E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Spiotta Glorreiche Tage
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8270-7693-9
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-8270-7693-9
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nik war immer der Künstler in der Familie, der für ein bisschen Geld in einer Bar jobbte. Und wenn das nicht reichte, gab es ja auch noch seine Schwester Denise. Jetzt, kurz nach seinem 50. Geburtstag und der Fertigstellung des angekündigten letzten Albums, ist er verschwunden. Und Denise sitzt da, liest in seinen ausufernden Tagebüchern, Chroniken genannt, die eine ganz andere Geschichte erzählen: die einer vollendeten Popstarkarriere mit allen Höhen und Tiefen - eine Mischung aus erfundenen Plattenbesprechungen, Interviews mit sich selbst und ausgedachtem Klatsch. Und sie liest auch über sich, wie er sie sah, die ihm so vertraute Schwester. Sie liest, um zu verstehen: ihren Bruder, sich selbst und nicht zuletzt, was es heißt, einen Traum zu haben in der gnadenlosen Welt des Alles-oder-Nichts - ganz ohne Kompromisse. Ein kluger und berührender Roman über Familie und unbedingte Liebe, über die Vielfältigkeit und Unzuverlässigkeit des Erinnerns und den bedingungslosen Drang, etwas zu erschaffen das bleibt.
Dana Spiotta, geboren 1966, wuchs in Kalifornien auf und lebt heute mit ihrem Mann und ihrer Tochter im Cherry Valley im Staat New York, wo sie, wenn sie nicht gerade schreibt, im ersten Stock ihres Hauses ein Restaurant betreibt.Dana Spiotta wuchs in Kalifornien auf und lebt heute mit ihrem Mann und ihrer Tochter im Cherry Valley im Staat New York, wo sie, wenn sie nicht gerade schreibt, ein Restaurant betreibt. Ihr erster Roman 'Lightning Field' (2001) wurde von der New York Times als eines der wichtigsten Bücher des Jahres geehrt. Ihr zweiter Roman 'Eat the Document' (2006, dt: 2008) stand auf der Shortlist für den National Book Award. 'Glorreiche Tage' war 2011 für den National Book Critics Circle Award nominiert.
Weitere Infos & Material
Sie sagte immer, es sei losgegangen, beziehungsweise ihr zum ersten Mal aufgefallen, als ihr Vater ihm zum zehnten Geburtstag eine Gitarre schenkte. So wollte es zumindest die immer wieder kolportiert und zur gemeinsamen Über-Erinnerung geschliffene Familienlegende, die sie allerdings für zutreffend hielt: Er veränderte sich in einem einzigen, genau festzumachenden Moment. Bis dahin waren Niks Lieblingsbeschäftigungen Mad-Hefte und aufwendige Tuschezeichnungen von Hunden und Katzen mit dem Auftreten exzentrischer Hipster. Er hatte ein festes Personal – Mickey, den zottigen Straßenköter, der Gras rauchte und Motorrad fuhr, Linda, die nuttige Afghanen-Hündin, die immer das Haar über ein Auge hängen ließ, und Nik Kat, sein Alter Ego, ein cooler Kater, der gern Streiche spielte und immer wieder mit einem blauen Auge davonkam. Nik Kat sprach den Leser direkt an, mit kurzen, unernsten Kommentaren wie »Bitte bloß nicht umblättern«. Denise trat als Little Kit Kat, das Wunderkätzchen, auf. Sie trug ein Cape und führte folgsam Nik Kats Befehle aus. Nik machte aus jeder Episode einen abgeschlossenen Band. Anfangs produzierte er drei oder vier Kopien mit Durchschlagpapier, später stürzte er sich in Unkosten und fertigte noch ein paar mehr im Copyshop an, aber der Umschlag war jedes Mal ein Einzelstück: Er zeichnete die Umrisse mit Magic Marker vor, die er dann mit buntem, aus Zeitschriften ausgeschnittenem Papier auscollagierte. Denise hatte irgendwo noch einen Karton mit seinen Zines. Ein Exemplar gab er Mom und ihr (sie mussten sich eins teilen), eins ging an seine aktuelle Freundin (Nik hatte immer eine Freundin), eins kam in eine Plastikhülle und wurde in seinem noch jungen Archiv abgelegt, und eins ging an ihren Vater, der in San Francisco lebte. Das Exemplar für seinen Vater signierte Nik und versah es mit der Limitierungsnummer, bevor er es in trickreich zugeschnittene braune Einkaufstüten verpackte, die er mit Tesa zuklebte. Er adressierte das Kuvert an Mr Richard Kranis. (Daneben stand immer in winzig kleinen Buchstaben Kronos. Das rührte noch aus einer Zeit, in der Nik jeder seiner Bezugspersonen den Namen und die Identität einer Gottheit zugewiesen hatte. Sein Dad war natürlich Kronos, und obwohl Nik seine kindliche Götter-und-Mythen-Phase schon lange hinter sich gelassen hatte, behielt sein Vater immer den Kronos-Beinamen in mikroskopischen Lettern.) Nik zeichnete den kompletten Umschlag voll und machte damit die Verpackung zur Verlängerung der Geschichte, die sich darin befand. Nachdem er das Heft an seinen Vater geschickt hatte, trug er die Nummern der Ausgaben und die jeweiligen Empfänger in sein Hauptbuch ein. Schon damals schien er sein eigenes Leben für künftige Forschungszwecke mit Anmerkungen zu versehen. »Selbstkuratierung oder Vergessenheit«, pflegte er zu sagen, als sie älter waren und Denise ihn wegen seines Archivierungswahns aufzog. Denise glaubte nicht, dass ihr Vater je auf diese Päckchen reagiert hatte, aber vielleicht tat sie ihm Unrecht. Sie fragte Nik nie danach. Ihr Vater schickte zu ihren Geburtstagen ab und zu Spielzeug, aber nicht immer, und nicht zu jedem Geburtstag. Sie erinnerte sich, dass er sie einmal eine Woche nach Weihnachten besuchte und eine ganze Wagenladung Geschenke mitbrachte. Denise bekam damals ein kleines Fahrrad mit abnehmbaren Stützrädern und lila Glitzertroddeln an den Lenkergriffen. Aber die bemerkenswerteste Überraschung gab es, als er zu Niks zehntem Geburtstag auftauchte. Nik und Denise lebten zu der Zeit in der Vista Del Mar, etwa zwei Blocks vom Hollywood Freeway entfernt. Ihre Mutter hatte dort einen kleinen, weiß verputzten Bungalow gemietet. (In seinen Comics nannte Nik das Haus Casa El Camino Real, was später zu Casa Real verkürzt wurde – ausgesprochen »Ray-Al« oder »re-ell«, je nachdem, wie sarkastisch man sich gerade fühlte –, und sie fanden es unendlich witzig, es so zu nennen, bis am Schluss sogar ihre Mutter Casa Real dazu sagte. Als Nik auf die Highschool kam, war er zu einem dieser Menschen geworden, die allem und jedem einen Namen gaben: seinen Autos, seiner Schule, seinen Bands, seinen Freunden. Jemand, der ihn gut kannte – zum Beispiel Denise –, erkannte seine Stimmung schon daran, welchen Spitznamen er benutzte. Nur seine Gitarren bekamen keine Spitznamen. Die wurden entweder mit ihrem Markennamen – die Gibson – oder ihrem Gattungsnamen – Bass – angesprochen, aber er hätte sie niemals als sein »Brett« oder so was bezeichnet oder sie gar mit einer Frau verglichen. Instrumenten Namen zu geben fand er unseriös.) Als sie in die Casa Real zogen, hatte Nik anfangs sein eigenes Zimmer, während Denise sich ein Zimmer mit ihrer Mutter teilte. Später bekam dann Denise Niks Zimmer, und Nik nutzte das hintere Esszimmer – das einen separaten Eingang hatte – als Schlafgemach, Räucherhöhle und Privatenklave. Wieder etwas später nahm er die komplette Garage in Beschlag. Nik tackerte Teppichreste an die Wände und baute sie zu einem schalldichten Proberaum und Aufnahmestudio um. Zu seinem zehnten Geburtstag wünschte sich Nik einen Kinobesuch mit ein paar Freunden und anschließendem Grillen im Garten mit Kuchen und Geschenken. So war es geplant. Nik hätte gern Dr. Seltsam gesehen, aber Denise war dafür zu klein, darum gingen sie ins Campus auf der Vermont Avenue, um sich den Beatles-Film A Hard Day’s Night anzusehen. Nik war ein kleiner Beatles-Skeptiker; er besaß alle ihre Singles, hatte sich aber noch nicht entschieden, ob sie nicht doch eher was für Mädchen waren. Der Film räumte seine letzten Zweifel aus. Denise erinnerte sich, dass alles daran sie begeistert hatte – die Musik natürlich, aber auch die schnellen Schnitte, der trockene Humor, der Mod-Stil, die juxigen Kommentare direkt in die Kamera. Die Stücke euphorisierten sie förmlich, und jedes einzelne davon hatte sich ihnen schon bei der zweiten Wiederholung des Refrains unauslöschlich eingebrannt. Sie blieben den ganzen Abspann lang auf ihren Plätzen sitzen. Wäre da nicht noch die Party gewesen, hätten sie sich den Film zweifellos direkt noch mal angeguckt. Als Denise Nik zögerlich hinaus ins Licht des Nachmittags folgte, war sie schockiert, dass die Welt immer noch so war, wie sie sie verlassen hatten. Da stand sie – in drückend heißer, diffuser Beatles-freier Farbgebung. Keine Speed Motion, keine Klimpergitarren. Aber das war nicht schlimm, denn sie hatten die Songs noch immer im Kopf und wussten, dass sie sich den Film so bald wie möglich noch mal ansehen würden. Sie fuhren mit dem Bus zum Hollywood Boulevard, um sich Schallplatten anzusehen. Dann gingen sie zu Fuß vom Hollywood Boulevard rauf zur Franklin, und Nik begann die Stücke aus dem Film a cappella zu singen; er traf die Charakteristik jeder Beatles-Stimme haargenau. Außerdem konnte Nik den Liverpooler Akzent imitieren und hatte sich bereits einige der Textzeilen eingeprägt (»Wir sind gut erzogen! Wir waren in der Hundeschule!«). Sie gingen im Gänsemarsch durch den Tunnel unter dem Freeway (»Er ist pingelig mit seinen Drums. Sie sind sein Ein und Alles!«). Nik und Denise waren immer noch berauscht vom Film, als sie in die Vista Del Mar bogen. Der Wagen ihres Vaters stand in der Auffahrt, ein weißer Chrysler Imperial. Nik rannte los. Sie fanden ihn im Garten bei ihrer Mutter. Er hatte seine Freundin nicht mitgebracht und trug ein Sportsakko, obwohl es in der Spätnachmittagssonne ziemlich heiß war. Nik lief zu ihm hin, und sie umarmten sich. Denise starrte ihn bloß an. Sie war klein für ihre sieben Jahre und recht zierlich. Sie sah nicht direkt wie ein Baby aus, aber wie ein Minimädchen. Sie hatte ihren Vater lange nicht gesehen und war in seiner Gegenwart ausgesprochen befangen. Er stand auf und packte sie mit beiden Händen an der Taille. Er war sehr groß. Denise sollte immer Schwierigkeiten haben, sich an sein Gesicht zu erinnern – natürlich kannte sie es von Fotos, aber sie konnte sich nie in Erinnerung rufen, wie es tatsächlich ausgesehen hatte. An das Gefühl seiner Hände, die sie umfassten, konnte sie sich aber genau erinnern. Er hob sie hoch und drückte sie an seine Brust. Dann legte er sie sich in die eine Armbeuge und strich ihr mit der freien Hand über die Wangen. »Glatt und weich«, sagte er und lächelte. Auf Fotografien sieht Denises Vater wie einer dieser Charakterdarsteller aus den Fünfzigern aus: Er ist groß und breitschultrig mit markanten Gesichtszügen. Hübsch ist er nicht. Er hat eine reine olivfarbene Haut und dichtes, glänzendes schwarzes Haar. Aber er sieht um Augen und Nase auch etwas aufgeschwemmt aus und wirkt älter, als er ist. Wenn sie heute Fotos von ihm studiert, wirkt er auf sie wie ein Mann auf dem sicheren Weg zu einem frühen Herzinfarkt, ein Mann, der offenkundig zu viel isst und trinkt. Als er sie damals auf dem Arm hielt, nahm sie nur wahr, wie gut er roch, wie hünenhaft er gebaut war. Wenn er dich hielt, wurde er die ganze Welt für dich. Sie war verlegen, aber sie ließ zu, dass er sie trug, sie auf die Wange küsste und sanft an ihren Zöpfen zog. Nik und Denise waren sich später einig, dass ihr Vater fürchterlich gewesen war. Er tauchte nur sporadisch und unangekündigt auf, und irgendwann kam er einfach gar nicht mehr. »Er wäre ein super Onkel gewesen«, meinte Nik bei ihrem letzten Gespräch darüber. »Der perfekte geschenkebeladene Einmal-im-Jahr-Onkel, der dir sagt, wie groß du geworden bist, und dann fünf Minuten mit dir herumbalgt, bevor er sich einen Scotch genehmigt und wieder verschwindet.« Als ihr Vater sich von ihrer Mutter trennte, war Nik fünf, daher hat Nik ein paar Erinnerungen an das Leben mit ihm. Denise war damals zwei und hat keine. Und als Nik noch keine...