Stalder | Veilchenblau | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Stalder Veilchenblau

Erinnerungen
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-03981-007-9
Verlag: edition bücherlese
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erinnerungen

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-03981-007-9
Verlag: edition bücherlese
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Da lässt einer den Vorschlaghammer fürs Grobe aufs rotglühende Eisen sausen. Kann das Heinz Stalder sein, dessen Handwerkszeug nicht das Geringste mit einem Hammer zu tun hat? Der Autor, der stets Sinn fürs Feine, Differenzierte, für Treffsicherheit und ausgefeilte Stilistik bewiesen hat? Er ist tatsächlich dieser junge Mann, der - geht es nach den Plänen des Vaters - ein «zuschlagendes Handwerk» lernen soll und schliesslich mit dem Bleistift, einem Geschenk seiner Schwester, reüssiert. Zum Glück seiner Leser hat sich Heinz Stalder an deren Empfehlung «aufzuschreiben, was ihm durch den Kopf geht» gehalten. Und nun, etliche Jahrzehnte und viele Reportagen, Bücher und Theaterstücke später bewegt sich der gewitzte Autor auf den Spuren seiner an überraschenden Geschichten reichen Biografie, wendet sich mal hier-, mal dorthin, entdeckt auf dem Weg manche Besonderheit, lässt Umwege nicht ausser Acht, liebt das Mäandernde der mit Fabulierlust und Finesse vorgetragenen Miniaturen. Denkbar gross und spannend sind die Wechsel, wenn er auf Sieben-Meilen-Stiefeln die Zeiten durchreist: von den Äckern und Wiesen im Bernbiet nach London und von dort in die finnischen Wälder und zurück in die Zentralschweiz. Und überall begegnen dem Leser Menschen, die man wie diese Geschichten noch lange erinnern wird.

Heinz Stalder, 1939 in Allenlüften BE geboren, lebt und arbeitet als freischaffender Schriftsteller in Kriens und verbringt seit mehr als fünfzig Jahren die Sommer in Finnland, der Heimat seiner Frau. Bis 1999 engagierte er sich neben dem Schreiben als Primarlehrer in Kriens. Sein umfangreiches Werk versammelt mehrere Romane, Theaterstücke, Hörspiele und zahllose literarische Reportagen für die NZZ, du und Das Magazin. Studien- und Stipendienaufenthalte führten den, zunächst als Bau- und Kunstschlosser, anschliessend als Lehrer ausgebildeten Autor nach London und New York. Writer in Residence am University College London. Mehrere Werkjahre und Preise (Weltipreis der Schillerstiftung; Kunstpreis der Stadt Luzern; Schweizer Kinder- und Jugendmedienpreis; Basler Hörspielpreis; bestes Mundarthörspiel ARD, ORF, SRF).
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All you need is love mit der Königin der Nacht


Im Sommer vor der für November 1979 geplanten Uraufführung besuchte uns Werner Düggelin mit seiner Partnerin Maja Hoffmann in unserem abgelegenen finnischen Sommerhaus. Zu siebt lebten wir für eine ganze Woche in den zwei sehr einfachen Blockhäusern.

Ob das das wohl gut ginge? In beengten Verhältnissen Dügg und Maja, die Kinder, und eine Schulfreundin der Töchter war auch noch mitgereist.

Frisch und Dürrenmatt, beide hatten Dügg nach intensiven Arbeitsgesprächen und zum Teil heftigen Auseinandersetzungen jeweils in ihre Sauna eingeladen. Er soll abgelehnt haben, wollte nicht auch noch mit ihnen schwitzen.

«Keine Sauna!», erklärte der gewiefte Regisseur.

Es gab kein fliessendes Wasser, keine Elektrizität. Das Wasser musste aus dem Brunnen unten am Strand hochgeschleppt werden. Für den täglichen Heisswasserbedarf wurde ein am Saunaofen angebrachter Tank aufgefüllt. Als der Rauch der verbrannten Wacholder-, Birken-, Tannen- und Kieferscheite aus dem Kamin stieg, schnupperte Dügg wie ein Wildhase. Kam noch der Teergeruch von den russgeschwärzten Wänden der finnischen Badestube dazu. Und als meine Frau die Zweige junger Birken zu Quasten für das Anpeitschen der Blutzirkulation zusammenband, überwand Dügg seine Vorurteile und wagte einen Versuch.

«Ein Jungbrunnen!», prustete er, als er nach einem Sprung vom Bootssteg und langem Tauchgang aus dem See auftauchte. Nachmittags, nach den intensiven dramaturgischen Arbeiten an meinem Text, packte ihn das Saunafieber. Er half bei allen Vorbereitungen eifrig mit, studierte das Aufschichten des Holzes im Ofen und fand, wir sollten die Arbeit am Pestalozzi auf die Bänke der Sauna ausdehnen und die Kinder miteinbeziehen.

Abend für Abend erfand er für sich und die Kinder Spiele. Unglaublich, was ihm da – beflügelt durch die Fantasie der Kinder – einfiel.

«Es gab keine Pippi Langstrumpf und keine Ronja Räubertochter mehr. Winnetou eine Quantité négligeable», sagen die längst erwachsenen Frauen heute noch.

In der Sauna, beim Schwimmen mit Dügg und Maja, beim Würstebraten am Kaminfeuer, beim engen Zusammensitzen am Tisch, beim Rudern und Umherstreifen im Wald, waren sie auf Besuch weilende alte Damen. Sie rebellierten mit Maria Stuart, sie sangen mit der Königin der Nacht: All you need is love. Als die Kinder ihm die Geschichte der wasserlösenden Prinzessin von Eboli erzählten, tanzte er mit ihnen zu Verdis Arie den Wassereimertanz.

Das Häuschen etwas höher im Wald hinter den Blockhäusern war das WC ohne Wasser. Besetzt war das Plumpsklo, wenn die Tür weit offenstand. Sass man auf dem Thron, war der Blick frei auf Erlen, Eschen, Wacholder, Birken und Kiefern, dahinter der blaue See, am Himmel die weissen Schönwetterwolken.

«Das schönste Scheisshaus der Welt!»

Im Wald staksten zweifelsohne Elche durchs Unterholz. Wir sammelten jeden Tag den blauen Überfluss der Heidelbeeren. Wir sahen die Losungen der grossen Tiere, folgten den Spuren ihrer Hufe, glaubten ihre leisen, kehligen Laute gehört zu haben, ein leibhaftiger Elch aber kam uns nie zu Gesicht.

«Der Elch», versicherte uns Aulis, unser Taxifahrer, der tierliebende Jäger und grosse Geschichtenerzähler, «der König und seine ebenso gekrönte Königin der Wälder sehen euch, ihr aber seht sie nicht.»

Als wir an einem Abend in der endlosen, hellen Dämmerung in einem von alten Entwässerungsgräben durchzogenen Wald Sumpfbeeren sammelten, verloren wir Dügg aus den Augen. Alle ängstigten sich. Ausser Maja. Sie versicherte uns, dass Dügg in der von ihrem Vater zum Naturreservat erklärten Camargue mehrmals seinen aussergewöhnlichen Orientierungssinn bewiesen habe.

Nach einer guten Stunde kam der verlorene Dügg zum Sommerhaus gerannt. Auf einer moosbewachsenen Lichtung hatte er eine Elchkuh mit zwei Kälbern entdeckt. Als er sich den Tieren vorsichtig nähern wollte, trat er auf einen im Moos liegenden dürren Ast, die Elchmutter begann sogleich aggressiv zu scharren, er bewegte sich rückwärts, stolperte in einen überwachsenen Graben. Die Elchkuh deutete seinen Sturz als Angriff, stakste auf ihren langen dünnen Beinen auf ihn los, die mächtigen Schaufeln bösartig gesenkt.

«Ob ihr’s glaubt oder nicht, ich sah mich schon aufgespiesst, da brach die Sonne durch die Wolken, ich lag wie auf einer Bühne in vollem Scheinwerferlicht. Wie ein Waldgeist, der von einem Sonnenstrahl besucht wird. Mutter Elch, geblendet, glaubt, ihre Kinder in Gefahr, trabt mit ihrem Nachwuchs hinter die Kulissen.»

Die Kinder hatten ihm die zauberhaft traurige Ballade vom hübschen Erdgeist und dem schillernden Sonnenstrahl erzählt. Die beiden verlieben sich, doch er erblindet im hellen Licht und der Sonnenstrahl erlischt in der unterirdischen Finsternis.

Wir waren trotz der offensichtlichen Parallelität der Geschehnisse überzeugt, dass Düggs Begegnung auf der Lichtung der Tatsache entsprach. Wer, wenn nicht er, sah, was uns verborgen blieb.

Die Rollen in meinem Ein Pestalozzi wurden hochkarätig besetzt. Die Hauptrolle spielte Hubert Kronlachner, der später Patrik Süskinds Kontrabass 600-mal spielte.

Die Proben, oft verbunden mit Mittagessen im Pfauen oder in der Kronenhalle, waren grösstenteils frei von Konflikten. In den zur Verfügung stehenden zehn Wochen wurde aus allen Beteiligten, die ich zumeist als Individualisten eingeschätzt hatte, eine bestens harmonierende Familie. Als ein junger österreichischer Schauspieler, den ich während eines längeren Aufenthaltes am Grazer Schauspielhaus kennengelernt hatte, mich darauf aufmerksam machte, ihm scheine die vorherrschende Pestalozzistimmung zu kritiklos, begann ich etwas genauer hinzuhören. Ein Dramaturg aus der Boswiler Workshopzeit, den ich zu einer Probe mitgenommen hatte, meinte einen etwas ins Schleppen geratenen eidgenössischen, durchaus sehenswerten Alpabzug beobachtet zu haben. Jedenfalls keine schul- und gesellschaftspolitische Revolte. Ich blieb aber im ganzen Theater der einzige, dem diese Einschätzungen zu schaffen machten.

Dreimal gab es Voraufführungen vor vollem Haus. Ich sass jeweils mit mir unbekannten Leuten in einer Loge, achtete auf ihre Reaktionen, äusserte mich ab und zu kritisch, liess da und dort eine abfällige Bemerkung fallen. Ich stellte keine helle Begeisterung, aber auch keine Missbilligung fest. Weder der Regisseur, noch die Techniker, vom Dramaturgen ganz zu schweigen, selbst Kolleginnen und Kollegen aus dem Ensemble, stellten Schwachstellen fest. Wer in den nicht ganz zwei Stunden aktiv auf der Bühne stand, wurde über den grünen Klee gerühmt. Die Regie, wie man sie seit Düggelins furioser Basler Zeit kannte, kam publikumsfreundlich, verständlich, wie eh und je brillant daher.

Dass ich, immerhin der Autor, trotz mehrerer Interviews mit Leuten aus dem Feuilleton, Radio- und Fernsehauftritten, höchst selten direkt angesprochen wurde, war mir lieber als fremde Hände auf den Schultern.

Vielleicht doch ein eidgenössischer Alpabzug im Nieselwetter?

Ich kam mir vor wie vor ein paar Monaten im Kaffeehaus zum Erzherzog Johann in Graz, wo ich während meiner Zeit als Gast am Schauspielhaus jeden Morgen einen grossen Braunen, zwei Croissants, später noch einen kleinen Braunen bestellte, die Zeitung las und von niemandem bewusst wahrgenommen wurde. Ein paarmal tafelte und trank ich mit Alfred Kolleritsch, Gerhard Roth, H. C. Artmann, Franz Innerhofer und Gerhard Polt. Einmal mit Ernst Jandl und Frederike Mayröcker. Wem diese Ehre im ersten Lokal der Stadt zuteil kam, musste mehr sein als ein gewöhnlicher Gast. Die meisten Morgengäste wurden mit ihren diversen Titeln angesprochen. Es wimmelte von Hofräten, Doktoren, Professoren, Exzellenzen, Grafen, Freiherren und Botschaftern. Als eine Schauspielerin eines Morgens im Erzherzog Johann anrief und den Herrn Professor Doktor Doktor hc unter meinem Namen ans Telefon verlangte, ich aufstand und zur entsprechenden Kabine ging, fiel den Kellnerinnen und Kellnern ein Stein von ihren unwissenden Herzen.

«Guten Morgen, der Herr Professor. Vielen Dank, Herr Professor Doktor Doktor hc. Wünschen der Herr Professor noch einen Schuss Schlagobers? Noch einen kleinen Braunen?»

Zürich war nicht Graz.

Bauernbub mit breitestem Berndeutsch, Schlosser, Kunstschmied und Lehrer auf dem zweiten Bildungsweg der ich war.

Einmal wurde ich zu einem ‹Pulloverznacht› in grosser Gesellschaft geladen. Als ich nach dem Austern-Apéro, dem leichten Bordeaux und dem schweren Braten den jovialen Gastgeber mit schon etwas schwerer Zunge fragte, was er denn beruflich mache und mich gleich für den ungewollten Fauxpas entschuldigte, klopfte er mir auf beide Schultern.

«Ich bin der Peter. Und ja, ich mache Geld.»

Kaum war an der Uraufführung vor dem erlauchten Premierenpublikum ein ‹unsauberes› Wort gefallen, begann im Parterre eine wüste Husterei, und als der Hauptdarsteller seinen grossartigen Monolog zelebrierte, als fünfzigjähriger Lehrer das verkrustete, nicht auf widersinnige Reformen vorbereitete Schulsystem zu attackieren begann, wurde der Lärm aus dem Zuschauerraum auf der Bühne zur Bedrohung. Hubert Kronlachner, skandalerfahren und mit allen Bühnenwassern gewaschen, legte eine kleine Pause ein, trat an den Bühnenrand: «Doch Herr Präsident, das gehört hierher!»

Mit diesen Worten, die an der berüchtigten Schulbehördesitzung zum Schlüsselsatz wurde, schrie er das Publikum nieder.

...



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