Sigusch Sexuelle Störungen und ihre Behandlung
4. überarbeitete und erweiterte Auflage 2006
ISBN: 978-3-13-158564-6
Verlag: Thieme
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
E-Book, Deutsch, 400 Seiten, PDF, Format (B × H): 195 mm x 270 mm
ISBN: 978-3-13-158564-6
Verlag: Thieme
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Volkmar Sigusch
Zielgruppe
Ärzte
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Klinische und Innere Medizin Urologie, Andrologie, Venerologie
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizinische Fachgebiete Psychosomatische Medizin
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologische Disziplinen Sexualpsychologie
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizin, Gesundheitswesen Allgemeinmedizin, Familienmedizin
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizinische Fachgebiete Psychiatrie, Sozialpsychiatrie, Suchttherapie
Weitere Infos & Material
1;Volkmar Sigusch: Sexuelle Störungen und ihre Behandlung;1
1.1;Innentitel;2
1.2;Impressum;5
1.3;Anschriften;6
1.4;Vorwort zur 4. Auflage;8
1.5;Inhaltsverzeichnis;9
1.6;I Einleitung;12
1.6.1;1 Was heißt sexuelle Störung?;14
1.6.2;2 Kultureller Wandel der Sexualität;19
1.7;II Sexuelle Entwicklungen und Probleme;38
1.7.1;3 Probleme der weiblichen sexuellen Entwicklung;40
1.7.2;4 Probleme der männlichen sexuellen Entwicklung;47
1.7.3;5 Probleme der weiblichen homosexuellen Entwicklung;54
1.7.4;6 Probleme der männlichen homosexuellen Entwicklung;66
1.8;III Sexuelle Symptome und Störungen;78
1.8.1;7 Das sexuelle Symptom in der Sprechstunde;80
1.8.2;8 Grundzüge der Sexualberatung;87
1.8.3;9 Diagnostik und Differenzialdiagnostik sexueller Störungen;103
1.8.4;10 Symptomatologie, Klassifikation und Epidemiologie sexueller Störungen;115
1.8.5;11 Organogenese sexueller Funktionsstörungen;136
1.8.6;12 Psychoanalyse und sexuelle Funktionsstörungen;156
1.8.7;13 Paartherapie bei sexuellen Störungen am Beispiel des Hamburger Modells;166
1.8.8;14 Systemische Therapie sexueller Luststörungen;188
1.8.9;15 Organotherapien bei sexuellen Funktionsstörungen;195
1.8.10;16 Sildenafil (Viagra) und andere Phosphodiesterase-Hemmer;219
1.9;IVKörperliche Erkrankungen und Sexualität;240
1.9.1;17 Sexuelle Probleme und Störungen in der gynäkologischen Praxis;242
1.9.2;18 Probleme der intersexuellen Entwicklung;247
1.9.3;19 Chronische körperliche Erkrankungen und Sexualität;262
1.9.4;20 Zur Transformation von AIDS in eine behandelbare Krankheit;268
1.10;VSexuelle Perversionen;274
1.10.1;21 Psychoanalytische Theorie sexueller Perversionen;276
1.10.2;22 Psychoanalytische Therapie sexueller Perversionen;287
1.11;VI Sexueller Missbrauch, Gewalt und Delinquenz;304
1.11.1;23 Sexueller Missbrauch und Pädosexualität;306
1.11.2;24 Psychotherapie nach sexueller Traumatisierung;311
1.11.3;25 Therapie bei sexueller Delinquenz;319
1.11.4;26 Organotherapien bei sexuellen Perversionen und sexueller Delinquenz;334
1.12;VII Geschlechtsidentitätsstörungen und Transsexualität;346
1.12.1;27 Geschlechtsidentitätsstörungen im Kindes- und Jugendalter;348
1.12.2;28 Transsexuelle Entwicklungen;357
1.13;VIII Fort- und Weiterbildung;374
1.13.1;29 Fort- und Weiterbildung in Sexualmedizin und Sexualtherapie;376
1.14;Sachregister;394
1 Was heißt sexuelle Störung?
Volkmar Sigusch
Es gibt auch heute noch Experten, die ziemlich genau zu wissen glauben, welche Sexualität natürlich, normal und gesund ist. Ich gehöre nicht unbedingt zu ihnen, und zwar aus folgenden Gründen.
Seitdem es unsere Sexualität als ein Abgegrenztes und Allgemeines gibt, also eigentlich erst seit dem 19. Jahrhundert, haben sich die Vorstellungen von natürlicher und widernatürlicher, von normaler und abnormer, von gesunder und kranker Sexualität ständig verändert. Das ist nicht verwunderlich, wenn wir daran denken, wie sehr sich in den letzten zwei Jahrhunderten unser Empfinden und Denken, unser Leben und Sterben verändert haben. Zwischen der Venus von früher und der Liebesbeziehung von heute liegen nicht nur die Prozesse des Trennens, Zerstreuens und Vervielfältigens, die ich im nächsten Kapitel beschreibe. Doch die Sexualität soll immer noch so sein, wie sie einmal vor mehr als hundert Jahren von unseren wissenschaftlichen Vorgängern verstanden worden ist: ganz natürlich. Nüchtern betrachtet aber ist „natürliche“ Sexualität tierisch, nichts als Reflex, Instinkt, Verschlingung: ein Inbegriff des Schreckens.
Auf die Frage, was eine sexuelle Störung sei, gibt es heute nicht nur eine glatte, sondern auch eine verschlungene Antwort. Die glatte Antwort verweist auf Dysfunktionen, Dysphorien und Dysphilien, die in Krankheitslehren und Symptomregistern erfasst sind. Sie wird von Psychotherapeuten ebenso gegeben wie von Urologen und orientiert sich an dem, was allen geläufig scheint: Anatomie und Physiologie des Körpers und der Seele. Dieser Antwort zufolge ginge es also um gestörte Funktionen, Missempfindungen, abweichendes Verhalten und krankhaftes Erleben. Das aber wirft bereits weitere Fragen auf, die eine etwas kompliziertere Antwort erfordern.
„Funktion“ der Dysfunktion
Was beispielsweise stellen sich die Expertinnen und Experten unter „Funktion“ vor? Denken auch Psychotherapeuten bei diesem Wort an die kompetitive Hemmung von Wirkstoffen? Oder haben sie ganz andere Hemmungen im Kopf? Kann nicht die „erektile Dysfunktion“, von der unsere Mediziner gegenwärtig so selbstgewiss reden, eine seelische Funktion haben, die für das innere Gleichgewicht der Person (und des Paares) von Bedeutung ist? Und gilt das nicht noch tiefreichender für die Dysphorien und Dysphilien, für die so genannten Paraphilien oder Perversionen? Dürfen wir sie, wenn das so ist, einfach beseitigen, sofern wir mit therapeutischen Waffen schweren Kalibers dazu imstande wären? Oder bestünde die Gefahr, die Person und nicht „nur“ ihre Perversion zu zerstören? Ahnen unsere Mediziner, die in einer Etappe der allgemeinen Psychologisierung aufgewachsen sind, dass eine Dysfunktion eine Funktion haben kann, wenn sie die alte Impotenz jetzt beharrlich „erektile Dysfunktion“ nennen? Denn das heißt ja übersetzt merkwürdigerweise: „schwellfähige“, also „potente“ Fehlfunktion.
Und was meint „sexuelle“ Funktionsstörung oder „sexuelle“ Gewaltanwendung? Handelt es sich oft nicht sehr viel eher um ein allgemeines Symptom, das erst in zweiter oder dritter Hinsicht etwas mit Sexualität zu tun hat und deshalb als „sexuelles“ Symptom vordergründig oder vorgeschoben ist? Geht es in Sexualtherapien, die auf Reparaturen aus sind, wirklich um Sexualität im emphatischen Sinn? Ist nicht jede Sexualtherapie, die den Namen verdient, eine Psychotherapie, weil sich das Sexuelle (und Geschlechtliche) nicht aus der Seele lösen lässt wie das Fleisch vom Knochen? Gibt es nicht Patienten, bei denen alle sexuellen „Funktionen“ funktionieren, die aber trotzdem unglücklich sind, weil sie keine sexuelle Erfüllung finden?
Lässt sich das, was ein Mensch als krankhaft erlebt, nur individuell bestimmen? Oder ist es auch kulturell bedingt, vielleicht sogar in erster Linie? Unter welchen Umständen bezeichnen wir ein sexuelles Verhalten als „abweichend“, „deviant“, „paraphil“ oder „pervers“? Können wir das einigermaßen verlässlich mit psychologisch-medizinischen Kriterien tun? Oder verlassen wir dann, wenn wir das tun, den Boden unserer Profession? Was bedeutet es, wenn Psychoanalytiker davon sprechen, diese oder jene Entwicklungsphase sei „normal“ verlaufen? Gibt es das in Physiologie und Psychologie? Oder bezieht sich „normal“ immer auf Normativität und Normalität, also auf Recht und Ordnung, Moral und Common Sense?
Kulturelle Weichenstellungen
Hängt die Diagnose „sexuelle Störung“ oder „sexuelle Perversion“ nicht sehr davon ab, wer mit wem zu welcher Zeit unter welchen Umständen und mit welchem Ziel in Kontakt gerät? Ändern sich die Diagnosen womöglich schneller, als uns recht ist? Hinken wir folglich mit unseren Vorstellungen oft dem hinterher, was der Zeitgeist injiziert, die Diskurse diktieren und die Imperative bestimmen?
Fragen über Fragen. Eines aber scheint mir sicher zu sein: Wer eine glatte Antwort gibt, setzt sich und seine Patienten der Gefahr aus, auf der Ebene der Gemeinplätze zu operieren. Er folgt unreflektierten Voraussetzungen, die sich im Verlauf dieses Jahrhunderts als äußerst prekär erwiesen haben. Während jede Reflexion anstrengend und zeitaufwändig ist und eine ebenso verschlungene wie vorläufige Antwort zur Folge hat, begnügt sich die fixe Antwort mit dem, was ohnehin gang und gäbe ist, ob nun im Alltagsoder im Berufsleben. Diesem Sog sind wir alle ausgesetzt. Sprechen wir von sexuellen oder geschlechtlichen Störungen oder Krankheiten als solchen, setzen wir zwangsläufig voraus, wie jene Sexualität und jene Geschlechtlichkeit beschaffen sind, von denen wir indirekt oder direkt annehmen, sie seien rund, ungestört und normal.
Wir tun das tagtäglich, weil wir ohne solche Distinktionen gar nicht leben und arbeiten könnten, ohne von den Wirrnissen und Widersprüchen der Welt zerrissen zu werden. Wir haben alle mehr oder weniger verschattete Vorstellungen von dem, was die Menschen bewegt und bewegen sollte, Vorstellungen von einem gelungenen, gemeisterten, sinnvollen Leben, von Gesundheit und Glück, Vorstellungen, die, weil sie zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Kultur entstanden sind, auch wieder verschwinden oder sich ändern können.
Berater und Therapeuten aber, die in relativer Ruhe professionell arbeiten wollen, müssen sich an das halten, was der Patient als Problem oder Konflikt erlebt, an das, dessentwegen er sie konsultiert. Selbst wenn sie es wollten, könnten sie eine Kultur, in der Störungen erscheinen, nicht in eine verwandeln, in der die Störungen nicht mehr auftreten. Kulturen oder Gesellschaften entziehen sich jeder Therapie. Professionell arbeiten heißt: die eigenen Begrenzungen, die persönlichen und die fachlichen, reflektieren und das individuelle Leiden der Patienten als Individuelles ernst nehmen. Daraus folgt aber nicht, dass die Probleme und Konflikte individualpathologisch ausreichend begriffen werden könnten. Sie sind von der Kultur, in der sie entstehen, umrissen und definiert – bis hin zur scheinbar rein seelischen Repräsentanz so genannter Objektbeziehungen. Für die sexuellen Störungen gilt das in einem exorbitanten Sinn, weil nur unsere Kultur gewisse Empfindungen und Verhaltensweisen als „Sexualität“ exponiert und unter besondere Beobachtung gestellt hat. Es gilt aber auch ganz generell.
Wer kennt nicht die Patienten, die in die Praxis kommen, wie sie zu Aldi oder Massa gehen. Sie leben in einer Kultur, die verheißt, alles bewerkstelligen zu können, und wir wundern uns, wenn sie nur durchgecheckt und dann repariert werden wollen. Sie leben in einer Kultur, in der die meisten Menschen systematisch entwertet werden, und manche Therapeuten sind entsetzt, wenn sich das in den Beziehungen niederschlägt. Diese Therapeuten nennen diese Beziehungen neuerdings „pervers“, verschwenden aber keinen Gedanken darauf, ob sich hier nicht allgemeine Tendenzen niederschlagen und warum ihre „Perversionen“ möglicherweise nichts mehr mit Sexualität im bisherigen Sinn zu tun haben. Die Patienten leben in einer patriarchalen Kultur, und einige Psychoanalytiker haben nur das Schicksal des klassisch und positiv gefassten Ödipuskomplexes im Kopf, als seien die hundert Jahre alten Physiologien der Liebe noch der Maßstab. Die männlichen Patienten hörten von klein auf die Losung „Etwas wert ist nur der, der seinen Mann steht“, und wir sind irritiert, wenn sie mit destruktiven Techniken ihre „Potenz“ wiederherstellen wollen. Die Patienten leben in einer Kultur, zu deren Generaltechniken Verführung gehört, und wir haben große Schwierigkeiten, Verständnis dafür aufzubringen, dass sie sich als verführt begreifen und nicht sehen können, was sie selbst mit dem Versagen und dem Verbrechen zu tun haben. Die Älteren waren der Parole ausgesetzt, nach der alles, was Spaß macht, erlaubt sei; sie sind mit der Verheißung aufgewachsen, Sexualität sei befreiend, mache glücklich und zufrieden und müsse auch deshalb möglichst umfassend gelebt werden, und wir kommen uns altmodisch vor, wenn wir ihnen nahe bringen müssen, dass diese Verheißungen uneinlösbar sind. Patienten klagen sexuelles Funktionieren bis ins höchste Alter und trotz schwerer Krankheit ein, und wir gestatten uns nur sehr zaghaft den Gedanken, dass alle Blüten einmal verwelken und der Prothesengott, dem wir frönen, am Ende nicht mehr maskieren kann, was er produziert.
Historische Relativierungen
Wie sehr die Frage, was eine sexuelle Störung sei, der glatten Antwort spottet, zeigt am deutlichsten ein Blick in die alte Literatur. Zur Zeit Lallemands (1836–42) klagten Ärzte über das Grassieren der Spermatorrhoe, weil angeblich immer mehr Männern der Samen einfach ohne Zeichen...