Simenon | Der Witwer | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 95, 192 Seiten

Reihe: Georges Simenon. Die großen Romane

Simenon Der Witwer


1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-311-70288-7
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, Band 95, 192 Seiten

Reihe: Georges Simenon. Die großen Romane

ISBN: 978-3-311-70288-7
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Hôtel Gardénia in der Nähe der Champs- Élysées: In Zimmer 44 liegt eine Frau tot im Bett, sie trägt ein weißes Seidenkleid, in den Händen hält sie einen Strauß verwelkter Rosen, auf einem kleinen Tisch steht eine leere Champagnerflasche. Jeanne hat sich mit Schlaftabletten das Leben genommen. Und ihr Mann Bernard versteht die Welt nicht mehr. Was hat seine Frau in diesem Hotel gemacht, woher hatte sie das teure Kleid? Acht Jahre ist es her, dass er Jeanne vor einem brutalen Zuhälter gerettet hat, sie bei sich aufgenommen hat. Ihre Ehe war doch gut, vielleicht nicht leidenschaftlich, aber Bernard war glücklich. Und Jeanne, war sie es nicht auch? Für die Polizei ist der Fall schnell erledigt: eindeutig Selbst- mord. Aber nicht für Bernard. Spät, zu spät muss er erkennen, dass er nichts gewusst hat über seine Frau, ihre Wünsche, ihre Vergangenheit. Bernard blickt in einen Abgrund. Und der Richter, dem er sich stellen muss, ist er selbst.

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.
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Erster Teil Die eigenen vier Wände


1


Er war so ahnungslos, wie es Reisende sind, die in einem Zug wenige Augenblicke vor der Katastrophe im Speisewagen essen, lesen, schwatzen, vor sich hin dösen oder die vorübergleitende Landschaft betrachten. Ohne sich über die Ferienstimmung zu wundern, die in Paris von einem Tag zum anderen eingekehrt war, ging er seines Weges. Ist es nicht jedes Jahr zu dieser Zeit so, wenn die Tage heiß werden und die Kleidungsstücke unangenehm an der Haut kleben?

Um sechs Uhr nachmittags lebte er noch in einer Art Unschuld, die sich vor allem in einer gewissen Leere zeigte. Was hätte er antworten können, wenn man ihn unversehens gefragt hätte, woran er denke, während er, der die meisten Passanten überragte, mit großen, ein wenig müden Schritten dahinschlenderte?

Was hatte er von der Rue François-Ier gesehen, wo er mehr als eine Stunde in den Büros seine Arbeit präsentiert hatte, vom Faubourg Saint-Honoré, wo ihm ein Scheck ausgestellt worden war, und dann auf dem langen Weg bis zur Druckerei, der Imprimerie de la Bourse, und von dort bis zur Porte Saint-Denis?

Es wäre ihm schwergefallen, die Frage zu beantworten. Er hatte die Touristenbusse gesehen, vor allem an der Madeleine und der Oper, gewiss, aber keiner war ihm besonders aufgefallen, und er hätte nicht sagen können, welche Farbe sie hatten. Sie mochten blau, rot, gelb gewesen sein. Und auf den Gehsteigen gingen Männer ohne Jackett, ohne Krawatte, in kurzärmeligen Hemden, mit offenem Kragen, und hier und dort begegnete man Amerikanern in cremefarbenen Anzügen.

Er hatte nichts genau wahrgenommen. Oder vielmehr doch. In der Rue du 4 Septembre war er ein erstes Mal stehen geblieben, um sich das Gesicht zu wischen, denn er schwitzte sehr stark, er trug im Sommer und Winter denselben Anzug. Aus Diskretion, aus Scham hatte er so getan, als betrachte er ein Schaufenster. Es war zufällig das eines Hutmachers, und unter all den ausgestellten Hüten war sein Blick von einem flachen Strohhut angezogen worden, dem einzigen in diesem Fenster. Er ähnelte dem, den sein Vater in Roubaix trug, wenn er am Sonntagvormittag mit den Kindern an der Hand spazieren ging. Eine Sekunde lang hatte er sich gefragt, ohne dem viel Bedeutung beizumessen, ob »Kreissägen« wieder in Mode kamen, ob er die Mode mitmachen und wie er mit einem solchen Hut wohl aussehen würde.

Ein zweites Mal war er vor einer roten Ampel stehen geblieben, und in der Kolonne der Wagen, die im Schritt fuhren, hatte er einem Mann nachgeblickt, der einen Handkarren mit einer Kiste schob, die groß genug war, um ein Klavier zu transportieren. Der Gedanke an das Klavier hatte ihn einige Sekunden beschäftigt, dann hatte er kopfschüttelnd eine junge Frau gemustert, die sehr wenig anhatte und in einem riesigen offenen Wagen saß.

Er hatte diese Bilder nicht miteinander verbunden, hatte keinen Schluss gezogen. Er hatte bestimmt die Straßencafés gesehen und jedes Mal, wenn er an einem vorüberkam, den Geruch von Bier wahrgenommen. Was würde ihm noch einfallen, selbst wenn er angestrengt nachdächte? Es war fast, als hätte er vorübergehend gar nicht gelebt.

Und in seinem Viertel, das ihm noch vertrauter war und wo er all das, was ihn umgab, für selbstverständlich nahm, hatte er überhaupt nichts gesehen.

Seine Wohnung im zweiten Stock eines Hauses am Boulevard Saint-Denis, zwischen einer Brasserie und einem großen, auf Pendeluhren spezialisierten Geschäft, konnte er durch zwei Eingänge erreichen. Gleich neben der Brasserie führte eine niedrige Toreinfahrt, ein dunkler, feuchter Tunnel, den die Vorübergehenden nicht bemerkten, auf einen zwei mal drei Meter großen gepflasterten Hof, zu dem hin die Loge der Concierge lag, hinter deren schmutzigen Scheiben das ganze Jahr hindurch Licht brannte.

Er konnte aber auch durch die Rue Sainte-Apolline und hinter der Werkstatt des Transportverpackers einen Flur betreten, der mehr einem richtigen Hauseingang glich.

Hätte man ihn ein paar Monate später, zum Beispiel vor dem Schwurgericht, gefragt, hätte er gezögert, unter Eid zu versichern, dass er den einen und nicht den anderen Eingang benutzt habe.

Aber man würde ihn nicht befragen. Es war überhaupt nicht die Rede davon. Der Weg, den er gegangen war, hatte ebenso wenig Bedeutung wie die Tatsache, ob die Concierge in ihrem Loch gehockt hatte oder nicht.

Die Treppe war dunkel. Manche Stufen knarrten mehr als andere. Er kannte sie. Er kannte die Wände mit ihrem tristen Gelb und die beiden braunen Türen im ersten Stock. An der Tür rechts hing ein Emailleschild: . Hinter der Tür links hörte man Lachen und Singen. Da manchmal diese Tür offen gestanden hatte, wusste er, dass dort etwa zehn Mädchen künstliche Blumen herstellten.

Genauso langsam und bedächtig, wie er durch die Straßen ging, ging er auch die Treppe hinauf. Die Leute, die glaubten, er versuche sich auf diese Weise eine gewisse Feierlichkeit zu geben, täuschten sich. Sein Gang war auch nicht seiner Beleibtheit, seinem Körpergewicht geschuldet. Er hatte sich diesen Gang mit zwölf Jahren angewöhnt, als er es satthatte, von seinen Kameraden als Klumpfuß verspottet zu werden.

»Warum lassen Sie ihn nicht Schuster werden?«, hatte er einmal eine Nachbarin zu seiner Mutter sagen hören. »Die meisten Klumpfüße werden Schuster.«

Er hatte eigentlich keinen Klumpfuß. Ein Bein war von Geburt an ein wenig schwächer und kürzer als das andere, und schon als er noch ein kleiner Junge war, hatten ihm seine Eltern orthopädische Schuhe gekauft mit Metallschienen in dem einen Schuh. Ganz von selbst und ohne jemandem etwas davon zu sagen, hatte er sich beigebracht, auf eine bestimmte Art zu gehen, und schon nach einigen Jahren konnte er Schuhe tragen, die gewöhnlichen Schuhen glichen. Er hinkte nicht mehr.

Er dachte an diesem Tag nicht daran, dachte überhaupt an nichts Besonderes. Er war nicht müde. Er hatte keinen Durst, obwohl er in kein Café eingekehrt war.

Weder in der Rue François-Ier bei wo man seine Entwürfe angenommen hatte, noch bei den Gebrüdern Blumstein im Faubourg Saint-Honoré, wo er seinen Scheck in Empfang genommen hatte, hatte sich etwas Unangenehmes ereignet, und schon gar nicht in der Imprimerie de la Bourse, wo er in den fast leeren Büros das Layout für eine Reklamebroschüre fertig gemacht hatte.

Auf dem Treppenabsatz griff er nicht wie gewöhnlich nach seinem Schlüssel, den er an einer Kette in der Hosentasche trug. Jeanne war ja zu Hause. Er drückte die Klinke herunter. Der Luftzug verriet, dass zumindest ein Fenster offen stand, und auch das überraschte ihn nicht. Der Lärm des Boulevard Saint-Denis drang in die niedrigen Zimmer, die eine Art Resonanzkörper bildeten, und weil er daran gewöhnt war, störte ihn das nicht mehr. Er war gegen Lärm unempfindlich. Auch gegen Luftzug. Und abends und nachts merkte er gar nicht mehr, wenn das lila Neonschild über dem Uhrengeschäft wie ein Leuchtturm immer wieder aufblitzte.

Während er seine lederne Aktentasche und dann seinen Hut auf den Zeichentisch legte, sagte er aus Gewohnheit:

»Ich bin’s.«

Und damit begann zweifellos das Drama, jedenfalls für ihn. Die Tür zum Esszimmer stand offen, und er erwartete, das Rücken eines Stuhls zu hören, Schritte, Jeannes Stimme als Echo auf die seine. Er wartete reglos, erstaunt, aber ohne Unruhe.

»Bist du da?«

Selbst wenn sie in der Küche gewesen wäre, hätten Geräusche es verraten, denn bis auf das Zimmer, das er sein Atelier nannte, waren alle Räume der Wohnung winzig. Er konnte sich später nicht erinnern, was er in jenem Augenblick gedacht hatte. Er war schließlich auf die Tür zugegangen. Der Anblick des Esszimmers hatte ihn unangenehm berührt. So wie sein Atelier, das er auch als Schlafzimmer benutzte, kein richtiges Atelier war, war das Esszimmer ebenfalls kein richtiges Esszimmer.

Gewiss, sie nahmen hier die Mahlzeiten ein, aber Jeannes zusammenklappbares Eisenbett stand an der Wand und war von einer alten roten Samtdecke notdürftig verhüllt. In einer Ecke stand neben dem Radio eine Nähmaschine, und an manchen Tagen wurde das Bügelbrett aus dem Wandschrank geholt.

Er hätte mindestens eine Art Unordnung vorfinden müssen, je nachdem, was Jeanne an diesem Nachmittag getan hatte – den abgenommenen Deckel der Nähmaschine, herumliegende Stoffe und Garne, oder auf dem Tisch Schnittmuster aus braunem Papier, Modezeitschriften, oder Erbsen, die darauf warteten, gepalt zu werden. In der winzigen Küche mit der runden Dachluke statt eines Fensters war niemand, und es stand auch kein Topf auf dem Gasherd, kein Geschirr im Spülstein, und auf dem mit einem karierten Wachstuch bezogenen Tisch lag nicht einmal ein Messer.

Sie hatte ihm nichts gesagt. Sie war auch nicht im Badezimmer, das er mit so viel Mühe vor sechs Jahren in der ehemaligen Dunkelkammer eingerichtet hatte.

Er ging wieder in sein Zimmer, das heißt in das Atelier, hängte den Hut an seinen Platz hinter der Tür, über den Regenmantel, den er seit drei Wochen nicht hatte anzuziehen brauchen.

Ehe er sich setzte, wischte er sich den Schweiß aus dem Gesicht, und sein Blick glitt über die Dächer der Autobusse und dann über eine Menschentraube, die sich an der Ecke des Boulevards plötzlich in Bewegung setzte, um die Kreuzung zu überqueren.

Er wusste nicht, was er tun sollte. Er lehnte sich zurück in seinem Ledersessel, streckte die Beine aus und starrte auf die Uhr mit dem Messingpendel ihm gegenüber an der Wand, auf der es halb...


Simenon, Georges
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.



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