E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Simenon Der Bürgermeister von Furnes
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-311-70052-4
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-311-70052-4
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.
Weitere Infos & Material
ERSTER TEIL
1
Zwei Minuten vor fünf. Joris Terlinck, der den Kopf gehoben hatte, um auf seinem Chronometer – das er wie immer vor sich auf den Schreibtisch gelegt hatte – nach der Uhrzeit zu sehen, hatte gerade noch genug Zeit.
Zum einen Zeit, mit dem Rotstift eine letzte Zahl zu unterstreichen und eine Akte zuzuklappen, auf deren Konzeptpapier stand:
Zum anderen Zeit, seinen Sessel ein Stück zurückzuschieben, aus seiner Tasche eine Zigarre zu holen, sie knistern zu lassen und ihre Spitze mit Hilfe eines hübschen vernickelten Apparats abzuschneiden, den er aus seiner Weste zog.
Es war schon dunkel, denn man schrieb Ende November. Über dem Kopf von Joris Terlinck, im Arbeitszimmer des Bürgermeisters von Furnes, brannte ein ganzer Ring von Kerzen, allerdings von elektrischen, an denen falsche gelbe Tropfspuren klebten.
Die Zigarre zog gut. Terlincks Zigarren zogen alle gut, denn er selber war der Hersteller und behielt sich eine Sonderqualität vor. Als der Tabak brannte, das Zigarrenende angefeuchtet und sorgfältig abgerundet war, musste noch die Zigarrenspitze aus Bernstein ihrem Etui entnommen werden, das beim Zuklappen ein sehr charakteristisches hartes Geräusch machte – manche Leute in Furnes erkannten Terlincks Anwesenheit an diesem Geräusch!
Und das war noch nicht alles. Die zwei Minuten waren noch nicht verbraucht. Wenn er ein wenig den Kopf drehte, entdeckte Terlinck zwischen den dunklen Samtvorhängen hindurch den Hauptplatz von Furnes, die Häuser mit den gezackten Giebeln, die Sint-Walburga-Kirche und die zwölf Gaslaternen entlang der Gehsteige. Er kannte ihre Anzahl, denn er selber hatte sie aufstellen lassen! Hingegen konnte niemand sich rühmen, die Anzahl der Pflastersteine auf dem Platz zu kennen, Tausende von ungleich gerundeten kleinen Pflastersteinen, die von Weitem aussahen wie einzeln von einem Maler der primitiven Kunst hingemalt.
Über allem lag ein feiner, um die Laternen herum weißlicher Dunst, und am Boden, obwohl es nicht geregnet hatte, eine Art Firnis, eine Art Lack aus sehr schwarzem Schlamm, durch den reliefartig die Spuren der Karrenräder verliefen.
Noch eine knappe halbe Minute. Die Rauchwolke um Terlinck verteilte sich. Durch sie hindurch sah er über dem wuchtigen Kamin das berühmte Bildnis Van de Vliets mit seiner ungewöhnlichen Tracht, seinen Puffärmeln, seinen Bandschleifen und Federn am Hut.
Zwinkerte Joris Terlinck seinem Vorgänger etwa zu? Oder blinzelte er nur, weil der Rauch ihn in den Augen brannte?
Von seinem Platz aus hätte er vorhersagen können, dass nun die Bewegung eines Uhrwerks anhob, in Gang kam, zuerst über ihm im Turm des Rathauses, wo eine Uhr mit tiefem Ton ihre fünf Schläge ertönen lassen würde, dann, im Abstand einer Zehntelsekunde, im Uhrenturm, das obligate Glockenspiel.
Nun sah er zu einer Tür am anderen Ende des weitläufigen Arbeitszimmers, die in die geschnitzte Täfelung eingelassen war. Er wartete auf das Scharren, das Hüsteln und sagte:
»Herein, Herr Kempenaar!«
Er hätte sich das »Herr« auch schenken können, denn Kempenaar war der Gemeindesekretär, also sein Untergebener. Mit »Herr« sprach Terlinck niemanden außer Kempenaar an, und er tat es so, als wollte er ihn zermalmen.
»Guten Abend, Baas!«
Er wurde Baas genannt, das heißt »Herr«, nicht nur zu Hause, nicht nur in seiner Zigarrenmanufaktur, sondern auch im Rathaus, im Café und selbst auf der Straße.
Es war Zeit für die Post. Das spielte sich immer auf dieselbe Art und Weise ab. Kempenaar beugte sich von weit hinten über den Bürgermeister und bekam den ganzen Rauch der Zigarre ins Gesicht. Terlinck unterschrieb die Briefe; sie waren auf einer alten Maschine geschrieben, die der Sekretär als Einziger betätigen konnte.
Beim dritten Blatt hatte es noch keine Beanstandungen gegeben. Auf dem vierten endlich hielt Terlinck einen Fingernagel unter ein A, das statt eines O hingetippt worden war, zerriss das Papier in winzige Fetzen und warf diese, wie üblich kommentarlos, in den Papierkorb.
Danach nahm Kempenaar beflissen die übrige Akte an sich, wollte zur Tür eilen, und der Baas ließ ihm freies Spiel, ließ ihn mit der Hoffnung auf Erlösung bis zur Mitte des Teppichs kommen, zog dann plötzlich die Leine an und sagte scharf:
»Übrigens, Herr Kempenaar …«
Und das »Herr« war so betont, dass dem Gemeindesekretär, als er sich umdrehte, der Schweiß auf seiner blatternarbigen Stirn stand.
Von der Mitte des Hauptplatzes aus konnte man die beiden deutlich sehen: Terlinck, in seinen Rauch gehüllt, sitzend, den andern einige Meter entfernt, stehend, mit seiner Akte in der Hand, und jeder in Furnes wusste, dass es der Bürgermeister und der Sekretär waren, jeder wusste auch, dass Letzterem ein unangenehmer Augenblick bevorstand.
»Sie waren doch gestern bei der Abendveranstaltung des Wohltätigkeitsvereins Saint-Joseph, nicht wahr?«
»Ja, Baas!«
Noch wusste Kempenaar nicht, aus welcher Ecke der Schlag ihn treffen würde.
»Anscheinend haben Sie gesungen und sind sehr beklatscht worden …«
Denn Kempenaar, der eine Baritonstimme hatte, trat bei allen Amateurkonzerten auf.
»Unter anderem hat Leonard Van Hamme Sie gelobt …«
Jetzt errötete Kempenaar, denn er hatte verstanden. Leonard Van Hamme, der Brauereibesitzer, war der persönliche Feind des Bürgermeisters.
»Sie haben mit ihm in der Trinkstube über mich gesprochen, und Sie haben ihm zu verstehen gegeben, ich stände in geheimer Verbindung mit den Freimaurern …«
»Ich schwöre Ihnen, Baas …«
»Sie riechen nicht nur schlecht, Herr Kempenaar, denn das tun Sie tatsächlich, was mich in Ihrer Gegenwart zum Rauchen zwingt, Sie verleumden mich auch nach Strich und Faden, nur um sich mit jemandem gut zu stellen, der Ihnen eines Tages nützlich sein könnte … Sie widern mich an, Herr Kempenaar … Sie können gehen … Guten Abend, Herr Kempenaar …«
Als der völlig geknickte, ungepflegte und immer leicht schmuddelige Mann durch die halboffene Tür verschwunden war, stützte Joris Terlinck seine beiden Hände flach auf den Schreibtisch, um aufzustehen, und zwinkerte Van de Vliet erneut zu.
Der musste ihn doch verstehen!
Den ganzen Winter hindurch war er gleich gekleidet: schwarzlederne Gamaschen, grauer Anzug aus unverwüstlichem Stoff und darüber eine Art kurzer, pelzgefütterter Paletot. Als Kopfbedeckung eine Otterfellmütze, deren Schwanz das lodernde Rot des Schnurrbarts und das Schieferblau der Augen hervorhob.
In der Marktstraße blieb er vor der Metzgerei Van Melle stehen, bei der es auch Frühgemüse gab und deren Auslage eine Girlande aus Wild umrahmte.
»Was nehmen Sie heute, Baas?«, fragte ihn die rundliche Frau Van Melle.
»Sind die Rebhühner auch frisch?«
»Von heute Morgen … Soll ich Ihnen eines geben?«
Denn er nahm immer nur eines. Vielleicht machte man sich hinter seinem Rücken über ihn lustig, aber das war seine Sache. Dann ging er auf den Hauptplatz zurück. Sein Haus war ein schwarzer Giebelbau, mit einer doppelten fünfstufigen Vortreppe mit schmiedeeisernem Geländer. Er trat den Schmutz von seinen Schuhsohlen ab, ging dann ins Esszimmer, wo unter einer Lampe mit rosa Schirm zwei Gedecke aufgelegt waren.
Frau Terlinck saß mit einer Näharbeit neben dem sauberpolierten Ofen, und jeden Abend zuckte sie überrascht zusammen, als hätte sie sich nach all den Jahren noch immer nicht an den Gedanken gewöhnen können, dass ihr Mann kurz vor sechs Uhr nach Hause kam. Sie sagte nichts, denn im Hause wünschte man einander weder guten Tag noch guten Abend, was nicht nötig ist zwischen Leuten, die sich ständig sehen. Eilig sammelte sie ihre Stoffteile, ihre Garnrollen, ihre Schere zusammen, stopfte alles in ihren Nähkorb und öffnete die Tür zur Küche einen Spaltbreit.
»Tragen Sie auf, Maria!«
Er sah sich in dem Spiegel über dem Kamin im Esszimmer, in dem ein rosa Lampenschirm ein weiches Licht verbreitete. Er verzog keine Miene, während er sich betrachtete, aber er betrachtete sich die ganze Zeit, während er seinen Paletot und seine Otterfellmütze auszog und auch noch, als er sich die Hände über dem Ofen wärmte.
Maria tauchte aus der Küche auf und nahm sofort das kleine Paket mit dem Rebhuhn entgegen; dann brachte sie die Suppenschüssel, und es wurde noch immer nicht gesprochen.
Die Fensterläden waren nicht geschlossen. Auf dem Fensterbrett stand ein Messingtopf mit einer Grünpflanze. Man konnte die beiden von draußen gut sehen, wie sie sich in dem rosa Lichtschein bewegten, bedächtig und stumm wie Fische in einem Aquarium.
Erst wenn Terlinck saß, setzte sich auch seine Frau, faltete die Hände, sprach das Tischgebet, erst leise, indem sie nur die Lippen bewegte, dann wurde das Wispern deutlicher und erhob sich bei den letzten Silben zu einem klar hörbaren Murmeln.
Nach der Suppe gab es Pellkartoffeln mit Quark. Terlinck mochte Kartoffeln mit Quark und einer kleingehackten roten Zwiebel, seit dreißig Jahren aß er das jeden Abend.
Die Tür zur Küche stand offen, und sie hörten das Rebhuhn brutzeln, wussten aber, dass sie nicht davon essen würden.
Frau Terlinck wartete die letzten Bissen des Baas ab und erzählte dann mit schwacher, ängstlicher Stimme:
»Die Kohle ist...