E-Book, Deutsch, 296 Seiten
Stein Daneben
2. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7386-7059-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 296 Seiten
ISBN: 978-3-7386-7059-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Godehard Stein, Jahrgang 1969 - ein besonders guter Jahrgang, wie betont werden sollte -, ist Westfale. Da kann er auch nichts für. Aufgewachsen in der Nähe von Soest, zog es ihn in die weite Welt. Bis nach Münster hat es der angehende Student geschafft. Nur um dann Lehrer zu werden! Heute lebt Godehard Stein in Ostwestfalen, arbeitet in Bielefeld und glaubt an eine Welt jenseits von Dortmund im Westen und Höxter im Osten.
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Dieses Etablissement ein „Café“ zu nennen war ungefähr so treffend, wie Gallensaft zur Delikatesse zu erklären. Alle schönen, angenehmen, verlockenden, romantischen, gustatorischen, olfaktorischen oder auch einfach nur naheliegenden Gedanken, die man mit dieser Bezeichnung verbinden konnte, verkrochen sich beim bloßen äußeren Anblick des Gebäudes in einer möglichst weit abgelegenen Gehirnwindung, um dort einsam an Verzweiflung zu sterben. Trotzdem hatte Mark über der wenig einladenden Eingangstür in großen, unpassend grellen Leuchtbuchstaben den Namen „Café Central“ anbringen lassen. Vielleicht steckte darin irgendeine seltsame Form von Humor, die aber wohl für alle Zeiten kryptisch bleiben würde.
Nicht nur, weil ich mich bereits an dieses Gesamtkunstwerk gastronomischer Fehlkombinationen gewöhnt hatte, sondern vermutlich auch, weil es mir einfach beschissen ging, freute ich mich, als ich endlich die Tür erreicht hatte. Durch etwas, das vor langer Zeit einmal das Glas der Fenster gewesen sein mochte, konnte ich Licht erahnen, welches mein Gemüt gleich noch ein wenig mehr erhellte. Das vertraute „g öff t“ flackerte in einem Epilepsie auslösenden Rhythmus. Mit dem Schwung eines 90Jährigen drückte ich gegen das fleckige Holz der Tür, die mit dem gleichen Elan nachgab.
Um diese Tageszeit (die ich zwar nur schätzen konnte, aber eigentlich war das zu jeder Tageszeit so) saßen für gewöhnlich drei oder vier heruntergekommene Typen an der Bar, rauchten und tranken ihre Hoffnungslosigkeit oder ihr Unvermögen, etwas dagegen zu tun, ins emotionale Abseits und seufzten herzerweichend, wenn jemand nur annähernd in Mitleidsreichweite kam. Meist stand Mark am Ende des Tresens und hantierte mit irgendetwas geheimnisvoll herum, als sei der Beruf des Kneipenwirts eine alte Handwerkstradition. Umrahmt würde dieses Stillleben dann von derselben alten Rockmusik, die hier immer und immer wieder herunter geleiert wurde. Das war auch heute so – zumindest was die Musik betraf, denn es war keine Menschenseele in diesem Raum des Lokals zu sehen. Die Luft wirkte abgestanden und dick. Drei Gläser, eines davon halb leer, die anderen schon deutlich weiter, waren auf der Theke verteilt. Und irgendetwas stimmte wohl mit den Lautsprechern nicht, denn der Song, der gerade lief – etwas Altes von Pearl Jam war es wohl – klang seltsam dumpf.
Nun, das konnte immer noch an meinem Zustand liegen. Darum ging ich zielstrebig auf den Kaffeeautomaten zu, der in Marks Hoheitsgebiet stand (tatsächlich hing am schmalen Durchgang, der hinter die Theke führte, ein entsprechendes Hinweisschild, das unbefugten Eindringlingen mit drakonischen Maßnahmen drohte). Ich fühlte mich dort allerdings wie zuhause, was nicht zuletzt daran lag, dass ich seit Monaten mehr Zeit im „Central“ als daheim verbracht hatte. Der Zorn des Wirts würde mich nicht erschlagen, wenn ich mich einfach selbst bedienen würde, insofern gehörte kein Todesmut dazu.
Ich dachte kurz an Mark, der eigentlich schon immer einer meiner treuesten Freunde gewesen war, auch wenn er, wie ich ihm nur immer wieder bestätigen konnte, von allen Schulkameraden der offensichtlichste Verlierer war. „Wer nichts wird, wird Wirt“, hatte mein Vater ohne Unterlass gesagt, nichtsahnend, dass es auf den sonst so netten und wortgewandten jungen Mann zutreffen könnte, den ich des Öfteren bei uns zu Besuch hatte. Marks große Leidenschaft war schon früher die Schreiberei gewesen, aber keiner aus unserer Klasse hielt sich mit Hohn und Spott darüber zurück. Schließlich konnte man mit so etwas keinen Blumentopf, geschweige denn ein Vermögen gewinnen. Als ich mich dann nach dem Abschluss in Richtung der krisensicheren und lukrativen Versicherungswirtschaft orientierte, übernahm Mark diese schäbige Spelunke – quod erat demonstrandum, wie wir zu sagen pflegten. Vermutlich gab es keinen einzigen Besuch meinerseits in seiner Kneipe (und die waren immerhin fast täglich), bei dem ich meinem Freund nicht brüderlich auf die Schulter klopfte und ihn liebevoll auf sein Scheitern hinwies. Bewundernswert war allein die Gelassenheit, mit der er das ertrug – eine Eigenschaft, die ich mir nur zu gern aneignete.
Der Kaffeeautomat brummte seltsam dumpf. Das tiefschwarze Gebräu, das aus der Öffnung troff, verhieß entweder ersehnte Linderung oder qualvolle Magengeschwüre. Um die Chancen etwas zu meinen Gunsten zu beeinflussen, griff ich die Milchtüte aus dem Kühlschrank und gab ein paar Tropfen in den Zaubertrank, bis er die Farbe von dunklem Karamell angenommen hatte. Die erhoffte Wirkung blieb nicht aus, auch wenn der erste Schluck unaussprechlich und der zweite nach kochendheißer Blumenerde schmeckte. Allmählich verzog sich der wabernde Nebel in meinem Kopf und sogar die höllischen Schmerzen im Rücken verringerten sich auf ein beinahe erträgliches Maß, obwohl sie es sich dann doch nicht nehmen ließen, ihre fortgesetzte Anwesenheit immer wieder aufs diabolischste unter Beweis zu stellen.
Mittlerweile mochte bestimmt eine halbe Stunde vergangen sein, aber noch immer war niemand im Lokal aufgetaucht. Ich sah mich um nach der Schwingtür zu dem kleinen, fetttriefenden Kämmerchen, dass Mark immer als seine Küche anpries. Einige Schritte weiter konnte ich auch den Eingang zum Toilettenbereich sehen. Praktischerweise überkam mich spontaner Harndrang, so dass ich im zielstrebigen Vorbeigehen die Küchentür aufstoßen und mich von der Menschenleere dahinter überzeugen konnte. Auf der Herrentoilette pinkelte ich ausgiebig und völlig ungestört In der aufkommenden Überzeugung, dass mich absolut nichts mehr überraschen könnte, betrat ich schließlich auch den Bereich für die Damen. Zugegeben, was sollte mich dort auch schon erwarten? Eine Dame oder eine andere Person weiblichen Geschlechts, die nur annähernd diese Bezeichnung verdient hätte, war hier vermutlich schon seit sehr langer Zeit nicht mehr hier gewesen. Höchstwahrscheinlich hatte ein derartiges Wesen keinen einzigen Bereich von Marks mitleiderregendem Leben je berührt. Und tatsächlich hatte sich auch an diesem denkwürdigen Tag keines dorthin verirrt.
Irgendwie dämmerte mir allmählich, dass etwas hier so ganz und gar nicht stimmte. Nicht nur hier: Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass ich seit meinem unangenehmen Erwachen noch keiner Menschenseele begegnet war. Nicht im Hausflur, nicht auf der Straße und schließlich auch nicht im „Café Central“. Die Erkenntnis traf mich wie ein Blitzschlag, durchzuckte mich und erinnerte meinen Rücken daran, wieder einmal zu schmerzen. Und dann strömten die Fragen in meinen Kopf: Was ging hier vor? War ich wohlmöglich der einzige, der irgendetwas nicht mitbekommen hat? Lief hier ein verdammt seltsamer Streifen ab und völlig an meiner Wenigkeit vorbei? Nun ja, das hatte vielleicht, nein, ganz gewiss mit den Ereignissen des Vorabends zu tun, an die ich mich beim besten Willen nicht im Geringsten erinnern konnte.
Mit zittrigen Händen, teils von der Benommenheit, teils von diesem grauenhaften Kaffee, tastete ich die Taschen meines Jacketts ab und fand schließlich mein Smartphone. Das Display verschwamm ein wenig vor meinen Augen, ich kniff die Lider zu einem engen Schlitz zusammen, um überhaupt etwas erkennen zu können. Die Antivirensoftware zeigte wieder einmal die Meldung „Ihr Gerät ist vollständig geschützt“. So etwas wünschen sich manche Männer für ihre Unterhose, kam mir seltsamerweise in den Sinn. Mit einem Schütteln versuchte ich diesen Gedanken loszuwerden und mich auf mein eigentliches Problem zu konzentrieren. Ich wählte einige Nummern aus meiner Kontaktliste – Arbeitskollegen, Freunde, mein absolut überbezahlter Steuerberater –, hörte aber jedes Mal nur eine Art statisches Rauschen. Mein sonst so brillanter Verstand reagierte nur äußerst zögerlich, so dass ich erst nach einer ganzen Reihe von Anläufen allmählich begriff, dass ich überhaupt keinen Empfang zu haben schien. Seltsam, dachte ich, dass mein sonst so zuverlässiger Mobilfunkanbieter – so viel zum Thema „Das beste Netz“ – ausgerechnet an diesem Tag einen Totalausfall hatte. Schließlich war ich sonst immer und überall erreichbar, was in meiner Position nicht unwichtig war.
Die Rätsel des Tages waren einfach zu viel für mein geschundenes Gehirn. Ich konnte einfach nicht begreifen, dass niemand zu sehen oder zu erreichen war, noch nicht einmal Mark. Was steckte dahinter? Irgendein geheimnisvoller, möglicherweise perfider Plan? Was hatte ich überhaupt damit zu tun? Und warum sollte irgendjemand, wer auch immer dafür verantwortlich war, ausgerechnet einen weniger als mäßig erfolgreichen Eckkneipenwirt mit hineinziehen?
Ich beschloss, mich einfach heimlich wohin auch immer zu schleichen, dorthin, wo alle anderen scheinbar waren. Allerhand seltsame Gedankenkonstrukte spannen sich in meinem Kopf. Vielleicht hatte ich eine wichtige Volksversammlung verpasst – nicht, dass mich so etwas wirklich interessiert hätte. Oder sollte es gar eine Überraschungsparty geben? Da ich noch fehlte, war...




