E-Book, Deutsch, 218 Seiten
Stark Hochbegabte Erwachsene in der Verhaltenstherapie
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-17-042343-5
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Praxisleitfaden für die Integration begabungsbezogener Aspekte
E-Book, Deutsch, 218 Seiten
ISBN: 978-3-17-042343-5
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sabine Stark, Dipl.-Psych., ist als Psychologische Psychotherapeutin, Supervisorin, Dozentin und Lehrtherapeutin in eigener Privatpraxis in München mit Schwerpunkt Hochbegabung tätig.
Autoren/Hrsg.
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2 Hochbegabt ist nicht gleich hochbegabt
Es gibt also weder die typische Hochbegabungspersönlichkeit noch die typische hochbegabte Person. Im Folgenden werden unterschiedliche Aspekte, welche bei einigen Hochbegabten zutreffen können und für den therapeutischen Kontext als relevant eingeschätzt werden, unter wissenschaftlich fundierter Perspektive vorgestellt. Anschließend wird im weiteren Voranschreiten des Buches der Fokus auf den individuellen Erlebens- und Erfahrungskontext gerichtet (? Teil II).
2.1 Hochsensible Hochbegabte
Während in der englischsprachigen Literatur vornehmlich beim Thema Hochsensibilität das Konzept der Overexcitability (OE) nach Dabrowski im Zusammenhang mit Hochbegabung herangezogen wird (bspw. Daniels & Piechowski, 2008), so findet sich in deutschsprachigen Büchern eher der Bezug zur Hochsensibilität nach Aron und Aron (bspw. Germann-Tillmann et al., 2021). Im Folgenden werden deshalb beide Konzepte ausführlich beschrieben.
2.1.1 Overexcitability nach Dabrowski
Das Konzept der OE, der sog. »Übererregbarkeit«, entstammt der Theorie der Positiven Desintegration (1964) des polnischen Psychologen und Psychiaters Kazimierz Dabrowski (Dabrowski, 2016). Während seine Theorie die Persönlichkeitsentwicklung im Allgemeinen beschreibt und sich explizit nicht nur auf intellektuell Hochbegabte bezieht, wird an manchen Stellen das Konzept der OE oftmals mit Hochbegabung gleichgesetzt; das bloße isolierte Betrachten der OE als atheoretisches Konstrukt kann allerdings dazu führen, dass die originäre Einbettung verwässert (Mendaglio, 2010/2012).
Dabrowski beschreibt den Entwicklungsprozess einer Person als positive Desintegration, durch die eine höhere Persönlichkeitsstruktur eine niedrigere ersetzt (Ackerman, 2009). Dabei nehmen Emotionen eine besondere Rolle ein und innerpsychische Konflikte in der Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt sind notwendig für das innere Wachstum (Dabrowski, 2016). Er skizziert demnach eine alternative Sicht auf psychische Störungen, denn Enttäuschung, Wut, Angst oder depressive Symptome können Zeichen für die persönliche Weiterentwicklung sein (Webb, 2020). Die Persönlichkeitsentwicklung verläuft hierbei in fünf Stufen; bei deren letzter ist die innere psychische Transformation erfolgt, die Person handelt authentisch, autonom, lebt in Harmonie mit dem Idealselbst, übernimmt Eigenverantwortung und Verantwortung für andere (Ackerman, 2009). Für diese Entwicklung ist das Vorhandensein der OE unabdingbar (Mendaglio, 2010). Dabrowski stellte fest, dass einige Menschen konsistent mit starker Intensität auf externale und internale Reize reagieren. Diese unverhältnismäßige Reaktion im Vergleich zum vorliegenden Reiz gehe auf eine erhöhte Erregbarkeit des zentralen Nervensystems zurück und stelle ein ererbtes Merkmal dar (Ackerman, 2009; Mendaglio, 2010). Sie äußert sich in fünf Formen mit charakteristischen Erlebens- und Verhaltensweisen (? Tab. 2.1).
Tab. 2.1:Die fünf Formen der Overexcitability nach Dabrowski
| Bezeichnung | Beschreibung (Mendaglio, 2010; Piechowski & Wells, 2021) |
|---|
| psychomotorisch | Äußert sich in einem Überschuss an Energie, in Bewegungsdrang, Impulsivität, schnellem Sprechen, aber auch nervösen Angewohnheiten; es entspricht einer erhöhten Energie im neuromuskulären System. |
| sensorisch | Zeigt sich durch besondere Freude an sinnlichen und ästhetischen Eindrücken, wie bspw. durch das Berühren von Objekten/Texturen, das Hören von Musik/Tönen oder das Schmecken von Essen; es kann aber auch mit unangenehmen Gefühlen einhergehen. |
| imaginativ | Äußert sich in starker Vorstellungskraft, Assoziation von Bildern, Denken in Metaphern oder klarer Visualisierung; es kann sich auch in detaillierten (Alb-)Träumen oder Angst vor dem Unbekannten manifestieren und ist mit einer niedrigen Toleranz für Langeweile verbunden. |
| intellektuell13 | Zeichnet sich durch eine hohe kognitive Aktivität aus, dem Drang, Fragen zu stellen, Dingen auf den Grund zu gehen, Beschäftigung mit Problemen, Wissensdurst oder Neugier. |
| emotional | Zeigt sich in intensiven Gefühlen, beinhaltet die Kapazität für intensive Beziehungen zu anderen oder Objekten/Orten, aber auch Sorge um andere, Mit- und Verantwortungsgefühl; es kann sich bspw. auch in Depression, einem hohen Sicherheitsbedürfnis oder Schüchternheit äußern. |
In einer Meta-Studie untersuchten Winkler und Voight (2016), ob es nun statistisch signifikante Gruppenunterschiede zwischen Hoch- und durchschnittlich Begabten in einer oder mehreren OEs gibt. Insgesamt erzielte die Hochbegabtengruppe in allen fünf Formen höhere Werte. Auch wenn diese Ergebnisse einen Zusammenhang zwischen OE und Hochbegabung zeigen, ist es »not clear what this entails for the gifted population« (S. 251), denn die Befundlage ist über etliche Studien hinweg eher heterogen denn einheitlich (Winkler & Voight, 2016). Dennoch reagieren und erleben sich viele Hochbegabte intensiv und setzen sich mit Dingen um sich herum eindringlich auseinander (Daniels & Piechowski, 2008). Sind OEs höher ausgeprägt und wird demnach bereits auf Reize reagiert, welche nicht hochbegabte Personen (noch) nicht wahrnehmen, oder fällt die Reaktion auf Reize intensiver aus, können Hochbegabte abweichend von anderen wahrgenommen werden (Szymanski & Wrenn, 2019).
Exkurs: Hyper Brain/Hyper Body Theory
Karpinski und andere (2018) beziehen sich in ihrer Untersuchung auf die erhöhte Reagibilität des zentralen Nervensystems im Rahmen der OE bei Hochbegabten. Sie nehmen an, dass alle Hochbegabten auf normale Stimuli physisch und psychisch intensiver reagieren würden, was zu chronischem Stress via Sympathikusaktivierung führen könne und eine Immundysregulation nach sich ziehe. Allerdings verweisen die Autoren lediglich auf drei Untersuchungen aus den Jahren 1966, 1985 und 1986 und ergänzen nicht, dass – nach aktueller Recherche – keine weitere zwischenzeitliche Publikation hierzu zu finden ist. Zudem beschreiben sie ebenfalls signifikant erhöhte Auftretensraten für Affektive und Angststörungen, ADHS und Autismus, was sich in der Literatur jedoch nicht eindeutig belegen lässt (? Kap. 1.5). Sie stellen ihre Hyper-Brain-/Hyper-Body-Theorie vor, in welcher sie einen vermittelnden Zusammenhang von Hochbegabung über »rumination« und »worrying« hin zu sog. »psychological OEs« sehen. Diese würden über eine chronisch aktivierte Stressachse zu sog. »physiological OEs« (neuroinflammatorischen/autoimmunen Erkrankungen) führen, wobei auch letztere auf psychische Erkrankungen verstärkend rückwirken. Sie beziehen sich dabei auf Untersuchungen, welche einen Zusammenhang zwischen Autoimmunerkrankungen oder Allergien mit ADHS und Autismus aufzeigen (Kaas et al., 2021). Auch auf den nachgewiesenen Zusammenhang zwischen erhöhtem ruminativem Verhalten und Depression oder Generalisierter Angststörung (GAS) wird verwiesen (Karpinski et al., 2018). Im Vergleich dazu zeigen Segerstrom und andere (2017) auf, dass zwar intelligentere Menschen ein erhöhtes Auftreten von »repetitive thoughts« (worry, planning, processing, reflection, rumination) haben, dieses erhöhte kognitive Engagement jedoch mit einer Bandbreite an regulatorischen Strategien einherzugehen scheint, was sowohl die psychische als auch die physische Gesundheit begünstigt. Sie fanden interessanterweise heraus, dass »individuals with higher IQ had lower levels of IL-6, a proinflammatory cytokine that is associated with health risk in older adults« (S. 761). Aktuell wurde die Diskussion um »Hyper Brain/Hyper Body« sogar im Rahmen der Covid-19-Pandemie wieder aufgegriffen14. Würde diese Hypothese zutreffen, müssten Hochbegabte allgemein ein erhöhtes Risiko für Allergien und Immunerkrankungen zeigen. In einer aktuellen Untersuchung zeigen sich jedoch nur erhöhte Prävalenzen für einige Allergien, bspw. Nahrungsmittel, jedoch nicht für Heuschnupfen oder Asthma (Williams et al., 2022). Nach aktuellem Stand bedarf es noch weiterer Studien, um die Hyper-Brain-/Hyper-Body-Theorie zu prüfen.
Möglichkeit der Erfassung der OE
Rost und andere (2014) entwickelten die deutschsprachige Version des...




