E-Book, Deutsch, Band 7, 174 Seiten
Reihe: Linguistik und Schule
Steinig / Ramers Orthografie
2. neu bearbeitete und wesentlich erweiterte Auflage 2025
ISBN: 978-3-381-13423-6
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 7, 174 Seiten
Reihe: Linguistik und Schule
ISBN: 978-3-381-13423-6
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Prof. em. Dr. Wolfgang Steinig war bis zu seiner Emeritierung Professor für Sprachdidaktik an der Universität Siegen. Er hat als Soziolinguist im pädagogischen Feld geforscht: zur Mündlichkeit und Schriftlichkeit an Grundschulen und zum Deutschen als Zweit- und Fremdsprache. Prof. em. Dr. Heinz Ramers ist emeritierter Professor für Germanistische Linguistik an der Universität Rostock. Seine Forschungsschwerpunkte sind Orthografie, Phonologie, Morphologie und Syntax des Gegenwartsdeutschen.
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1.3 Die deutsche Schrift – eine Alphabetschrift
Die Alphabetschrift, die erstmals von den Phöniziern zwischen dem 11. und 5. Jahrhundert v. Chr. entwickelt wurde, ist eine geniale Erfindung: Mit nur 26 Buchstaben kann man im Deutschen jedes erdenkliche Wort schreiben; für die Großschreibung kommen noch einmal 26 Zeichen hinzu. Im Chinesischen benötigt man dagegen 3.000 bis 5.000 Zeichen, um einfache Texte lesen zu können. Alphabetschriften sind phonographische Schriften, da ihre Buchstaben die Phoneme einer Sprache visuell darstellen. Wohlgemerkt: die Phoneme, nicht die Laute! Denn die Laute einer Sprache existieren in verschiedenen Varianten, den sogenannten Allophonen, die sich in ihrer Bedeutung nicht unterscheiden.
Dazu ein Beispiel: Spricht man die Wörter und einmal hintereinander und artikuliert anschließend jeweils nur ihren ersten Laut, stellt man fest, dass die beiden k-Laute unterschiedlich klingen: Der k-Laut in ist deutlich heller als der in , die Zunge liegt anders im Mund und die Lippen sind anders geformt. Es handelt sich also um zwei verschiedene Laute, die als Phone bezeichnet werden. Dieser Unterschied hängt mit den nachfolgenden Vokalen zusammen, die die Aussprache beeinflussen. In der Schrift müssen diese phonetischen Varianten jedoch nicht unterschieden werden, da sie keine bedeutungsunterscheidende Funktion haben. Das zwischen zwei Schrägstrichen notierte /k/ ist in jeder lautlichen Variante ein Phonem. Wenn man es mit anderen Phonemen wie /f/, /h/, /m/, /l/, /r/ oder /t/ in der gleichen Lautumgebung kontrastiert, erhält man Minimalpaare wie , , , , , oder . Durch eine solche Minimalpaaranalyse kann festgestellt werden, ob Phone eine bedeutungsunterscheidende Funktion haben und daher als Phoneme bezeichnet werden. Meint man dagegen Phone – wie in unserem Beispiel die verschiedenen k-Laute in und –, werden sie in eckige Klammern gesetzt: [k].
Grapheme hingegen, die normalerweise aus einem Buchstaben bestehen, werden in spitze Klammern gesetzt: <>. Grapheme können aber auch aus zwei oder drei Buchstaben bestehen wie bei <> oder <>. Für das Phonem /?/ gibt es im Deutschen das Graphem <> (), im Türkischen ein <> (), im Englischen ein <> (), im Ungarischen ein <> () und im Kroatischen ein <> ().
Das Phonem /r/ ist ein besonders interessanter Fall, da es im deutschen Sprachraum unterschiedlich artikuliert wird. Im Bairischen wird es durch schnelle Bewegungen der Zungenspitze gebildet und in der Internationalen Lautschrift als [r] notiert, im übrigen Deutschland meist als stimmhafter Reibelaut, der am Gaumenzäpfchen gebildet und als [?] oder als [R] transkribiert wird. Diese Unterschiede haben jedoch keinen Einfluss auf die Bedeutung der Wörter. Ein bleibt immer ein , egal ob das Phonem /r/ mit der Zungenspitze oder dem Zäpfchen gebildet wird.
In Norddeutschland wird das /r/ postvokalisch nach /a/ meist gar nicht realisiert, z. B. in , aber dennoch schreiben auch Norddeutsche mit <>, da die Schreibung keine Rücksicht auf regionale Varianten nehmen kann, sondern sich an der Standardaussprache orientiert und jedem Phonem systematisch bestimmte Grapheme zuordnet. Statt von einer Laut-Buchstaben-Beziehung sollte man daher, fachlich korrekter, von einer Phonem-Graphem-Korrespondenz sprechen.
Man könnte meinen, dass es für Schreiber und Leser einer Sprache am besten wäre, wenn immer genau ein Phonem einem Graphem entspräche, so wie es im Spanischen, Finnischen oder im Türkischen weitgehend der Fall ist. Die erst 1928 neu entwickelte türkische Schrift ist tatsächlich leicht zu erlernen und problemlos zu lesen. In alten Schriftsystemen wie dem Englischen oder dem Französischen ist die Zuordnung von Phonem und Graphem dagegen kompliziert. Das englische Wort mit seinen sechs Graphemen korrespondiert kaum mit den vier Phonemen /inaf/. Und das französische mit fünf Graphemen wird mit nur zwei Phonemen als /kö/ ausgesprochen. Der Grund für die Schwierigkeiten beim Erlernen der englischen und französischen Rechtschreibung liegt in ihrem Alter. Die Schreibung ist viel konservativer als die gesprochene Sprache, die sich schneller verändert. In der Rechtschreibung werden ältere Lautungen konserviert. Englische Wörter wie , oder werden am Anfang immer noch mit einem <> geschrieben, obwohl der Anlaut /k/ schon lange nicht mehr gesprochen wird.
Das deutsche Schriftsystem beruht nicht, wie das spanische und weitgehend auch das türkische, auf einer 1:1-Phonem-Graphem-Korrespondenz, ist aber auch nicht so undurchsichtig wie das englische oder französische. Spanische und türkische Kinder können daher relativ leicht mit einer Anlauttabelle schreiben erlernen, während englische oder französische Anlauttabellen nicht funktionieren würden. Für die deutsche Sprache eignet sich dieses häufig verwendete Hilfsmittel zum Lesen- und Schreibenlernen allenfalls für den Einstieg, um das Prinzip der Buchstabenschrift zu veranschaulichen. Ein längerfristiger Einsatz wäre jedoch nicht zielführend, da Anlauttabellen eine 1:1-Phonem-Graphem-Zuordnung suggerieren, die im Deutschen nur bei wenigen Wörtern in eindeutiger Form vorliegt. Stattdessen müssen zwei Alternativen in Betracht gezogen werden:
-
Für ein Phonem können mehrere Grapheme stehen.
-
Ein Graphem kann mehreren Phonemen entsprechen.
Im ersten Fall liegt das Problem beim Schreiber, der das Gesprochene in Schrift umsetzen muss, indem er die entsprechenden Grapheme auswählt. Im zweiten Fall liegt das Problem beim Leser, der die richtige Aussprache eines Graphems finden muss.
Für das Phonem /k/ steht in einer Anlauttabelle nur ein <> in Klein- und Großschreibung. Für Wörter wie oder muss jedoch eine Kombination aus zwei Buchstaben, die Digraphen <> und <>, gewählt werden, für das Wort benötigt man das Graphem <> für die Phoneme /k/ + /s/ und in Wörtern fremder Herkunft wie oder stehen der Monograph <> und der Digraph <> für das Phonem /k/. Für Schreiber, vor allem für Anfänger, ist diese Vielfalt sicherlich unangenehm, da sie mit einem erhöhten Lernaufwand verbunden ist, aber für Leser haben diese Schreibungen einen informativen Mehrwert, da sie sich durch ihre abweichende Schreibung vom Kernwortschatz abheben, dem Leser als ‚besondere Wörter‘ ins Auge fallen und ihm eine fremde Herkunft signalisieren. Würde ein Schreiber von einer 1:1-Phonem-Graphem-Korrespondenz ausgehen und eine Anlauttabelle verwenden, würde er diese Wörter wie folgt schreiben: *, *, *, *, *. Für den Schreiber wäre das sicher einfacher, aber der Leser hätte Schweirigkeiten, den Sinn dieser Wörter zu erfassen.
Eine weitere Schwierigkeit für den Leser besteht darin, anhand eines Graphems zu erkennen, für welches Phonem es steht. So kann das Graphem <> für ein kurzes, ungespanntes /?/ wie in stehen, aber auch für ein langes, gespanntes /o:/ wie in . Das Graphem <> kann sogar für vier mögliche Phoneme stehen:
(1) | /e:/ | , |
/e/ |
/?/ | , |
/?/ |
Schließlich kann das Graphem <> auch keinem Phonem entsprechen, nämlich als Längezeichen beim <> wie in , oder beim umgangssprachlichen Weglassen (vulgo: Verschlucken) des /?/ in Wörtern wie oder .
Unterschiede in der Aussprache des Graphems <> sind nur für Leseanfänger und Deutschlernende problematisch. Kinder im Anfangsunterricht lesen ein Wort wie häufig als [ge:be:n], da sie nicht beachten, dass das Graphem <> in unbetonten Silben immer nur als /?/, also als Schwa (Murmelvokal), artikuliert werden kann. Geübte Leserinnen und Leser erkennen eine Aussprache aber normalerweise leicht an seiner Position im Wort oder in der Silbe. Das <> in kann nur ein langes, gespanntes /e:/ sein, da zur zweisilbigen Form verlängert werden kann, während dies bei nicht möglich ist. In wird das <> als kurzes, ungespanntes /?/ realisiert, da zwei Konsonanten folgen, während in auf den Vokal nur ein...