milliarden Menschen, und wenn jeder von ihnen ein Auto besitzt, wird es ungemütlich – das hat sich herumgesprochen. Das Autofahren bedeutet einen fundamentalen Verstoß gegen die Idee der Gleichheit: Nicht jeder darf es tun, sondern nur die Erwählten. Alle sehnen sich nach Auto-Mobilität, und ebendarum wäre nichts fataler, als wenn die Sehnsucht sich erfüllte. Autofahren ist ein allgemeines Recht, das bei Strafe des Untergangs nicht allgemein werden darf.
Hermann Hesse lässt im »Steppenwolf« jemanden die simplen, doch visionären Worte sagen: »Ja, es gibt eben gar viele Menschen auf der Welt. Früher merkte man es nicht so. Aber jetzt, wo jeder nicht bloß Luft atmen, sondern auch ein Automobil haben will, jetzt merkt man es eben.«
Warum man nicht Auto fahren sollte
Abends auf dem Heimweg vom Büro. In der Friedrichstraße leuchtet mir, festlicher als sonst, die gläserne Fassade eines Autogeschäftes entgegen. Durch die Scheiben sehe ich Männer in dunklen Anzügen und mit gedeckten Krawatten, die Häppchen essen und Sekt trinken. Ein neues Luxusmodell wird vorgestellt! Da stehen sie in fachsimpelnden Grüppchen beisammen, werfen kennerhafte Blicke unter Motorhauben, stecken den Kopf durch herabgelassene Seitenfenster, streifen mit den Fingern über hölzerne Armaturenbretter und lederbezogene Lenkräder. Es handelt sich, nach den Gesichtern zu schließen, um intelligente Vertreter des...