E-Book, Deutsch, 1104 Seiten
Solomon Weit vom Stamm
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-10-402722-7
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wenn Kinder ganz anders als ihre Eltern sind
E-Book, Deutsch, 1104 Seiten
ISBN: 978-3-10-402722-7
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Andrew Solomon hat in Yale und Cambridge studiert. Unter anderem schreibt er für den New Yorker, Newsweek und den Guardian. Er ist Dozent für Psychiatrie an der Cornell University und beratend für LGBT Affairs am Lehrstuhl für Psychiatrie der Yale University tätig. Sein großes Buch über Depression »Saturns Schatten« war ein internationaler Bestseller und wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem National Book Award und der Nominierung für den Pulitzer Preis. Er lebt mit seinem Mann und seinem Sohn in New York und London. Für »Weit vom Stamm« erhielt er den National Book Critics Circle Award 2013, für »Weit und Weg« den ITB BuchAward 2019. Literaturpreise: National Book Award (Nonfiction) 2001 für »Saturns Schatten« (»The Noonday Demon«)
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II. Gehörlos
Am Freitag, dem 22. April 1994, erhielt ich einen Anruf von einem Mann, dem ich nie begegnet war, der jedoch in der meine Texte zur Identitätspolitik gelesen und nun gehört hatte, dass ich plante, über Gehörlose zu schreiben.[115] »Im Lexington Center braut sich was zusammen«, berichtete er. »Sollte keine Lösung gefunden werden, wird am Montag vor dem Zentrum etwas passieren.« Er nannte mir ein paar Einzelheiten. »Hören Sie, die Situation ist ernst.« Er hielt inne. »Sie haben nie von mir gehört. Und ich habe nie von Ihnen gehört.« Damit legte er auf.
Das Lexington Center for the Deaf in Queens – New Yorks führende Institution für Gehörlosenkultur, zu der die größte Gehörlosenschule im Staat New York mit 350 Schülern von der Vorschule bis zur Highschool gehört[116] – hatte gerade einen neuen Vorstandschef ernannt und damit eine Personalentscheidung getroffen, die vielen Schülern und Ehemaligen missfiel. R. Max Gould, ein hörendes Vorstandsmitglied, der gerade seinen Posten bei der Citibank verloren hatte, brachte sich selbst ins Spiel und wurde mit knapper Mehrheit gewählt. Das gab vielen gehörlosen Wählern das Gefühl, ihr Leben werde einmal mehr von hörenden Menschen bestimmt. Sofort bildete sich ein Ausschuss aus ortsansässigen Gehörlosenaktivisten, Schülervertretern, Vertretern der Fakultät und Vertretern ehemaliger Schüler und forderte ein Meeting mit dem neuen Vorstandsvorsitzenden, um Gould zum Rücktritt zu bewegen; doch ohne Erfolg.[117]
Als ich am Montag beim Lexington Center eintraf, demonstrierte draußen eine riesige Menge von Schülern. Einige trugen Reklametafeln zum Umhängen, auf denen zu lesen war: DER VORSTAND KANN HÖREN, ABER ER IST TAUB FÜR UNSERE ANLIEGEN, andere trugen T-Shirts mit der Aufschrift DEAF PRIDE. Und überall waren Plakate mit der Forderung MAX, TRITT ZURÜCK zu sehen. Schüler kletterten auf die niedrige Mauer vor dem Zentrum, damit die unten stehende Menge ihre Parolen sehen konnte; andere antworteten schweigend im Chor, wobei sich viele Hände bewegten und immer wieder dieselben Worte formten. Ich fragte die sechzehn Jahre alte afroamerikanische Schülervertreterin, ob sie auch für die Rechte der Schwarzen demonstriert habe. »Im Moment bin ich zu sehr damit beschäftigt, gehörlos zu sein«, sagte sie in der Gebärdensprache. »Meine Brüder sind nicht taub, also kümmern sie sich darum, was es heißt, schwarz zu sein.« Eine in der Nähe stehende gehörlose Frau warf darauf die Frage ein: »Wenn du etwas daran ändern könntest, gehörlos oder schwarz zu sein, wofür würdest du dich entscheiden?« Die Schülerin wurde verlegen. Eine andere Schülerin mischte sich ein: »Ich bin schwarz und gehörlos und stolz darauf, und ich möchte nicht weiß sein oder hören können oder in irgendeiner Hinsicht anders sein, als ich es jetzt bin.« Die erste Schülerin wiederholte die Gebärde für , dann brachen beide in Kichern aus und kehrten in die Streikpostenkette zurück.
Drinnen hatten Demonstranten einen Raum in Beschlag genommen, um ihre Strategie zu diskutieren. Jemand fragte Ray Kenney, den Leiter der Empire State Association of the Deaf, ob er Erfahrung damit habe, eine Protestaktion zu leiten. Er zuckte die Schultern und erwiderte in der Gebärdensprache: »Hier führen die Blinden die Tauben.« Einige Lehrkräfte meldeten sich krank, um an der Demonstration teilzunehmen. Lexingtons Leiter der Öffentlichkeitsarbeit sagte mir, die Schüler würden nur nach einem Vorwand suchen, nicht am Unterricht teilnehmen zu müssen. Das widersprach jedoch meinem Eindruck. »Glauben Sie, mit diesem Protest etwas erreichen zu können?«, fragte ich eine Lehrerin. »Der Druck hat sich aufgebaut – vielleicht seit Gründung der Schule im Jahr 1864«, gab sie mir mit deutlichen Gebärden zu verstehen. »Jetzt explodiert das Ganze. Nichts kann es mehr aufhalten.«
Schulen spielen im Leben gehörloser Kinder eine außergewöhnlich wichtige Rolle. Mehr als 90 Prozent aller gehörlosen Kinder haben Eltern, die beide hören können.[118] Sie werden in Familien hineingeboren, die ihre Situation nicht verstehen und oft schlecht darauf vorbereitet sind, mit ihr fertig zu werden. In den Schulen werden die Kinder dann erstmals mit der Gehörlosenkultur konfrontiert. Für viele bedeutet die Schule das Ende einer entsetzlichen Einsamkeit. »Bevor ich hierherkam, wusste ich nicht, dass es noch andere Menschen wie mich gibt«, erklärte mir ein Mädchen im Lexington Center. »Ich dachte, jeder in der Welt würde lieber mit jemand anderem sprechen, mit jemandem, der hören kann.« Mit Ausnahme dreier Staaten gibt es in den USA in jedem Staat mindestens ein Zentrum oder Internat für Gehörlose. Der Gehörlose identifiziert sich in hohem Maß mit seiner Schule. und gehörten zu den ersten Zeichen, die ich lernte.
Groß geschrieben bezeichnet eine Kultur, im Unterschied zu dem Attribut – eine Unterscheidung ähnlich der zwischen und . Immer mehr gehörlose Menschen behaupten, sie würden sich nicht wünschen, hören zu können. Sie hassen den Begriff – Gehörlosigkeit als Krankheit. Akzeptabler ist der Begriff – Gehörlosigkeit als Behinderung. Doch nichts geht über das Gehörlosigkeit als Kultur.
Die Aussage des heiligen Paulus in seinem Brief an die Römer: »Also kommt der Glaube aus dem Hören«, wurde lange Zeit dahingehend missdeutet, dass diejenigen, die nicht hören konnten, unfähig waren, zu glauben.[119] Deswegen durfte in Rom nur Eigentum oder Titel erben, wer ein Bekenntnis ablegen konnte. Aus diesem Grund begannen im 15. Jahrhundert einige Adelsfamilien mit der mündlichen Unterweisung ihrer gehörlosen Kinder.[120] Die meisten Gehörlosen mussten sich jedoch auf elementare Gebärdensprachen verlassen. In städtischen Umgebungen entwickelten sich diese zu kohärenten Systemen. Mitte des 18. Jahrhunderts engagierte sich Abbé de l’Épée für die in Armut lebenden Gehörlosen in Paris, lernte als einer der ersten hörenden Menschen deren Sprache und nutzte sie als Mittel, um ihnen das Lesen und Schreiben des Französischen beizubringen.[121] Dies war der Beginn der Emanzipation: Man musste nicht sprechen können, um die Sprachen der sprechenden Welt zu erlernen. 1771 gründete Abbé de l’Épée die Institution Nationale des Sourds-Muets de Paris, die erste Schule für Gehörlose. Anfang des 19. Jahrhunderts reiste Reverend Thomas Gallaudet aus Connecticut nach England, um sich über die Gehörlosenpädagogik zu informieren.[122] Die Engländer teilten ihm mit, ihre Methode der mündlichen Unterweisung sei geheim, so dass Gallaudet nach Paris weiterreiste, wo man ihn am Institut herzlich willkommen hieß. Gallaudet lud den jungen gehörlosen Laurent Clerc ein, ihn nach Amerika zu begleiten, um dort eine Schule zu gründen. 1817 errichteten sie das American Asylum for the Education and Instruction of the Deaf in Hartford, Connecticut. Die folgenden fünfzig Jahre waren goldene Jahre. Die französische Gebärdensprache vermischte sich mit den einfachen amerikanischen Zeichen und der Gebärdensprache auf Martha’s Vineyard[123] (wo es viele Gehörlose gab) zur American Sign Language (ASL). Gehörlose schrieben Bücher, nahmen einen Platz im öffentlichen Leben ein und waren erfolgreich. In Washington, D. C., gründete man 1857 das Gallaudet College, das Gehörlosen Weiterbildungsmöglichkeiten bot.[124] Abraham Lincoln ermächtigte das College, Diplome zu verleihen.
Nachdem die Gehörlosen zu funktionierenden Mitgliedern der Gesellschaft geworden waren, forderte man sie auf, ihre Stimme einzusetzen. Alexander Graham Bell war der Vorreiter des Oralismus, der sich im 19. Jahrhundert ausbreitete, einer Bewegung, die im Kongress von Mailand gipfelte, dem ersten internationalen Treffen von Erziehern Gehörloser im Jahr 1880, sowie in einem Edikt, das die Verwendung von Gebärden verbot.[125] Stattdessen sollten die Kinder sprechen lernen. Bell, der eine taube Mutter und eine taube Ehefrau hatte, verunglimpfte die Gebärdensprache als »Pantomime«. Da ihn die Vorstellung von einer »gehörlosen Variante der menschlichen Rasse« entsetzte, gründete er die American Association to Promote the Teaching of Speech to the Deaf, die danach strebte, Gehörlosen die Heirat mit Gehörlosen zu verbieten und taube Schüler vom Umgang mit anderen tauben Schülern fernzuhalten. Er forderte die Sterilisierung erwachsener Gehörloser und überredete einige hörende Eltern, ihre tauben Kinder sterilisieren zu lassen. Thomas Edison[126] sprang auf den fahrenden Zug auf, der den Oralismus als allein seligmachende Methode propagierte.[127] Als das Lexington Center gegründet wurde, ging es den Hörenden darum, den Tauben das Sprechen und Lippenlesen beizubringen, damit sie in der »wirklichen Welt« funktionieren könnten. Das völlige Scheitern dieses Traums führte schließlich zur Entwicklung der modernen Gehörlosenkultur.
In der Zeit des Ersten Weltkriegs wurden 80 Prozent der tauben Kinder ohne...