E-Book, Deutsch, 191 Seiten
Simms Der längste Nachmittag
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-406-67004-6
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
400 Deutsche, Napoleon und die Entscheidung von Waterloo
E-Book, Deutsch, 191 Seiten
ISBN: 978-3-406-67004-6
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'Der längste Nachmittag' erzählt in einer dichten Beschreibung von einer Schlacht in der Schlacht von Waterloo: der Verteidigung des Meierhofs La Haye Sainte durch die King’s German Legion gegen die anstürmenden Truppen Napoleons. Die Verteidigung misslang zwar letztlich, aber der erreichte Zeitgewinn sorgte dafür, dass die preußischen Truppen unter Feldmarschall Blücher in die Schlacht eingreifen konnten, was entscheidend war für Napoleons Niederlage noch am selben Abend.
Simms’ Buch versieht die blutigen und brisanten Stunden der Verteidigung von La Haye Sainte mit menschlichen Gesichtern. Wir werden nicht Zeugen eines Schlachtgemäldes oder von Strategiespielen, sondern des Schicksals von Individuen: Unbekannte Personen, die an diesem Tag zu Helden wurden, rücken ins Zentrum der Darstellung. Auch die französischen Angreifer werden nicht als eine gesichtslose Masse geschildert, sondern als Menschen aus Fleisch und Blut. Dazu zieht Simms zahlreiche zuvor nicht ausgewertete oder unbekannte Quellen heran und ist so in der Lage, ein lebendigeres Bild als bislang von der Schlacht innerhalb der Schlacht zu zeichnen, die letztere entschied. Sein Buch schließt mit Überlegungen dazu, ob dieser Nachmittag nicht eine andere Tradition deutscher Militärgeschichte begründen könnte.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Militärgeschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Mentalitäts- und Sozialgeschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Europäische Geschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Deutsche Geschichte
Weitere Infos & Material
KAPITEL 1
Vorspiel
Belgien, früher Nachmittag, Samstag, 17. Juni 1815. Am Vortag haben die Franzosen Marschall Blüchers Preußen bei Ligny und die verbündete Armee des Herzogs von Wellington an der Straßenkreuzung von Quatre Bras geschlagen. Nun will Napoleon Wellingtons zurückweichende Armee so schnell wie möglich vernichten, bevor diese sich mit Blücher vereinigen kann. Glücklicherweise hatten die Schützen des 2. leichten Bataillons der Königlich Deutschen Legion am Vortag die Schlacht bei Quatre Bras verpasst,[1] sie wurden aber Zeugen ihrer schrecklichen Auswirkungen. Der Schütze Friedrich Lindau beschreibt sie mit folgenden Worten: «Es war ein entsetzliches Leichenfeld, welches im eigentlichen Sinne im Blute schwamm, das uns bei jedem Schritte bis über die Knöchel ging.»[2] Der allgemeine Eindruck war, wie Leutnant Emanuel Biedermann sich erinnerte, dass Napoleon die alliierte Armee «unerwartet» beim Mittagsschlaf «überrascht» hatte.[3] Entgegen einer verbreiteten Legende trug aber kein Offizier noch die Kleider, die er ein paar Tage zuvor auf dem Ball der Herzogin von Richmond in Brüssel getragen hatte.[4] Etwa um 14 Uhr wurde das 2. leichte Bataillon angewiesen, die Plänkler, die die nachdrängenden Franzosen abwehrten, zu entlasten, und zog sich zurück. Gemeinsam mit den Schützen des britischen 95. Regiments [5] bildete es die Nachhut für die gesamte alliierte Armee. «Sehr hungrig und ermattet» rasteten die Deutschen auf einer Wiese in der Nähe von Genappe.[6] Obwohl man ihnen mitteilte, sie hätten sich auf eine französische Attacke einzustellen, schliefen die meisten Männer sofort ein. Bald wurden sie jedoch durch ein plötzliches «Donnerwetter und einen wolkenbruchartigen Regen» geweckt. Dann galoppierte eine Abordnung Braunschweiger Husaren heran und forderte sie auf, schleunigst das Feld zu räumen, da der Feind im Begriff stand, sie von allen Seiten zu umzingeln. Im Schnellschritt zogen die Deutschen nun durch in Bäche verwandelte Hohlwege und schlammige Kornfelder zu der nach Brüssel führenden Heerstraße ab.[7] Als sie hinter Genappe waren – wo ihnen «das Wasser bis an die Knie» [8] stand –, erhielt das Bataillon den Befehl, die Straße für zurückweichende alliierte Kavallerie und Artillerie frei zu machen. Also setzten die Schützen ihren Marsch auf beiden Seiten der Straße durch die Felder fort, inmitten von hohem Korn und über einen vom Regen aufgeweichten Boden. Während sie mühsam nordwärts stapften, drängten die Deutschen sich enger zusammen, um so wenig wie möglich dem strömenden Regen ausgesetzt zu sein. Unter einem bleiernen Himmel erhellten Blitze und das Aufleuchten der Artillerie den Horizont, und das Dröhnen des Donners und das Krachen der Geschütze rollte über die Felder. In regelmäßigen Abständen stürmten alliierte Reiter an ihnen vorbei, um die vordringende französische Kavallerie und Plänkler aufzuhalten. Die Reiter waren am Ende des Tages so verschmutzt, dass die Schützen an den Uniformen nicht mehr erkennen konnten, ob sie Freund oder Feind waren. Zeitweise kamen die Franzosen bis auf hundert Schritt an die Deutschen heran. Um die feindliche Kavallerie abzuwehren, war das Bataillon mehr als einmal gezwungen, zu halten und im Karree Aufstellung zu nehmen, die Flanken starrend von Säbelbajonetten. Die Soldaten wären sehr erstaunt gewesen, wenn sie in Wellingtons späterem Bericht gelesen hätten, der Feind habe nach der Schlacht bei Quatre Bras «nicht versucht, den Rückmarsch zu behindern».[9] La Haye Sainte an der Straße Brüssel–Charleroi, um 1815. Diese Ansicht ist vermutlich erst nach der Schlacht bei Waterloo entstanden. Allerdings erging es den Deutschen immer noch besser als den unglücklichen belgischen Zivilisten, die versuchten, den vorrückenden Franzosen zu entkommen. Leutnant Emanuel Biedermann empfand Mitleid, als er sah, wie die«Männer, ihr Vieh vor sich hertreibend, andere mit Bündeln bepackt, Weiber ihre Kinder tragend und nachziehend, … jammernd und weinend» flohen.[10] Am Abend des 17. Juni, etwa gegen 19.30 Uhr, erreichten die ersten Schützen die Anhöhe des Mont St. Jean in der Nähe des Dorfes Waterloo. Bei der Ankunft der letzten Soldaten war es bereits dunkel, obwohl der Nachthimmel hin und wieder von Mündungsblitzen erhellt wurde und die Luft von Gewehrschüssen und Befehlsrufen erfüllt war, als die zurückweichenden Kolonnen an der Straßenkreuzung kurz hinter dem ansehnlichen Gutshof von La Haye Sainte, der an der Straße Brüssel–Charleroi lag und entweder nach der Dornenkrone Jesu oder nach der Brombeerhecke einer nahe gelegenen Wiese benannt war, neu aufgestellt wurden. Noch später war es, als die ungefähr vierhundert Deutschen den Befehl erhielten, den Hof zu besetzen.[11] Der Rückzug war beendet. La Haye Sainte, der Meierhof, in dem das 2. leichte Bataillon seine berühmteste Tat vollbringen sollte, bestand aus Kuh- und Pferdeställen, einem Schweinestall, einem stattlichen Wohnhaus, einer niedrigen Mauer und einem Teich, gruppiert um einen kleinen Innenhof. Es handelte sich um einen in der Gegend recht verbreiteten Gebäudetyp. Der Bauer und seine Familie waren geflohen. Das Wohnhaus war sehr groß, hatte stellenweise meterdicke Wände und hohe Decken. Im ersten Stock befanden sich große Gaubenfenster, in dem Stock darüber, der keine Fenster hatte, lagerten Heu und Stroh. Zwischen den Ställen führte ein schmaler Verbindungsweg zu den Feldern auf der westlichen Seite; das Haupttor und eine Pforte ermöglichten einen Zugang zur Straße im Osten. Ein Durchgang und zwei Türen öffneten sich auf den Küchengarten unmittelbar nördlich des Hauses. Dessen nördlicher und westlicher Teil waren von einer Hecke umgeben, sein östlicher Teil, der sich zur Straße hin erstreckte, von einer Mauer; im Garten befanden sich ein Brunnen und ein Schuppen. Genau im Süden der Hauptgebäude lag ein ausgedehnter Obstgarten, der an drei Seiten ebenfalls von einer Hecke eingefasst war und dessen vierte Seite eine geräumige (etwa dreißig Meter lange) Scheune und eine niedrige Mauer bildeten, durch die ein Tor auf den Innenhof führte. Die Gebäude waren nicht beschädigt, aber weil La Haye Sainte unmittelbar neben der Hauptrückzugslinie der Alliierten lag, war das Gehöft bereits von durchziehenden Soldaten geplündert worden. Die Soldaten hatten insbesondere das sich auf das links liegende Feld öffnende Scheunentor niedergerissen, um Feuerholz für einige der an die Tausende zählenden elenden Männer zu haben, die auf dem umliegenden Land kampierten. Ein Hauptmann des 95. Schützenregiments auf der anderen Straßenseite, Jonathan Leach, beschreibt den Boden zum Schlafen als so morastig wie einen «Schnepfensumpf». Auch für den Schützen Simon Lehmann des 1. leichten Bataillons muss die Nacht, die er im Hohlweg hinter dem Hof verbrachte, äußerst ungemütlich gewesen sein.[12] Zum Pech für die Deutschen war der größte Teil des Heus aus den Scheunen schon weggeschafft worden. Die Tiere wurden jetzt geschlachtet, und das Fleisch teilte man mit dem benachbarten Linienbataillon der Legion; nur das Kalb im Schweinestall übersahen die Schützen.[13] An der Verpflegung zeigten die Männer zunächst wenig Interesse: Im Augenblick war es für sie das wichtigste, trocken zu bleiben oder zu werden. Die Glücklicheren konnten innerhalb der Gebäude Schutz finden. Der Soldat Friedrich Lindau zog ein schlechtes Los und gehörte so zu den vom Glück weniger Begünstigten. Seine Kompanie wurde in den Obstgarten geschickt, in dem es keinerlei Schutz vor den Naturgewalten gab und wo sie dem Feind so nahe waren, dass sie kein Feuer machen durften. Immerhin gelang es Lindau, eine Tasche voll Erbsen, die er im Wohnhaus fand, mitgehen zu lassen. Die meisten Schützen verfielen in Lethargie, ihre Sinne waren betäubt von Müdigkeit, Hunger und dem unaufhörlichen Regen. Anstatt sich in der Feuchtigkeit hinzulegen, lehnten sie an Mauern und Bäumen oder saßen auf ihren Tornistern und starrten ins Leere. Außerhalb der Hauptgebäude versuchten nur wenige, Feuer zu machen – zugegeben kein leichtes Unterfangen in dem Platzregen – oder das frische Fleisch, das ihnen zugeteilt worden war, zu kochen. Stattdessen wärmten sie sich mit Alkohol. Der unternehmungslustige Lindau schlich in den Keller und füllte dort seine Feldflasche mit Wein, den er mit seinen Kameraden und Soldaten des in der Nähe stationierten 1. leichten Bataillons teilte. Es dauerte nicht lange, bis Deutsche, die etwas weiter weg biwakierten, wie der Obergefreite Meyer des Bremer Feldbataillons, herüberkamen, um sich gleichfalls etwas zu trinken zu holen. Wiederholte Ausflüge in den Keller stellten sicher, dass die Männer im Obstgarten und wahrscheinlich der größte Teil der Besatzung für die Nacht ausreichend mit Alkohol versorgt waren. Schließlich legte Lindau sich am äußersten Ende des Obstgartens im Angesicht des...