Stangier / Fydrich Soziale Phobie und Soziale Angststörung
1. Auflage 2002
ISBN: 978-3-8409-1463-8
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Psychologische Grundlagen, Diagnostik und Therapie
E-Book, Deutsch, 425 Seiten
ISBN: 978-3-8409-1463-8
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Der Band enthält Darstellungen zu den wichtigsten kognitiv-behavioralen, neurobiologischen und psychodynamischen Störungskonzepten. Es werden psychophysiologische Grundlagen sowie die Rolle von sozialen Kompetenzdefiziten beschrieben und psychologische Störungsmodelle vorgestellt, die wesentliche Befunde integrieren.
Ferner werden aktuelle Daten zu Epidemiologie und Komorbidität berichtet und ein Überblick über spezifische Ansätze der Diagnostik gegeben. Der Behandlungsteil des Buches widmet sich ausführlich dem aktuellen Stand der Therapieforschung wie auch dem praktischen Vorgehen bei der kognitiv-behavioralen Therapie.
In gesonderten Beiträgen wird die Behandlung unter dem Aspekt der Allgemeinen Psychotherapie beleuchtet und auch über den Einsatz von Psychopharmaka informiert. Darüber hinaus wird auf spezielle Aspekte bei Selbstunsicherer Persönlichkeitsstörung sowie bei Kindern und Jugendlichen mit Sozialer Phobie eingegangen.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
1;Inhaltsverzeichnis;5
2;Vorwort;7
2.1;Literatur;9
3;Das Störungskonzept der Sozialen Phobie oder der Sozialen Angststörung;10
3.1;1 Definition und Diagnose der Sozialen Phobie;11
3.2;2 Symptomatik und klinisches Erscheinungsbild;16
3.3;3 Subtypen und Abgrenzung zur Selbstunsicheren;20
3.4;Persönlichkeitsstörung;20
3.5;4 Differentialdiagnostische Abgrenzung;23
3.6;5 Historische Entwicklung von Störungsmodellen: Von der sozialen Angst zur Sozialen Phobie;25
3.7;6 Aktuelle Störungsmodelle;26
3.8;Literatur;30
4;Epidemiologie und Komorbidität der Sozialen Phobie;34
4.1;1 Einleitung;34
4.2;2 Prävalenz der Sozialen Phobie;35
4.3;3 Inzidenz, Erstauftretensalter und Verlauf;41
4.4;4 Risikofaktoren und Korrelate;45
4.5;5 Komorbidität Sozialer Phobie mit anderen psychischen Störungen;48
4.6;6 Psychosoziale Beeinträchtigung;55
4.7;7 Zusammenfassende Bemerkungen;57
4.8;Literatur;57
5;Störungsspezifische Diagnostik der Sozialen Phobie;66
5.1;1 Verfahren zur operationalen Diagnosestellung;67
5.2;2 Psychometrische Instrumente mit direktem Bezug zur Sozialen Phobie;69
5.3;3 Psychometrische Instrumente ohne direkten Bezug zur Sozialen Phobie;73
5.4;4 Verhaltensdiagnostik und Rollenspiele;76
5.5;5 Therapiebezogene Diagnostik;78
5.6;6 Ausblick;81
5.7;Literatur;81
6;Psychophysiologie der Sozialen Phobie - Symptom oder Ursache?;87
6.1;1 Körperliche Symptome als aufrechterhaltende Faktoren der Sozialen Phobie;87
6.2;2 Psychophysiologische Aspekte der Sozialen Phobie;90
6.3;3 Differenzierung von Subgruppen der Sozialen Phobie anhand psychophysiologischer Reaktionen;98
6.4;4 Ein Ausblick: Ursache oder Symptom?;105
6.5;Therapeutische Implikationen;105
6.6;Literatur;106
7;Neurobiologische Aspekte und lerntheoretische Grundlagen der Sozialen Phobie;112
7.1;1 Einführung;112
7.2;2 Genetische Aspekte;113
7.3;3 Substanzinduzierte Symptomprovokation;115
7.4;4 Transmittersysteme;122
7.5;5 Autonomes Nervensystem;129
7.6;6 Neuroendokrinologie;130
7.7;7 Neuronale Grundlagen der (sozialen) Angst und der Erwerb pathologischer Angst durch Konditionierung;130
7.8;8 Fazit und Ausblick;139
7.9;Literatur;145
8;Soziale Phobie: Eine kognitive Perspektive;157
8.1;1 Das kognitive Modell;157
8.2;2 Stand der Forschung zum kognitiven Modell;164
8.3;3 Eine aus der Theorie abgeleitete kognitive Behandlung;172
8.4;4 Die Effektivität der kognitiven Behandlung;176
8.5;Literatur;177
9;Soziale Kompetenz und soziale Performanz bei Sozialer Phobie;181
9.1;1 Soziale Kompetenz und soziale Performanz - Erläuterung der Konzepte und Begriffsbestimmung;182
9.2;2 Operationalisierung und Diagnostik sozialer Kompetenzen und sozialer Performanz;185
9.3;3 Zusammenhang zwischen sozialer Kompetenz, sozialer Performanz und Sozialer Phobie;189
9.4;4 Effektivität von sozialen Kompetenztrainings für die Behandlung Sozialer Phobien;193
9.5;5 Kompetenz- und performanzorientiertes Störungsmodell der Sozialen Phobie;194
9.6;6 Konsequenzen für die kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung Sozialer Phobien;198
9.7;Literatur;199
10;Die Psychodynamik der Sozialen Phobien. Mit Anmerkungen zur psychoanalytisch orientierten Psychotherapie;204
10.1;1 Die Narzisstische Dynamik I : Die defizitäre Konzeption des eigenen Selbst;205
10.2;2 Die Narzisstische Dynamik II : Die kompensatorisch überhöhte Selbstsicht;206
10.3;3 Die Narzisstische Dynamik III: Der Affekt der Scham;208
10.4;4 Damit sie nicht ganz vergessen wird: Die Triebdynamik;210
10.5;5 Die Schicksale des Bindungsverhalten (Attachmenttheorie von Bowlby);211
10.6;6 Die Schicksale des Abwehr/ Sicherheitsverhaltens ( Defence/ Safety Model von Gilbert);212
10.7;7 Die Dynamik der Gesamtpersönlichkeit;215
10.8;8 Anmerkungen zur psychoanalytisch orientierten Psychotherapie phobischer Störungen;216
10.9;Literatur;221
11;Das Vulnerabilitäts-Stress Modell der Sozialen Phobie;225
11.1;1 Biologische Vulnerabilitätsfaktoren;226
11.2;2 Psychologische Vulnerabiliätsfaktoren;230
11.3;3 Störungsspezifische Vulnerabilitätsfaktoren;231
11.4;4 Das Modell;236
11.5;Schlussbemerkung;239
11.6;Literatur;240
12;Risikofaktoren in der Kindheit für Soziale Phobien im Erwachsenenalter;246
12.1;1 Retrodiktion von Risiken und Prädiktion von Störungen;246
12.2;2 Retrodiktion der Risiken für Soziale Phobien;249
12.3;3 Schüchternheit und Verhaltensgehemmtheit im Kindesalter;252
12.4;4 Schüchternheit/ Verhaltensgehemmtheit als Risikofaktor für Soziale Phobien;255
12.5;5 Ein Modell der Entwicklung von Schüchternheit, Internalisierungsproblemen und sozialem Rückzug;257
12.6;Literatur;261
13;Soziale Phobie bei Kindern und Jugendlichen;264
13.1;1 Einleitung;264
13.2;2 Erscheinungsbild der Sozialen Phobie im Kindes- und Jugendalter;264
13.3;3 Epidemiologie;267
13.4;4 Entwicklungsaspekte;268
13.5;5 Differentialdiagnose;269
13.6;6 Diagnostik;275
13.7;7 Therapie;279
13.8;8 Ausblick;283
13.9;Literatur;283
14;Die Ängstliche und Vermeidend-Selbstunsichere Persönlichkeitsstörung;291
14.1;1 Diagnostische Kriterien;292
14.2;2 Epidemiologie der Vermeidend-Selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung;293
14.3;3 Vermeidend-Selbstunsichere Persönlichkeitsstörung und Soziale Phobie;293
14.4;4 Ätiologie der Vermeidend-Selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung;295
14.5;5 Therapie der Vermeidend-Selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung;298
14.6;6 Empirische Studien zur Therapie der Vermeidend- Selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung;306
14.7;7 Zusammenfassung und Ausblick;307
14.8;Literatur;308
15;Kognitiv-behaviorale Behandlung der Sozialen Phobie: Ein Überblick;311
15.1;1 Kognitiv-behaviorale Therapie bei Sozialen Angststörungen;311
15.2;2 Forschungsergebnisse zur kognitiv-behavioralen Therapie bei Sozialen Angststörungen;316
15.3;3 Kognitiv-behaviorale Therapie und Pharmakotherapie für Soziale Angststörungen;329
15.4;4 Schlussfolgerungen und Anregungen;332
15.5;Literatur;334
16;Kognitive Therapie bei Sozialer Phobie: Grundlegende Techniken;339
16.1;1 Eingangsphase der Behandlung;339
16.2;2 Kognitive Therapie der Sozialen Phobie;342
16.3;3 Erweiterungen des kognitiven Therapiekonzepts;361
16.4;4 Schlussfolgerungen;367
16.5;Literatur;368
17;Allgemeine Prinzipien der Psychotherapie sozialer Ängste: Die Rolle von Ressourcen;370
17.1;1 Einleitung;370
17.2;2 Ein kurzer Blick auf allgemeine Modelle klinischer Psychologie und Psychotherapie;371
17.3;3 Ressourcenorientierung in der Psychotherapie - Konzeptuelle Überlegungen und therapeutische Implikationen;373
17.4;4 Die therapeutische Beziehung zu Personen mit sozialen Ängsten als externe Ressource;380
17.5;5 Schlussbemerkung;393
17.6;Literatur;393
18;Medikamentöse Therapie der Sozialen Angststörung;397
18.1;1 Wirksame Medikamente;397
18.2;2 Langzeitbehandlung;399
18.3;3 Medikamentöse, psychotherapeutische Verfahren und Kombinationstherapie im Vergleich;400
18.4;4 Dauer der Behandlung;403
18.5;5 Fazit;403
18.6;Literatur;403
19;Soziale Phobie und Soziale Angststörung: Perspektiven für Forschung und Praxis;406
19.1;1 Weitere Entwicklung des Störungskonzeptes;406
19.2;2 Perspektiven in der Erforschung ätiologischer Grundlagen;408
19.3;3 Diagnostik der Sozialen Phobie/ Sozialen Angststörung;412
19.4;4 Perspektiven in der Behandlung;413
19.5;Literatur;416
20;Die Autorinnen und Autoren des Bandes;421
21;Sachwortregister;423
(S. 246-247)
Gibt es Risikofaktoren in der Kindheit, also im Alter von etwa 2 bis 12 Jahren, für die Entwicklung Sozialer Phobien im Erwachsenenalter? Dieses Kapitel gibt eine Übersicht über die klinische, aber auch die nichtklinische persönlichkeits- und entwicklungspsychologische Literatur zu diesem Thema. Dies liegt zum einen am Verfasser, der sich aus persönlichkeits- und entwicklungspsychologischer Perspektive mit der Entwicklung von leichter Schüchternheit bis hin zu subklinischer sozialer Ängstlichkeit vom Kindesalter bis zum jungen Erwachsenenalter befasst hat (z. B. Asendorpf, 1989a,b; 1990; 1993; 1998), zum anderen aber auch am Thema selbst, denn die meisten psychischen Störungen im Erwachsenenalter entwickeln sich auf dem Hintergrund von nichtklinischen Risikofaktoren in der Persönlichkeit und den sozialen Beziehungen, die in die Kindheit zurückreichen.
Ich habe mich auf Risiken für Soziale Phobien beschränkt, weil sie vergleichsweise gut und mit relativ klaren Ergebnissen empirisch untersucht wurden. Andere angstbezogene Störungen werden nur dann thematisiert, wenn es um die Frage geht, ob identifizierte Risikofaktoren für Soziale Phobien spezifisch sind oder ob sie auch auf andere Angststörungen zutreffen. Diese Einschränkung im Inhalt erlaubt es, die vorliegenden Ergebnisse relativ umfassend zu diskutieren und ihre methodenbedingte Begrenztheit deutlich zu machen.
Nicht zuletzt möchte ich Lesern vermitteln, dass die Befunde über Beziehungen zwischen Kindheitsrisiken und Erwachsenenstörung nur auf einen vergleichsweise schwachen Zusammenhang hinweisen. Dabei ist dieser geringe Zusammenhang keinesfalls Ausdruck unzureichender Forschung, sondern ein Hinweis auf die enorme Plastizität der menschlichen Entwicklung und soll eine Warnung vor vereinfachenden Pseudotheorien über die Entwicklung psychischer Störungen sein, wie sie in den Grauzonen der empirischen Psychologie und in den subjektiven Überzeugungen vieler Laien und auch vieler Klinischen Psychologen und Psychotherapeuten anzutreffen sind.
1 Retrodiktion von Risiken und Prädiktion von Störungen
Zwischen einer Störung im Erwachsenenalter und ihren potenziellen Risikofaktoren in der Kindheit liegen viele Jahre. Methodisch gesehen hat das den großen Vorteil, dass die Kausalitätsrichtung der stets korrelativen Zusammenhänge – die Risikofaktoren oder die Störungen werden ja nicht experimentell variiert – klarer als in den üblichen Querschnittsstudien ist: Späteres kann Früheres nicht beeinflusst haben. Also haben die untersuchten Risikofaktoren die Störung beeinflusst und nicht umgekehrt – oder Risikofaktoren und Störung beruhen auf einer gemeinsamen, nicht beobachteten, noch früheren Variable, und die Risikofaktoren haben direkt-kausal nichts mit der Störung zu tun.
Letzteres wird meist übersehen. Weiter unten wird ein solcher Fall am Beispiel des Zusammenhangs zwischen Erziehungsstil der Eltern und Sozialer Phobie des Kindes skizziert. Der zeitliche Abstand zwischen Risikofaktoren und Störung lässt sich auf zwei unterschiedlichen Wegen überbrücken. In Retrodiktionsstudien werden Erwachsene mit der Störung nach potenziellen Risikofaktoren befragt; manchmal werden auch Erinnerungen von Angehörigen hinzugezogen.
Das Hauptproblem dieser Methode sind verzerrte Erinnerungen aufgrund der Störung und subjektiver Theorien über die Störungsursachen. So liegt es z. B. nahe, dass erwachsene Sozialphobiker besonders sensibilisiert auf angsterregende soziale Situationen sind, diese deshalb in der Gegenwart und vor allem in der weniger kognitiv zugänglichen Vergangenheit überschätzen und sich schon wegen dieses Erinnerungseffekts als überdurchschnittlich ängstlich in der Kindheit schildern. Auch Angehörige unterliegen entsprechenden, allerdings wohl nicht so starken Erinnerungsverzerrungen. Diese Erinnerungsverzerrungen betreffen nicht nur symptomverwandte Situationen und Reaktionen, sondern auch alle Kindheitsfaktoren, die nach Laienauffassung mögliche Bedingungen für die Entwicklung einer psychischen Störung sind. Ganz allgemein gilt, dass Erwachsene ihre Kindheit in Form einer möglichst stimmigen Geschichte erzählen, in die nicht nur Erinnerungen an Erlebtes, sondern auch Laientheorien über dessen Ursachen einfließen (Ross, 1989).
Diese Verzerrungen der eigenen Entwicklung und ihrer Bedingungen durch subjektive Theorien können sehr stark sein, nicht nur weil lange Vergangenes ohnehin schlecht rekonstruierbar ist (der kognitive Aspekt), sondern vor allem weil so Bedürfnisse nach Kontinuität der Persönlichkeit und Rechtfertigung eigenen Versagens befriedigt werden können (der motivationale Aspekt). Ein zusätzliches Problem entsteht in den besonders häufigen Fällen einer Retrodiktion anhand von Patientengruppen in Behandlung. Diese sind zwar leicht zugänglich, aber meist nicht repräsentativ für die gesamte Bevölkerungsgruppe mit der Störung, weil Menschen mit leichteren Formen der Störung z.T. gar nicht erst in Behandlung kommen. Dies führt meist zu einer Überschätzung der Risiken, weil sie oft stärker für stärker gestörte Patienten sind.




