Skema / Škema | Das weiße Leintuch | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 255 Seiten

Skema / Škema Das weiße Leintuch


1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-945370-94-0
Verlag: Guggolz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 255 Seiten

ISBN: 978-3-945370-94-0
Verlag: Guggolz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Antanas Škema (1910-1961) hinterließ einen Roman, der bis heute bedeutenden Einfluss auf die litauische Literatur ausübt: 'Das weiße Leintuch'. Geschrieben zwischen 1952 und 1954, wurde er noch nie zuvor ins Deutsche übersetzt. Der Protagonist Antanas Garšva, ein litauischer Exilschriftsteller, arbeitet als Liftboy in einem vielstöckigen New Yorker Hotel. Antanas Garšva, Alter Ego von Antanas Škema, ist vor den Sowjets aus Litauen geflohen, hadert aber mit der bigotten litauischen Leitkultur und der Trivialität der amerikanischen Konsumgesellschaft. In Rückblenden und Reflexionen versucht er seinen dramatischen Lebensweg zu verarbeiten und ihm einen Sinn zu geben, in der New Yorker Gegenwart findet er sich verstrickt in ein Dreiecksverhältnis mit seiner Geliebten Elena und ihrem Ehemann. Aus den aufwühlenden Episoden ergibt sich ein Puzzle des 20. Jahrhunderts, das Škema mit kraftvollem sprachlichem Reichtum schildert - ein Wirbel an Wahrnehmungen und Erinnerungen, die über Garšva hereinbrechen, um deren Bewältigung er mit immer neuen literarischen Anläufen ringt. Eindrücke von den Straßen New Yorks, Liedverse und Reminiszenzen an Litauen drängen assoziativ in den Text hinein, treiben den Protagonisten voran, bedrängen ihn. 'Das weiße Leintuch' erzählt aber auch von der Verantwortung des Schriftstellers in einer unsicheren Welt, von Formen der Anpassung und Möglichkeiten des Widerstands. In der alle Register ausschöpfenden Übersetzung von Claudia Sinnig ist der Roman nun auf Deutsch zu entdecken, in dunkler Schönheit und mit all seinen bis heute nicht beantworteten existenziellen Fragen.

Antanas Škema (1910-1961) wird im damals zum Russischen Reich gehörenden polnischen Lódz geboren, wohin sein Vater, ein litauischer Lehrer, versetzt worden war. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs flieht die Familie ins russische Hinterland, Škema durchlebt eine traumatische Kindheit, zunächst in Woronesch und dann während der russischen Revolution in der Ukraine. 1921 kehrt die Familie in das nun unabhängige Litauen zurück. 1929 beginnt Škema in Kaunas Medizin, später Jura zu studieren. Ab 1935 widmet er sich zunehmend dem Theater, er arbeitet als Schauspieler, später auch als Regisseur am Staatstheater Vilnius. 1944 flieht er vor der sowjetischen Besatzung nach Deutschland, wo er, wie Zehntausende seiner Landsleute, mehrere Jahre in Displaced Persons Camps lebt. 1947 veröffentlicht Škema einen Kurzgeschichtenband und verfasst erste Dramen, 1949 siedelt er in die USA über, wo er seinen Lebensunterhalt als Fabrikarbeiter und Liftboy verdient. In litauischen Exilkreisen engagiert er sich im Theater, verfasst zahlreiche Beiträge für Zeitungen und Zeitschriften der Emigrantenpresse und publiziert zwei weitere Novellenbände, Essays und Gedichte. Wegen seiner existenziellen Themen wird Škema als 'litauischer Camus' bezeichnet. 1961 stirbt er bei einem Autounfall in Pennsylvania.
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EINFÜHRUNG


BMT Broadway Line. Der Express hält. Antanas Garšva steigt aus. Sechs vor vier, Nachmittag. Er geht über den halb leeren Bahnsteig. Zwei Negerinnen in grünen Kleidern beobachten die Ankommenden. Garšva zieht den Reißverschluss seines schottischen Hemds zu. Seine Finger und Zehen sind kalt, im August, in New York. Er geht die Treppe hinauf. Seine blank geputzten Slipper glänzen. Am kleinen Finger der rechten Hand – ein goldener Ring, ein Geschenk seiner Mutter, ein Andenken seiner Großmutter. In dem Ring – eine Gravur: 1864, das Jahr des Aufstands. Ein blonder Aristokrat kniet ehrerbietig zu Füßen einer Frau. Vielleicht werde ich sterben, verehrte Dame, sollte ich umkommen, sind meine letzten Worte – ich liebe Sie, verzeihen Sie meine Kühnheit, ich liebe dich …

Garšva geht durch den Tunnel. In die 34th Street. In den Schaufenstern stehen Puppen. Warum baut man in diesen Schaufenstern keine Panoptiken auf? Einen wächsernen Napoleon zum Beispiel, die Hand in der Weste, und neben ihm – ein junges Wachsmädchen aus der Bronx. Das Kleid kostet nur 24 Dollar. Etikett – tick tick tick tick. Mein Herz schlägt zu schnell. Ich wünschte, meine Finger und Zehen würden warm. Es ist nicht gut, vor der Arbeit zu frieren. Die Tabletten habe ich in der Tasche. In Ordnung. Viele Genies waren krank. . Das Buch ist von Louis E. Bisch, M.D., Ph.D. Zwei Doktoren in einem. Der doppelte Louis E. Bisch behauptet: Alexander der Große, Cäsar, Napoleon, Michelangelo, Pascal, Pope, Poe, O. Henry, Walt Whitman, Molière, Stevenson – alles Neurastheniker. Die Liste ist überzeugend. Und ganz am Schluss: Dr. Louis E. Bisch und Antanas Garšva.

Und Antanas Garšva biegt nach rechts ab. Wieder eine Treppe. Zu viele Stufen, sie wiederholen sich. Der Surrealismus ist am Ende? Na und?! Ich werde die Annenkirche auf dem Washington Square sehen (zum Teufel mit Napoleon, der sie nach Paris schaffen wollte) und die hübschen Nonnen, die mit gelben Kerzen in ihren unschuldigen Händen hineingehen. Elena hat gesehen, wie die Nonnen 1941 von den Bolschewiken aus Vilnius verschleppt wurden. Sie wurden in einem kleinen, klapprigen Lastwagen fortgebracht, der Lastwagen ruckelte auf dem holprigen Pflaster, und die aufrecht stehenden Nonnen sind umgefallen, sie hatten wohl nicht genügend Kraft in den Beinen. An den Ecken der Ladefläche haben Wachen gestanden, sie stießen die auf sie stürzenden Nonnen mit Gewehrkolben zurück. Einer haben sie die Stirn aufgeschlagen, und die Nonne hat sich das Blut nicht abgewischt, sie hatten wohl kein Taschentuch.

Antanas Garšva geht durch die Glastür des Konfektionsgeschäfts Gimbels hinaus auf die Straße. Er hält sie für ein sommersprossiges junges Mädchen auf, das hindurchschlüpft, ihre Brüste sind eindeutig künstlich, das Paar für 67 Cent. Er wird sie nie wieder sehen. Elena – er wird sie nie wieder sehen. Elena, ich schenke dir den Ring mit dem Karneol und den liegen gebliebenen Tramway-Waggon auf dem Platz in Queens. Elena, du wirst mir einen Aristokratenkopf formen wie die Köpfe auf dem Karnies jenes Hauses in der Pylimo Straße, in Vilnius. Elena … du möchtest doch nicht, dass ich weine.

Antanas Garšva geht durch die 34th. In sein Hotel. Hier ist der Imbiss. 7Up, Coca-Cola, Sandwiches mit Schinken, mit Käse, italienisch mit Salat. Hier ist das Geschäft. Schwere Stiefel aus England, karierte Strümpfe. Elena, ich werde dir Strümpfe schenken. Du bist unordentlich, du ziehst dir deine Strümpfe nicht gerade an, die Naht ist verdreht, zieh sie aus, zieh sie aus. Die gekauften werde ich dir selbst anziehen. Ganz eng. Elena, es gefällt mir, deinen Namen zu wiederholen. Im Takt eines französischen Walzers. Ele na Ele na Ele na Ele na Ele na a. Ein bisschen Traurigkeit, ein bisschen Geschmack, Esprit. Pangloß war Professor der Metaphysico-theologico-kosmolonarrologie. Steine werden zum Festungsbau gebraucht, hat er erklärt. Straßen sind ein Verkehrsmittel, hat ein Verkehrsminister erklärt. Dein Name wird zur Erinnerung an dich gebraucht. Alles hat seinen Sinn. Ich möchte dich wieder küssen. Voller Sinn. Nur auf die Lippen, nur auf die Lippen. Ich werde mit magischer Kreide das Schwert von Tristan und Isolde auf deinen Hals zeichnen. Unterhalb deines Halses werde ich dich nicht küssen. Tick tick, tick tick. Gottseidank, Finger und Zehen sind nicht mehr kalt. Ele na Ele na Ele na Ele na Ele na a. Da ist es schon, mein Hotel.

Antanas Garšva geht durch die Tür »For Employees«, er winkt dem Watchman im Glaskasten zu, er zieht aus einer schwarzen Tafel eine weiße Karte. Auf der Karte – Nachname, Elevator operator, Tage, Stunden. Klack macht der Zeitstempel im Metallkasten. Vier Uhr und eine Minute. Das Herz macht tick, die Uhr klack. Die Watchmen machen nachts die Runde mit Uhren, die in Lederfutteralen auf ihren Bäuchen hängen, und stempeln die Uhrzeit. An den Ecken des Hotels sind kleine stählerne Pfosten montiert. Klack – gestempelt. Die Uhren sind wie die Huren, die durch das Haus gehen. Alle zwei Stunden darf ein Watchman eine Zigarette rauchen und die Uhr auf seinem erschlafften Bauch ausruhen. – schreibt ein litauischer Dichter.

Antanas Garšva geht die Treppe hinunter in den Keller. Er trifft den Neger, dem eine Eismaschine den rechten Arm bis zum Ellenbogen abgerissen hat. Der Neger fragt:

»Wie geht’s?«

Garšva antwortet:

»Gut, und dir?«

Der Neger antwortet nicht und geht die Treppe hinauf. Einmal hat er plötzlich Hitze gespürt, und sein Arm ist auf einen Eisblock gefallen, der Arm hat wahrscheinlich das Eis zum Schmelzen gebracht. Dieser Neger ist ein Fanatiker. Den eigenen Arm dem Eis opfern? Das ist eine Heldentat. Der Neger bekommt einen Dollar und vierzehn Cent pro Stunde.

Antanas Garšva geht durch die Flure im Keller. An den Wänden aufgereihte Blechtonnen. An den Decken Heizungsrohre. Man kann sie mit der Hand erreichen. Das ist unnötig. Meine Finger sind warm. Mein Organismus hat die Bluttransfusion von selbst erledigt. Es war unnötig, dass sich Leonardo da Vinci mit Anatomie beschäftigt hat. Er hätte besser noch ein weiteres malen sollen, ein Abendmahl auf Leinwand verfault nicht. Ich hätte besser nicht in die Kneipe gehen und mit dem sympathischen Mann von Elena sprechen sollen.

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Antanas Garšva betritt den Umkleideraum. Er bemerkt den üblichen Gestank. Im ersten Raum – die Toilette. Nur mit dünnen Trennwänden abgeteilte Sitze, wenn neben dir ein Nachbar hockt, siehst du seine Schuhe und die heruntergelassene Hose. Gleich daneben sind auch die Duschen und Spiegel. In den Vorschriften des Hotels heißt es: Ein Angestellter hat sauber und glatt gekämmt zu sein. Eine widerspenstige Dichtersträhne ist verboten. Weiterhin sind gelbe Schuhe verboten sowie das Rauchen in Räumen, in denen sich Hotelgäste aufhalten. Mir fallen die Worte ein, die der alte Kaplan immer an uns Kinder gerichtet hat: »Das ist ein Vorbild, sehr wohl. Dieses Kindlein, sehr wohl, ein schönes, sehr wohl, ein sauberes, sehr wohl, ein gewaschenes, sehr wohl.« Oh, wie wir den Musterschüler gehasst haben!

»Warum so traurig heute, Tony?«, fragt Joe, ein anderer Liftboy. Er ist ein stämmiger, rothaariger Kerl. Er sitzt auf der Bank und blättert in den Noten von . Er macht eine Ausbildung zum Bariton.

»Aš turiu apleisti jau …«, singt Antanas Garšva. »So fängt die Arie des Valentin auf Litauisch an.«

»Eine musikalische Sprache«, sagt Joe.

›Jetzt bin ich also ein Botschafter des litauischen Volkes‹, denkt Garšva.

Auf der rechten Seite – ein Durchgang und dahinter grüne Kleiderspinde. Antanas Garšva schließt seinen auf und öffnet den Reißverschluss seines schottischen Hemds. Er zieht sich langsam aus. Eine Weile ist er allein. Wenn es Vilnius nicht geben würde, würde Elena nicht von ihm erzählen. Wenn an der Wand keine Frau hängen würde (eine Geige in der Hand wie ein Gebetbuch, das Haar offen und blau), würde ich nicht über sie sprechen. Und ich hätte die Legende über das Cembalo nicht gehört und stünde nicht vor Gericht. Ein alltäglicher Vorgang, … und so weiter. Das Dreieck: Ehefrau, Liebhaber, Ehemann. Ein lituanisierter Schauspieler in , der winkt und spricht: »Ich bin der Liebhaber!« Was ist heute los mit mir? Ein Bild nach dem anderen. Vielleicht sollte ich eine Tablette schlucken? Heute ist Sonntag, heute ist ein schwerer Arbeitstag.

Antanas Garšva nimmt die Liftboy-Uniform vom Bügel. Eine blaue Hose mit roter Naht und eine Jacke in der Farbe...



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