E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Reihe: Ecco Verlag
Sironic Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7530-0108-1
Verlag: Ecco Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman | Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2025 | Gewinnerin des open mike 2019 I Shortlist Puchheimer Literaturpreis 2025
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Reihe: Ecco Verlag
ISBN: 978-3-7530-0108-1
Verlag: Ecco Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine erste Liebe zwischen Festhalten und Vernichten, Aussterben und Weiterleben
Es brennt. In den Wäldern und auf den Screens. Die 15-jährige Era lebt mit ihrer Mutter am Waldrand und versucht dem schleichenden Prozess der Zerstörung etwas entgegenzusetzen, indem sie das Aussterben der Vögel dokumentiert. In einem Stream beobachtet sie ihre Mitschülerin Maja und deren Schwester Merle, die auf der benachbarten Lichtung Festplatten in die Luft jagen. Maja ist die Tochter zweier Momfluencerinnen, die versucht, die Erinnerungen an eine öffentliche Kindheit auszulöschen. Während Era Notizbücher führt, Zeichnungen anfertigt und all das Wissen, auf das sie Zugriff hat, zu ordnen versucht, bildet Maja eine zerstörerische Gegenkraft. Dennoch sind Era und Maja verbunden in ihrer Suche nach Intimität und analogen Reizen. Während die Turteltaube ausstirbt, verlieben die beiden sich ineinander. Aber nicht nur die Vögel sind bedroht: Als ein großflächiger Brand den Wald zerstört, verlieren auch die Mädchen einen bedeutenden Teil ihres Lebensraums.
Souverän und klug überzeugt Sironic mit einer neuen literarischen Stimme.
»Eine wilde, witzige, weise Expedition in unsere Zukunft.« Julia von Lucadou, Autorin von »Die Hochhausspringerin«
»Ein dichtes und vielschichtiges Debüt, dessen rund 200 Seiten in Nullkommanichts weggelesen sind, aber umso länger nachhallen und zum Nachdenken anregen.« Alexandra Friedrich, NDR
Fiona Sironic (*1995 in Neuss) studierte Sprachkunst, Kreatives Schreiben und Gender Studies in Hildesheim und Wien, wo sie inzwischen als freie Schriftstellerin lebt. Sie gibt außerdem Workshops und beschäftigt sich in ihrem journalistischen Schreiben mit digitalen Spielen. Für ihre literarischen Texte erhielt Sironic diverse Preise, Stipendien und Nominierungen. Sie war beispielsweise nominiert für den Wortmeldungen Förderpreis, gewann den Open Mike 2019 und erhielt sowohl das Arbeits- als auch das Startstipendium des BMKÖS, war außerdem Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses und der Kölner Schmiede und erhielt im Rahmen des Deutschen Preises für Nature Writing 2024 eines der Werkstatt-Stipendien für einen Auszug aus ihrem Debütroman »Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft«.
Autoren/Hrsg.
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5: Vorletzter Frühling
Turteltauben
Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft. Pappbecher, Aludosen, Plastikflaschen. Die Luft ist warm. Der Wald ist mit Kiefern. Man kann den Dreck an ihren weißen Sohlen sehen. Sie tragen die neuesten Sneakers. Sie tragen dunkle Tücher vor dem Mund. Sie haben lange braune Haare und verpixeln ihre Augen. Eine ist groß, so groß wie ich vielleicht, eine ist klein, so klein, trotzdem zündet sie die Lunten an. Niemand spricht. Die Große leitet an. Beide schauen zur Begrüßung immer in die Kamera und nicken. Dann graben sie ein Loch, werfen was rein, füllen es auf, zünden an, rennen weg, aber nur so weit, dass sie nicht mehr im Bild sind, BUMM! Und kommen dann wieder und schauen sich lachend um, wie es den gesprengten Gegenständen geht. Die Große hat eine Strahlkraft. Ich weiß noch, ich war anfangs verwirrt davon, bis es dann so lange da war, dass ich es einordnen musste. Ein Crush. Ein Begehren. Es ist schon da, als ich nur die Streams kenne. Ein Flirren in den Organen. Ich weiß sogar, dass sie eigentlich Maja heißt. Die Kleine heißt Merle. Der Kanal heißt FOAMO. Der Name ist ein Kofferwort aus dem Akronym Fomo und dem englischen Wort Foam; es kreuzt also die Angst zu verpassen mit dem Schaum. Ich verfolge den Stream seit einer Weile und weiß zu Beginn der Geschichte noch nicht so genau, warum.
Ich sitze zu der Zeit viel in meinem Kinderzimmer, auf dem Bürostuhl, so einem aus Netzstoff, der über meinen Nacken hochgeht, an meinem Rücken klebt. Die Hütte, die ich zusammen mit Mama bewohne, ist voll mit diesen netzbasierten Möbeln, Sesseln und Betten, deren Härte man an Gewinden einstellen kann. Neben der Technik sind sie die einzigen Teile, die Mama neu gekauft hat. Ihr Rücken beugt sich da schon ein bisschen, das macht ihr zu schaffen. Ich minimiere den Livestream, um in den anderen Spalten der Desktop-App Hydraulikpressen zu sehen, die z. B. Seife oder Badeenten zerstören. Notification ploppt auf: Gestern starb die vermeintlich letzte Turteltaube in Gefangenschaft. Es war an der Zeit. Ich hole aus meinem Schrank das Buch, in dem ich die ausgestorbenen Tiere abspeichere, klebe, hefte: jedes eine Doppelseite, alles, was mir dazu in die Finger fällt, Platzhalterbilder, kleine Steckbriefe:
Die Turteltaube (Streptopelia turtur) war ein mittelgroßer Vogel aus der zentralen Paläarktis. Sie wurde zeitlebens gehypt als Symbolbild normativer Beziehungsmodelle und unpassender Anthropomorphisierungen. Dafür konnte sie nichts, rest in power.
BUMM! In einem der Tabs zerquetscht eine Hydraulikpresse eine volle CD-Spindel. Ich schließe das Tierbuch.
Das Kinderzimmer: klein, großer Bildschirm, Jalousien unten, dunkles Holz, aus dem die Hütte besteht, und dann halt der Schreibtisch, der hier noch Kinderzimmer ist, also ein Chaos: solche Massen an Washi-Tape, an unterschiedlichen Stiften und Farben, Flaschen voller Klebstoff; es riecht so. Aus den Massen erhebt sich der Bildschirm, vor dem ein Mikrofasertuch liegt, mit dem ich den Staub von Nasen wische, die über meinen Bildschirm laufen.
Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft. Auf ihrem Kanal machen sie das. Auf einem Zweitkanal liegt ein Fotobook irgendwo der Witterung ausgesetzt, und man kann via Stream zusehen, wie es jeden Tag ein bisschen mehr verlottert, Schicht um Schicht abgetragen wird. Die privaten Streams sind nicht populär, zumindest sind die Views nicht so hoch. Sie sind eine Art Überbleibsel. Mama sagt manchmal, die privaten Streams erinnern sie an das alte Internet, das sie gerade noch so miterlebt hat, das vor den Konzernen kam und seinen Bewohner*innen ein wohliges Versprechen gab. In dem die Möglichkeit öffentlicher Äußerungen noch keine Aufstiegsfantasien barg, sondern eine anarchische Freude am nichtkommerziellen Netzwerken. Vor den Trollen war das. Sie sagt, durch die Fragmentierung der medialen Welten hätten wir ein Stück dieser Anarchie zurückbekommen. Man müsse nur aufmerksam bleiben. Die Reste der spätkapitalistischen Influencerkulturen würden noch die Wege verkleben.
Auf dem Dach der Hütte, die Mama und ich bewohnen, befindet sich eine Anlage zur Aufbereitung von Regenwasser, die unsere hauptsächliche Wasserversorgung darstellt, weswegen Mama dosiert. Ich stehe manchmal lange vor dem vollgelaufenen Waschbecken und schaue winzigen Seifenblasen beim Platzen zu, während auf einem Bildschirm in der näheren Umgebung der Stream läuft. FOAMO. Ich tauche zum Haarewaschen ab, sodass die Ohren im Schaum liegen. Es knistert. Es knallt. Es knallt auf kleinste Art und Weise. Im Hintergrund rascheln die FOAMO-Schwestern beim Aufbau einer Großexplosion.
Als ich den Stream das erste Mal verfolgt habe, starb gerade der letzte Kakapo, ein Bodenbrüter. Er war schon lange vom Aussterben bedroht, war flugunfähig und hatte einen schlechten Orientierungssinn, sodass er, einmal zur Futtersuche aufgebrochen, oft sein Nest nicht wiederfand; das Ei erfror.
Es gab einen seltsamen Nachhall. Es gibt diesen seltsamen Nachhall an jedem Samstag. Ein Knall. Ein Echo: Ich höre einen zweiten, kleineren Knall. Am Anfang hielt ich es für einen Fehler der Tonaufnahme. Eine Dopplung der Spur.
Am Anfang ging es noch um Cola und Mentos: Die FOAMO-Schwestern hoben Löcher aus, warfen Unmengen an Kaubonbons hinein. Dann errichteten sie ein Gestell, in dem über jedem Loch ein mit Cola gefüllter Ballon hing und über jedem Ballon ein Nagel, und wenn sie eine Schnur zogen, dann fielen die Nägel, und die Ballons platzten, und die Cola lief in die Mentos, und es schäumte. Das Lachen der Kleinen, Merle heißt sie, die ich in den Streams hab älter werden sehen. Am Anfang war sie vielleicht elf, inzwischen so dreizehn. Die Große hat sie dann im Arm. Maja ist ein Jahr älter als ich. Ich weiß nur, dass sie Maja und Merle heißen, wegen des Nachhalls. Weil Mama sagt: »Jetzt geh doch endlich mal raus«, an einem dieser sonnigen Samstage, und ich ihr das nicht übel nehmen will, eigentlich würde sie wahrscheinlich selbst gerne mehr rausgehen, aber sie hat da gerade dieses Forschungsprojekt zum Early Internet, für das sie die archivierten Foren sichten muss, und sie lässt sich leicht ablenken: Wenn sie nicht mit Scheuklappen in einem abgedunkelten Raum sitzt, hat sie eine Aufmerksamkeitsspanne von fünf Minuten, deswegen wohnen wir auch so weit draußen ohne Nachbarn an diesem Waldrand. Deswegen und weil Mama sagt, in der Stadt geht es nicht mehr lange gut. Es gibt die Maßgabe, sich an Sommertagen, die es auch im kalendarischen Frühling und Herbst gibt, von größeren Asphaltflächen fernzuhalten. Um zum Asphalt zu kommen, muss man von der Hütte aus ein bisschen laufen, zu der Schnellstraße, auf der fast niemand mehr fährt. Ich setze mir also einen Sonnenhut auf und ziehe Wanderschuhe an und gehe raus und höre den Frühling / den Knall, der heute kein Nachhall ist / sein kann, weil ich den Stream ja gar nicht aktiviert habe, kontrolliere das aber zur Sicherheit noch mal, ob der Stream auf meinem Mobiltelefon vielleicht noch läuft und deswegen so ein Knall durch die Kopfhörer, aber im Gegenteil: Er ist sogar ein bisschen gedämpft. Ich ziehe die Kopfhörer ab und gehe weiter, trete auf ein Schneckenhaus, versehentlich. Ich bleibe stehen und entdecke ein Feldlerchennest. Von den Bäumen fällt alles ab. Es ist leise. BUMM! Es wird lauter.
Hinter einem Baum stehend, kann ich sie jetzt sehen. Sie werfen Festplatten in die Löcher. Das ist der Moment, an einem dieser sonnigen Samstage, in dem ich feststelle, dass die Person, die ich mir schon so lange im Stream anschaue, die digital anonymisierte Maja ist, die ältere der beiden Schwestern, Maja und Merle, M&M. Maja, die ich ja kenne, aber nur aus der Ferne, weil der Schulhof eine größere Asphaltfläche ist. Die ich aber, das weiß ich noch, aus der Ferne schön finde, vielleicht schon mal zu lange angeschaut habe. Aus der Nähe kenne ich sie, wegen ihrer Mamas, aus den früheren Videos. Ich stehe hinterm Baum und atme flach. In der Schule benimmt sich Maja unauffällig. Sie ist keine, die dafür bekannt wäre, Sachen anzuzünden oder so. Ich kenne sie zuerst nur vom Hörensagen auf dem Hof und aus der Ferne und dann vom Nachhall, dem ich folge, bis ich an der Lichtung stehe und in real life das sonst digital unkenntlich gemachte Gesicht sehe und der Figur aus den Streams zuordnen kann. Ihre Mamas sind fame: Sie haben als Jugendliche angefangen, virale Videochallenges zu reproduzieren, und konnten sich eines Tages von Markenkooperationen und plattforminternen Werbeeinnahmen finanzieren, sodass sie mit Kolleg*innen in eine Villa zogen, in der alle immer das Gleiche machten, nämlich eben das. Als die vom Management vereinbarte, einjährige Creator Residency vorbei war, zogen die anderen aus. Majas Mamas kauften das Haus und blieben. Dann haben Majas Mamas ihre beiden Schwangerschaften und das Aufwachsen ihrer Kinder dokumentiert. Maja ist schon seit ein paar Jahren nicht mehr in den Videos zu sehen. Trotzdem kann ich ihre ersten Schritte googeln.
Ich vermute zu der Zeit, dass die beiden Mädchen deswegen die Augen verpixeln / die Tücher und oder Masken tragen. Damit niemand weiß, dass sie es sind. Inzwischen weiß ich das natürlich aus erster Hand: bloß keine Markenzeichen entwickeln, interpretativ herumirren irgendwo zwischen Sturmhaube und zwinkerndem Emoji, der ja, wie Mama erzählt, durch seinen Gebrauch in Forendiskussionen das Symbol des Patriarchats geworden ist. Später lerne ich: Sie...