E-Book, Deutsch, 439 Seiten
Stendhal Über die Liebe
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8496-3674-6
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 439 Seiten
ISBN: 978-3-8496-3674-6
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stendhals philosophische Aufzeichnungen über die Liebe kulminieren in einer Art Liebestheorie. Im ersten Buch versucht sich der Autor daran, Liebe und deren Funktionen zu erklären. Im zweiten Buch gibt er ausführliche Einsichten in die Liebe bei den verschiedenen Völkern.
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Sobald die Kristallbildung einmal begonnen hat, genießt man mit Wonne jede neue Schönheit, die man an der Geliebten neu erblickt.
Was ist aber Schönheit anderes als eine Quelle der Lust?
Das Lustgefühl ist individuell verschieden und bei verschiedenen Menschen geradezu entgegengesetzt; daher erklärt es sich, daß einer etwas für schön hält, was dem anderen häßlich vorkommt.
Um das Wesen des Schönen zu erklären, müssen wir vorerst die Natur des Lustgefühls bei jedem Einzelwesen untersuchen.
Irgend jemand zum Beispiel beansprucht ein Weib, das gewisse gewagte Annäherungen duldet und durch die Art seines Lächelns das Recht zu sehr vergnüglichen Dingen zugesteht, ein Weib mit sinnlicher Phantasie, das seine Art von Sinnlichkeit herausfordert und ihm gestattet, sie zu betätigen. Er versteht unter Liebe offenbar nur Liebe aus Sinnlichkeit, sein Freund dagegen Liebe aus Leidenschaft. Selbstverständlich können beide auch nicht ein und derselben Meinung über den Begriff des Schönen sein.
Da wir nun eben entwickelt haben, daß Schönheit eine Quelle der Lust und daß Lust individuell ist und sich daher mannigfaltig äußert, so muß die Kristallbildung in der Seele eines Menschen stets dieselbe Färbung zeigen wie sein individuelles Lustgefühl.
Die Kristallbildung bei unserer Geliebten, oder sagen wir kurz ihre Schönheit, ist nichts anderes als der Inbegriff der Befriedigung aller Wünsche, die in uns bei ihrem Anblick nach und nach entstanden sind.
11. Kapitel
Warum genießen wir voll Entzücken jede neu entdeckte Schönheit an der Geliebten?
Weil uns jede neue Schönheit die volle Befriedigung eines Wunsches gewährt. Wollen wir unsere Geliebte zärtlich, so ist sie es; wollen wir sie dann stolz wie Corneilles Emilie, so scheint sie uns, obgleich beide Eigenschaften in einem Charakter unmöglich zu vereinbaren sind, augenblicklich die Seele einer Römerin zu haben. Darin steckt ein starker Beweis dafür, daß die Liebe die mächtigste aller Leidenschaften ist. Die anderen passen ihre Wünsche der kalten Wirklichkeit an; nur in der Liebe bemüht sich die Wirklichkeit, sich nach unseren Wünschen zu richten. Sie ist die Leidenschaft, in der das heftigste Verlangen auch den größten Genuß bedingt.
Das Glück hat gewisse Grundbedingungen, von denen jegliche Befriedigung der einzelnen Wünsche in hohem Maße abhängt.
1. Die Geliebte scheint uns zu gehören, weil nur wir sie glücklich machen können.
2. Sie ist die Richterin unserer Vorzüge. Dieser Standpunkt war von erheblicher Bedeutung an den galanten und ritterlichen Höfen Franz des Ersten und Heinrichs des Zweiten, sowie an dem prunkvollen Hofe Ludwigs des Fünfzehnten. Unter einer besonnenen konstitutionellen Regierung geht den Frauen diese Art von Einfluß gänzlich verloren.
3. Sind wir romantisch veranlagt, so finden wir in den Armen der Geliebten Freuden, die um so überirdischer und über dem Schmutz gemeiner Gedanken um so erhabener sind, je höher unsere Seele hinausstrebt.
Die meisten jungen Franzosen sind mit achtzehn Jahren Schüler von Jean Jacques Rousseau. Das ist für ihr Glück von Bedeutung.
Mitten in diesen Wirrungen, die unser Verlangen nach Glück so irreführen, verlieren wir den Kopf.
Von dem Augenblick ab, wo man liebt, sieht selbst der Klügste kein Ding mehr so, wie es wirklich ist. Er achtet seine eigenen Vorzüge zu gering und überschätzt die geringfügigsten Gunstbezeugnngen des geliebten Gegenstandes. Zweifel und Hoffnung erhalten mit einem Male etwas Romantisches. Wir schreiben nichts mehr dem Zufall zu, wir verlieren das Gefühl für Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit, und Dinge der Phantasie werden zu Dingen der Wirklichkeit, um uns unserem Glücke näher zu bringen.
Ein erschreckliches Anzeichen, daß wir den Kopf verlieren, ist die Tatsache, daß wir irgend einen schwer erkennbaren Umstand gleichsam für weiß ansehen und somit zugunsten unserer Liebe deuten. Im nächsten Augenblick bemerken wir, daß er in Wirklichkeit schwarz aussieht, und trotzdem finden wir, daß er für unsere Liebe ein günstiges Zeichen ist.
In diesem Zustande, wo unser Herz tödlichen Ungewißheiten zum Raube fällt, sehnen wir uns unsäglich nach einem Freunde. Aber für einen Liebenden gibt es keinen Freund mehr. Das wußte man bei Hofe. Wir begehen Indiskretionen, die einzigen, die selbst eine feinfühlige Frau verzeihen kann.
12. Entstehung der Liebe; Gesellschaft und Unglück
Das Wunderlichste an der Leidenschaft der Liebe ist ihre Entstehung, der plötzliche närrische Wandel, der sich im Hirne eines Liebenden vollzieht.
Die große Gesellschaft mit ihren glänzenden Festen begünstigt die Liebe, insofern sie ihre Entstehung fördert.
Sie beginnt damit, die bloße Bewunderung in zärtliche Verehrung zu verwandeln.
Ein rascher Walzer in einem von tausend Kerzen erleuchteten Saale versetzt junge Herzen in einen Taumel, der die Zaghaftigkeit besiegt, das Bewußtsein der Kräfte steigert und den Mut zum Lieben gibt. Der Anblick eines liebenswerten Wesens genügt dazu nicht, im Gegenteil, gerade der vollendetste Liebreiz entmutigt zarte Seelen. Entweder bedürfen wir der Überzeugung, daß uns solch ein Geschöpf bereits liebt, oder irgend etwas muß uns seine Unnahbarkeit überwinden helfen.
Wer gerät auf den Einfall, sich in eine Königin zu verlieben, wenn sie uns nicht selbst dazu ermutigt?
Nichts begünstigt die Entfaltung der Liebe mehr als eine langweilige Einsamkeit, die von ein paar seltenen, lang ersehnten Festlichkeiten unterbrochen wird. Gewandte Mütter mit Töchtern verstehen das.
Die wirkliche große Gesellschaft, wie sie am französischen
Hofe bestand und nach meiner Meinung seit 1780 nicht mehr (außer vielleicht noch am Petersburger Hofe) vorhanden ist, fördert die wahre Liebe wenig, weil sie die Einsamkeit und Muße, die zur Kristallbildung nötig sind, geradezu unmöglich macht.
Nas Hofleben gibt Gelegenheit, zahlreiche Nuancen zu beobachten und zu betätigen, und oft wird solch eine flüchtige Wahrnehmung zum Ursprung unserer Bewunderung und Leidenschaft.
Wenn zu dem durch die Liebe bereiteten Unglück noch anderweitiges Mißgeschick hinzutritt, (wenn zum Beispiel unsere Eitelkeit gekränkt wird, indem die Geliebte unseren berechtigten Stolz oder unser Ehrgefühl oder unsere persönliche Würde verletzt, oder wenn unser Unglück durch Krankheit, Geldverlegenheit oder durch politische Unduldsamkeit hervorgerufen ist,) so wird die Liebe nur scheinbar durch diese Widerwärtigkeiten vergrößert. In Wirklichkeit aber verhindern diese, indem sie, unsere Gedanken nach anderer Richtung hin ablenken, in einer aufkeimenden Liebe die Kristallbildung und in der bereits erhörten Liebe das Entstehen kleiner Zweifel. Erst wenn das Unglück vorüber ist, kehrt die Wonne der Liebe zugleich mit ihrer Torheit zurück.
Beachtenswert ist es, daß Mißgeschick die Entstehung der Liebe bei leichtfertigen und wenig feinfühligen Charakteren erleichtert. Wenn das Unglück schon eingetreten ist, bevor die Liebe entstand, so fördert es diese insofern, als sich die Phantasie aus Ekel vor all den trübseligen Bildern des Lebens nur noch der Kristallbildung widmet.
13. Kapitel
Eine weitere Erfahrung, die man mir vielleicht abstreiten wird, erwähne ich nur für die, die, ich möchte sagen, genug unglücklich waren, lange Jahre hindurch leidenschaftlich geliebt zu haben, während unbesiegbare Hindernisse ihrer Liebe entgegenstanden.
Der Anblick alles dessen, was in Kunst und Natur von auserlesener Schönheit ist, lenkt unsere Gedanken mit Blitzesschnelle auf unsere Geliebte. Durch einen mechanischen Vorgang, ähnlich dem in den Salzburger Bergwerken, der den Baumzweig mit Kristallen überdeckt, steht alles Schöne und Hehre in der Welt im Zusammenhang mit unserer Geliebten, und ein unerwarteter Anblick des Glückes füllt unsere Augen mit Tränen. So beleben sich gegenseitig die Liebe zum Schönen und die Liebe zum Weibe.
Es gehört zu den Leiden unseres Lebens, daß das Glück, die Geliebte zu sehen und mit ihr zu reden, keine...




