E-Book, Deutsch, 304 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 186 mm
Spiotta Die schönere Lüge
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-910372-41-2
Verlag: Kjona Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman. »Ein filmischer Roman über die Grenzen der Liebe und der Kunst, originell und verführerisch.« Elle
E-Book, Deutsch, 304 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 186 mm
ISBN: 978-3-910372-41-2
Verlag: Kjona Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dana Spiotta, 1966 geboren, wurde für ihre bislang fünf Romane vielfach ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrer Familie in Syracuse, New York. Zuletzt erschien im Kjona Verlag ihr Roman »Unberechenbar«, der auf der SPIEGEL-Bestsellerliste stand.
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Folge 32, Gastbeitrag von Meadow Mori
Dies ist eine Liebesgeschichte.
Mein Freund war mal anders. Jetzt ist er. Riesig. Er sagt, er hat Angst vor Enthüllungen. In Büchern, Artikeln. Angst vor Lügen, vor der Wahrheit. Vor allem.
»Vertrauen«, sage ich. »Hab Vertrauen. Irgendwann bin ich alt.«
»Trotzdem, du wirst diejenige sein, die mich verlässt«, sagt er. »Wart’s nur ab.«
»So ein Klischee«, sage ich.
Er lacht.
»Das ist es«, sagt er. »Das sind wir.«
Ich klettere auf ihn. Eins kann er richtig gut. Es geschieht langsam. Er beobachtet mich, ich spüre seine Augen. Er lacht, sein Lachen ist tief, und er bebt am ganzen Körper.
»Zigarre«, sagt er. Ich stecke eine an. Ich sitze in Mieder und Slip auf dem zerwühlten Bett und puste kurz auf die rote Glut.
»Das riecht widerlich«, sage ich.
»Das riecht köstlich«, sagt er und lacht wieder. Manchmal helfe ich ihm beim Anziehen, so wie jetzt. Ich knöpfe sein endloses Hemd zu. Es ist schwarz, dazu trägt er eine schwarze Hose mit Gummizug statt Reißverschluss und einen schwarzen Blazer, wenn er zu einer seiner Verabredungen geht. Er geht andauernd zu Verabredungen, aber ich gehe nicht mit. Er hat einen Tisch im Ma Maison, gleich an der Tür, man trifft sich dort zum Lunch und macht irgendwelche Deals. Leute kommen vorbei, man plaudert ein bisschen, er erzählt ihnen Geschichten, er bringt sie zum Lachen, und vielleicht ergibt sich was daraus.
Wenn er weg ist, streife ich durch sein Haus. Sein Bungalow hat drei Schlafzimmer und hinten einen nierenförmigen gefliesten Swimmingpool. Dass er hier gewohnt hat, wird irgendwann mal das wichtigste Verkaufsargument einer Immobilienmaklerin sein. Die Zimmer sind vollgestopft, vor allem mit Papier: vollgekritzelte Briefumschläge, Skizzen, redigierte Programmhefte von Samuel French Inc., Storyboards, ungeöffnete Briefe, Fotos, Drehbücher – so viele Drehbücher, Türme von Drehbüchern –, Quittungen, Zeitungsausschnitte, Stöße unbenutzten Briefpapiers aus Hotels in Prag, Paris oder Denver. Ich sortiere nicht, und ich mache auch nicht sauber. Er möchte nicht, dass ich etwas anrühre oder gar umräume. Sucht er etwas Bestimmtes, mühsam am Stock humpelnd, findet er zuweilen etwas anderes, eine bekritzelte Cocktailserviette oder eine Telefonnummer auf einer Streichholzschachtel. Findet er was Lustiges, eine Zeichnung vielleicht oder einen seiner Cartoons, oder was Schönes – eine Postkarte oder eine Origami-Blume –, überreicht er es mir mit einem Handkuss. Er ist großzügig, obwohl er meines Wissens kein Geld hat, auf die spezielle LA-Art wohlgemerkt, wie man in Los Angeles eben kein Geld hat, aber trotzdem schöne Sachen: einen Mercedes, kubanische Zigarren, eine Haushälterin, einen gefüllten Weinkeller mit Échezeaux, La Tâche und Romanée-Conti. Aber ich sehe die Rechnungen. Er tut, was er kann, um Geld zu verdienen. »Man muss sich alles warmhalten«, sagt er. Ich suche mir Arbeit, sage ich und das meine ich ernst. Aber er will das nicht. Er will, dass ich zu Hause bleibe, auch wenn er nicht da ist. Das akzeptiere ich; ich mag diese Tage der Einsamkeit. Und ich mag die Nächte mit ihm.
Ein neuer Tag, heute macht er mal wieder ein Voice-over. Mein Freund ist eine körperlose Stimme in einer sehr beliebten Fernsehsendung. Er ist alt und fett, aber seine Stimme ist voll und kräftig. Er klingt wie die Stimme Amerikas, die Stimme eines selbstbewussten, glitzernden, erfolgsgetränkten Amerikas voller Möglichkeiten, Ehrgeiz und Vitalität. Alle wollen diese Stimme hören. Die Leute denken dann, ach ja, so sind wir Amerikaner. Und dann werden sie traurig, aber auf die wohlige Art. All das macht seine Stimme mit ihnen. Bis heute.
Er liegt auf dem Bett, Kissen im Rücken, und beobachtet mich. Ich trage einen kurzen cremeweißen Morgenrock aus Satin, der bei jeder Bewegung leicht aufklafft. Vor mir steht ein Tablett mit Essen: ein Steak mit Röstkartoffeln, eine Portion Haricots verts, ein großes Glas Rotwein. Der Wein liegt seidig und warm in meinem Mund, und nach ein paar Schlucken muss ich lachen. Er sieht mir zu, und ich mag’s, wie komplett fasziniert er von mir ist.
Er seufzt.
»Was?«, frage ich.
»Das Alter ist ein Schiffbruch.« Er lässt mich beim Reden nicht aus den Augen. »Das stammt von de Gaulle. Die Franzosen wissen alles, und auch das wissen sie, selbst wenn du es nicht weißt.«
Dann wieder gibt es Momente, nach einer Talkshow, einer telefonischen Besprechung, wo ihm nicht danach ist, mir beim Essen zuzusehen. Dann gehen wir einfach schlafen. Heute zum Beispiel war es anscheinend ganz schön stressig. Als er nach Hause kommt, sieht er grau und erschöpft aus. Das ist für mich Altsein – dieses nackte, zermürbte Gesicht. Wenn junge Menschen schlecht drauf sind, müssen sie ganz schön dick auftragen, bis man es ihnen anmerkt. Aber bei alten Menschen ist das Einzige, was gegen einen hoffnungslosen Ausdruck hilft, viel Dramatik im Gesicht, viel, wie mein Freund es nennt, Humbug. Sobald sie sich nicht mehr anstrengen, guckt auf der Stelle das Elend durch.
Heute geht er sofort ins Bett. In solchen Fällen sehe ich mir manchmal alleine noch einen Film an, aber heute Abend habe ich das Gefühl, dass ich mich zu ihm legen sollte. Er schwitzt, und ich spüre, wie ruhelos er ist. Jede Bewegung fällt ihm schwer, sein Körper zieht ihn nach unten. Er rollt sich auf die Seite, sein Gesicht ist rot und schweißnass. Sabbernd schnappt er nach Luft.
»Brauchst du mehr Platz? Soll ich gehen?«, frage ich.
»Nein, nein.« Er sieht mich an. Was auch immer in seinem Atem aufgestiegen war, scheint sich zu verziehen. Schließlich flüstert er in der Dunkelheit: »Manchmal kriege ich einfach Panik, das macht es dann noch schlimmer. Dieser Körper, dieses Fleisch – ich fühle mich wie Fortunato in ›Das Fass Amontillado‹. Kennst du die Geschichte?«
Ich schüttele den Kopf. Und wische mir mit dem Handrücken über die Augen.
»Ach, die ist fantastisch«, sagt er, »ein raffinierter Mord durch Einmauerung. Verstehst du? Ich ersticke nicht wirklich, aber ich werde nach und nach von Fleischmauern eingeschlossen. Backstein für Backstein, bis ich ausgelöscht bin. Weißt du, wie viele Geschichten und Märchen von Einmauerung handeln? Oder davon, lebendig begraben zu sein? Das ist die elementarste aller Ängste.«
Er unterbricht sich, und ich höre seinen rasselnden Atem.
»Bleib hier bei mir, mein Schatz. Allein schon mit dir zu reden, beruhigt mich«, flüstert er.
Ich lege meine Hände an sein Gesicht. Drehe es zu mir, sodass er mich ansieht. Seine Augen sind dunkel und feucht. Sie sehen aus wie die Augen eines Jungen mit Lachfältchen. Er drückt die Wange in meine Hand. Er presst die Lippen auf meine Hand. Ich küsse seine Stirn, ich ziehe ihn an meine Brust. So an mich gelehnt schläft er schließlich ein.
Ich hab euch ja gesagt, es ist eine Liebesgeschichte.
Eines Tages, an einem der allerletzten Tage, wird daraus eine andere Geschichte. Aber bevor ich euch den Teil erzähle, möchte ich diesen hier erzählen. Den Anfang. Das Kennenlernen. Ich machte gerade meinen Abschluss an der Wake School, einer privaten kunstorientierten Highschool in Santa Monica. Es war 1984. Ich war eine sehr gute Schülerin; ich hatte keine Veranlassung, mich aufzulehnen, und fühlte mich wohl in der Schule. Meine Abschlussarbeit schrieb ich über ihn. Das war eine Art Stunt. Ich stand schon immer auf Stunts (und auf, ihr ahnt es, Streiche, Scherze, Spiele). Er habe alles übers Filmemachen gelernt, indem er sich zwanzig Mal Charlie Chaplins Lichter der Großstadt ansah, hatte er mal irgendwo gesagt. Hatte ich gelesen. Mein Projekt hieß »Eine Reaktion auf die Reaktion meines Lieblingsregisseurs auf das zigfache Ansehen von Lichter der Großstadt (Von der Nachahmung zur Ausschweifung).« Offizieller Kurztitel, (weil zu lang für die Zensurentabelle): »(Von der Nachahmung zur Ausschweifung)«. Mein Projekt bestand darin, mir innerhalb von drei Tagen zwanzig Mal den berühmtesten Film meines Freundes – seinen genialen Wunderkind-Kultfilm – anzusehen. Also immer hintereinander, außer im Schlaf. In der Schule durfte ich mir einen Raum mit einer Schlafcouch einrichten, auf der ich es mir bequem machen konnte, und bekam die Mahlzeiten geliefert (so eine Schule war das). Ich hielt die Gedanken fest, die mir beim Film kamen, und pinnte die Notizen an ein großes Schwarzes Brett im Korridor vor meiner Tür. Interessierte durften den Film gern mit mir zusammen ansehen oder auch einfach nur mir beim Sehen zusehen. Das Protokoll dieser zwanzig Durchläufe habe ich aufgehoben:
1. Durchlauf:
Fantastisch. Ich kann’s gar nicht abwarten, ihn noch mal zu sehen.
2. Durchlauf:
Alles sehr bewusst komponiert.
3. Durchlauf:
Die Figur, die erzählt, befindet sich immer im unteren rechten Bildausschnitt. Das ist ein Code, ein versteckter Code, den man festhalten kann. Bildfenster müssen durchquert werden, bruchlos und doch beherzt. Das ist verwegen, revolutionär und zugleich sehr kontrolliert und arrangiert.
4. Durchlauf:
Im Grunde nicht ganz konsequent in Komposition und filmischen Topoi. Hier und da ein wenig beliebig?
5. Durchlauf:
Vielleicht doch nicht beliebig, vielleicht sind die Brüche gewollt und machen den Film erst lebendig.
6. Durchlauf:
Beim sechsten Durchlauf geht man durch eine Art...




