- Neu
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Sippel Die Welt, der Wandel und ich
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-451-83998-6
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
12 Portionen Mut für das Abenteuer Zukunft
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-451-83998-6
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Maike Sippel, studierte Architektin (KIT 2002), promovierte Ökonomin (HWWI 2006), Mutter dreier Teenager, ist seit 2013 Professorin für Nachhaltigkeit und Transformation an der Hochschule Konstanz.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1. Sehen Sie sich als Teil dieser Welt
„Welche Schönheit. Ich sah Wolken und ihre hellen Schatten auf der weit entfernten geliebten Erde … Das Wasser dunkel und leicht schimmernd … Als ich den Horizont betrachtete, sah ich den abrupten, kontrastreichen Übergang von der hellen Oberfläche der Erde zum absolut schwarzen Himmel. Ich erfreute mich am reichen Farbspektrum der Erde. Sie ist von einer hellblauen Lichthülle umgeben, die sich allmählich verdunkelt und in Türkis, Dunkelblau, Violett und schließlich in ein Kohlrabenschwarz übergeht.“
YURI GAGARIN
Oberst der sowjetischen Luftstreitkräfte
und erster Mensch im Weltraum2
Stellen Sie sich vor, Sie steigen in eine Weltraumrakete, nehmen Platz und warten auf den Start. Sie werden kräftig durchgerüttelt und geschüttelt, und da ist auch eine gewisse Angst, ob alles gut gehen wird. Doch dann, plötzlich, ist das Rütteln weg. Sie atmen auf und werfen endlich einen Blick aus dem Fenster. Dort sehen Sie zum ersten Mal von außen auf die Erde, auf unseren Heimatplaneten.
Der Blick von außen auf die Erde
Astronauten beschreiben diesen Moment als überwältigend. Von totaler Glückseligkeit angesichts der in leuchtendes Blau gehüllten Erde berichten sie und davon, dass die Ländergrenzen nicht mehr wichtig sind. Auch Alexander Gerst hat der Blick von oben zutiefst berührt: „Ich habe die Erde plötzlich als Gesamtsystem gesehen, als Kugel, abgeschlossen mit einer hauchdünnen Atmosphäre. Unvorstellbar zerbrechlich sieht sie von oben aus, als könnte man sie mit einem Hauch wegpusten. Und man sieht gleichzeitig, wie wir Menschen Schadstoffe hineinpusten. Sie wirkt zerbrechlich und gleichzeitig einsam und klein, als unser einziges Raumschiff, das wir Menschen haben, mit dem wir durch das schwarze Universum fliegen.“3
Die Eindrücke der Raumfahrer haben alle eins gemein: Der Blick von außen ist bewegend und er weckt ein Verantwortungsgefühl dafür, die Schönheit der Erde und unserer Welt zu erhalten. Seit 1987 firmiert dieses Phänomen unter dem Namen Überblicks-Effekt (Overview Effect).4 Warum es einen Unterschied macht, wenn wir auf einmal den weltweiten Überblick haben? Psychologen erklären das so: Wenn die Raumfahrer von oben auf die Erde schauen, löst das Gefühle von Ehrfurcht aus. Dadurch weitet sich ihr Bewusstsein. Sie öffnen sich für Werte, die über ihr eigenes Ich hinausgehen, und für das Leben als Ganzes. „Selbsttranszendenz“ nennen Psychologinnen das.5
Nehmen Sie sich etwas Zeit, legen Sie das Buch zur Seite und betrachten Sie tatsächlich vor Ihrem geistigen Auge die Erde. Wie sie dasteht, mit ihren gewaltigen blauen Ozeanen und den deutlich kleineren Landmassen, von weißen Wolken überzogen – inmitten des kalten und scheinbar unendlichen Weltalls …
Ja, das ist unsere Welt! Alles, was wir haben. Und wir sind ein Teil davon, ein winziger Mosaikstein innerhalb des Lebens, das sich bis heute auf dieser Erde entfaltet hat. Wir sind aufs Engste mit diesem Leben um uns herum verbunden. Nicht nur sitzen wir mit allen Menschen weltweit im selben Boot, wir sind auch vollkommen abhängig von der Natur – ob es darum geht, was wir essen, oder ums bloße Atmen von sauberer Luft mit Sauerstoff, den Pflanzen über Jahrmillionen produziert haben.
Ein größeres „Wir“ …
Lässt sich dieses pralle Gefühl, Teil allen Lebens auf der Erde zu sein, auch jenseits von Gedankenreisen erleben? Ich bin zum Beispiel jedes Mal ergriffen, wenn ich von einem Gipfel auf die Bergketten der Alpen blicke, die sich bis zum Horizont aufreihen. Oder wenn ich die Sonne auf- oder untergehen sehe, wenn ich den Wald mit allen Sinnen auf mich wirken lasse oder die Vögel am Himmel ziehen sehe. Ich muss mir halt die Zeit zu alldem nehmen und anderen Verlockungen wie dem Griff nach meinem Smartphone widerstehen.
Nur wenn wir uns als Menschheit wieder klarwerden, dass wir mit der Welt und dem Leben verbunden sind, werden wir als Spezies überleben. Der US-Soziologe Jeremy Rifkin spricht von einem Wettlauf – zwischen der Schaffung einer empathischen Zivilisation und eines Bewusstseins für die Gesamtheit des Lebens auf der Erde einerseits und der Bedrohung durch Klimawandel und der Zerstörung durch Massenvernichtungswaffen andererseits.6
Die Chancen stehen gar nicht so schlecht, dass wir das schaffen. Sie fragen sich vielleicht, ob unser Schicksal nicht schon besiegelt ist – nicht wenige sprechen davon, dass es eh schon zu spät sei und die Menschheit nicht in der Lage, den Kollaps zu verhindern. Der Blick in die Geschichte zeigt aber, dass die Menschheit in den letzten Jahrhunderten und Jahrzehnten bereits näher zusammengerückt und empathischer geworden ist. Dazu haben nicht zuletzt die zunehmende Vernetzung und verbindende Technologien beigetragen. Die positiven Folgen sind zum Beispiel die breite Ächtung von Folter und Völkermord, die Anerkennung der Menschenrechte und die gewachsene Toleranz bezüglich Religionen und sexueller Orientierung.6,7 Weltweite Umfragen berichten, dass die Hilfsbereitschaft von Menschen gestiegen ist – mehr als sieben von zehn Erdbewohnern haben 2022 Geld oder Zeit gespendet oder einer unbekannten Person geholfen.8 Obwohl wir am Rande einer Klimakatastrophe stehen, erweitert sich gleichzeitig unser Empathiehorizont – mit einem globalen Social-Media-Netzwerk, einer weltweiten Wissensbibliothek und einer globalisierten Weltwirtschaft.9 Wir identifizieren uns mit einem immer größeren Wir – von Stämmen zu Nationen, von Dörfern zu Megastädten. Und genau darum geht es. Als Menschen auf dieser Erde müssen wir unser Verständnis von uns selbst erweitern, sodass es neben unserer Familie und unserem sonstigen Umfeld auch die gesamte menschliche Zivilisation und das gesamte Netz des Lebens miteinschließt.
Allerdings ist nicht gesagt, dass sich unser Empathiehorizont automatisch kontinuierlich erweitert. Das machen die Konflikte und Kriege klar, die in den letzten Jahren ausgebrochenen sind, und wir können gegenläufige Entwicklungen beobachten, zum Beispiel in den USA. Auch deuten aktuelle Forschungen in Sachen Toleranz und Offenheit darauf hin, dass die Wertehaltungen in verschiedenen Teilen der Erde eher auseinanderdriften könnten.10
Die Menschheit besitzt also ein grundsätzliches Potenzial für den erforderlichen Bewusstseinswandel hin zu einem größeren Wir, aber die Nutzung dieses Potenzials ist kein Selbstläufer. Nur wenn wir die Entwicklung dieses größeren „Wir“ stärken und beschleunigen, können wir die anstehenden Probleme gemeinsam lösen und verhindern, dass wir in einer auseinanderfallenden Welt von Wir-gegen-die-anderen landen. Das Schöne daran: Wer diese Verbundenheit stärkt, trägt nicht nur zur Rettung der Welt bei, sondern bereichert auch seine Beziehungen und verbessert damit ganz nebenbei sein Leben. Ähnliches gilt für die Verbundenheit mit der Natur: Wer sich geistig, emotional und durch eigene Erfahrungen der Natur nahe fühlt, wird sich nicht nur eher für ihren Erhalt einsetzen, sondern fühlt sich wahrscheinlich auch besser, vitaler und glücklicher.11–13 Naturverbundene Menschen berichten auch von größerem persönlichen Wachstum.14
… und ein längeres „Jetzt“
Lassen Sie uns die räumliche Dimension nun um die zeitliche Dimension ergänzen. Wir stellen dem „größeren Wir“ ein „längeres Jetzt“ an die Seite, also einen Blick weit zurück und in die lange Zukunft. Können Sie vor Ihrem geistigen Auge einen Film entstehen lassen, der vom Anbeginn des Lebens auf der Erde bis in die Zukunft reicht? Wie hat das ausgesehen, als sich erstes Leben im Meer entwickelte? Als erste Pflanzen anfingen, Sauerstoff zu produzieren? Als Tiere an Land gingen und später anfingen, ihre Jungen zu säugen? Und als schließlich die Urzeitmenschen um das Feuer saßen? Und welche Geschichten werden sich wohl unsere Urururenkel einmal erzählen über unsere Zeit des großen Wandels?
Ich bin also eine Art Bindeglied zwischen meinen Großeltern, Urgroßeltern und den vielen Generationen davor und meinen Kindern und allen Generationen, die noch folgen. Eine Perspektive, die die Dinge in ein anderes Licht rückt, oder? Dabei sind diese Gedanken in der westlichen Welt nicht neu: Bereits 1972 beschreibt die Forschergruppe um Dennis Meadows in der vom Club of Rome beauftragten Studie Die Grenzen des Wachstums, dass die Lösung der drängendsten Probleme der Menschheit ein verändertes Denken in zwei Dimensionen braucht: Zum einen gilt es, räumlich gesehen über die eigene Familie, Arbeit, Nachbarschaft, Stadt und das eigene Land hinaus einen globalen Standpunkt einzunehmen. Und zum anderen geht es darum, in der zeitlichen Dimension über die kommende Woche, die nächsten Jahre und die eigene Lebensspanne hinaus auch die Lebensspanne der Kinder mitzudenken.15
Warum es notwendig geworden ist, dass wir als Menschheit unseren Verantwortungsbegriff ausdehnen, begründet Hans Jonas 1979 wie folgt: Technologische Entwicklungen haben zu einer gestiegenen menschlichen Handlungsreichweite in Raum und Zeit geführt.16 Schon in den 1970ern hatten die modernen Technologien unter anderem durch die Nutzung der Atomenergie und durch das zunehmende Ausmaß an...