E-Book, Deutsch, Band 8, 356 Seiten
Reihe: Alea Aquarius
Stewner Alea Aquarius 8. Die Wellen der Zeit
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-96052-273-7
Verlag: Verlag Friedrich Oetinger GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 8, 356 Seiten
Reihe: Alea Aquarius
ISBN: 978-3-96052-273-7
Verlag: Verlag Friedrich Oetinger GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tanya Stewner, zunächst Übersetzerin und Lektorin, widmet sich inzwischen ganz dem Schreiben. Ihre Kinderbuchserien, v.a. Alea Aquarius, sind sowohl in Deutschland als auch international erfolgreich.
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Der Fluss strömte sanft rauschend dahin, gelassen wie ein dösender Drache, der sich seiner Macht voll bewusst, aber gerade nicht zu Furore aufgelegt war. Schillernde Lichtpunkte tanzten auf den Wellenkämmen des Rheins, und Alea Aquarius versank in der Schönheit des Anblicks. Doch für sie, die Walwanderin, war der Anblick nicht nur schön – ihren Augen erschloss sich seine Magie.
»Ahoi?«, sagte Lennox Scorpio, der an Aleas Seite die Uferstraße entlangmarschierte. »Alles okay, oder hat der Fluss dich hypnotisiert?«
Alea lachte. »Ich genieße es, dass ich endlich wieder die Farben des Wassers sehen kann.« Viel zu lange hatte sie auf ihre Meermädchenfähigkeiten verzichten müssen. Aber nun, nach ihrer Rückverwandlung, war der Fluss für sie nicht nur ein Fluss, sondern ein strömendes Regenbogenwunder.
»Was siehst du?«, fragte Lennox neugierig. Als Oblivion besaß er zwar selbst fantastische Gaben, doch im Wasser Besonderes zu erkennen, gehörte nicht dazu. Das vermochten nur die Wanderer.
Alea wies auf die Flussmitte. »Da drüben sind türkisfarbene Knäuel. Solche Gebilde entstehen immer dann, wenn ein Schiff an einer Stelle entlangfährt, wo kurz vorher ein anderes vorbeigefahren ist. Im Meer kommt das eher selten vor, aber hier im Rhein ist richtig … Türkisgedränge.«
Lennox schaute auf die Stelle, auf die Alea gewiesen hatte. »Ich bin so froh, dass du das wieder sehen kannst.« Nachdenklich lächelte er. »Zwar hat dich Orion dadurch, dass er dir deine Fähigkeiten gestohlen hat, nicht aufhalten können. Aber es fühlt sich trotzdem verdammt gut an, dass du sie wieder zurückhast.«
Alea nickte. Doktor Orion hatte sie durch einen DNA-Wandler zu einer Landgängerin gemacht, und das war eine der lehrreichsten und zugleich beängstigendsten Erfahrungen ihres Lebens gewesen. Doch mithilfe des Blutes ihrer Zwillingsschwester Anthea – Thea – war Alea wieder zum Meermädchen geworden. Der Gedanke an Thea ließ sie unwillkürlich einen kurzen, kaum hörbaren Laut ausstoßen, in dem unendlich viel Traurigkeit lag. Alea hatte ihre Schwester gerade erst gefunden, hier in der kleinen Stadt Sankt Goarshausen, dem Zuhause der Loreley. Es war so schön gewesen, Thea endlich Auge in Auge gegenüberzustehen – als wären Wind und Wellen wiedervereint worden. Aber dann hatte der gerissene Doktor wieder einmal gezeigt, dass sie ihn niemals unterschätzen durften, und sie waren von ihm überrascht worden. Er hatte Thea entführt und plante, sie ebenso wie Alea mithilfe seines DNA-Wandlers zu einer Landgängerin zu machen. Sie hatten keine Ahnung, wohin er Thea gebracht hatte. Alea wusste nur, dass ihre Schwester nicht mehr in Sankt Goarshausen war – und dass es entsetzlich wehtat, Thea so bald nach ihrer ersten Begegnung wieder verloren zu haben.
Das traurige Geräusch entrang sich abermals ihrer Kehle. Wenn Lennox und sie in den vergangenen Tagen nicht so viel Hilfe gehabt hätten, wären sie beide nun wahrscheinlich ebenfalls in Orions Gewalt. Hagen, ein Landgänger und der Maulwurf in Orions Gefolge, hatte ihnen in der Fischhalle unter Einsatz seines Lebens zur Flucht vor dem Doktor und seinem Partner Jinx verholfen. Doch das Darkonermädchen Siska hatte zuvor bei Orions Überfall am Rheinstrand nicht weniger riskiert. Siska war wie aus dem Nichts aufgetaucht, hatte Jinx die Pistole entwendet und Doktor Orion damit bedroht, sodass Alea, Lennox und zunächst auch Thea fliehen konnten. Sie hatten neben Hagen also auch der Darkonerin ungeheuer viel zu verdanken. Der Gedanke, dass sie nicht wussten, was nach den Ereignissen am Rheinstrand mit Siska geschehen war, hatte Alea die ganze Nacht gequält. War die Darkonerin ebenso wie Thea von Orions Männern aufgegriffen worden, oder hatte sie entkommen können?
Lennox blieb stehen und küsste Alea auf die Schläfe. »Alles in Ordnung, Yavani?«
Alea liebte es, wenn er sie so nannte, denn in der Wassersprache Hajara bedeutete nicht weniger als und war eine der schönsten Liebeserklärungen, die Alea sich vorstellen konnte. Dennoch fühlte sich ihr Herz schwer an. »Kannst du mich mal kurz in den Arm nehmen?« Die Sorge und Unsicherheit darüber, was aus Thea und Siska geworden war, umhüllte ihr Innerstes wie ein schwerer Nebel.
Lennox zog Alea in seine Arme und streichelte mit einer Hand ihren Nacken. »Es wird alles gut«, versprach er.
Alea vergrub ihr Gesicht in seiner Schulterbeuge und murmelte: »Ehrenwort?«
Lennox’ Stimme war sanft und voller Optimismus. »Vergiss nicht: Wir haben einen Plan. Am neunzehnten September werden wir Orion in Rom erwischen.«
Alea gab ein zustimmendes Brummen von sich. Sie hatte in einer Silberfadenvision gesehen, dass der Doktor an diesem Tag vor einem Kiosk in der Nähe des römischen Kolosseums einen Espresso trinken würde. Genau dort würden sie ihm auflauern, und sobald sie ihn überfallen und dingfest gemacht hatten, wollten sie ihn einer Lafora übergeben – der höchsten richterlichen Instanz der Meerwelt, die über ganz besonders wirkungsvolle Methoden verfügte, Kriminelle mit ihren eigenen Taten zu konfrontieren. Es hieß, dass kein Verbrecher, der von einer Lafora gerichtet worden war, je wieder eine Straftat begangen hatte. Alea hoffte von ganzem Herzen, dass das auch auf den Doktor zutreffen würde.
Sie trat einen halben Schritt zurück und blickte Lennox in die azurblauen Augen. »Hoffentlich hat Orion nicht genug Zeit für irgendwelche weiteren Labor-Gräueltaten, bevor wir ihn nächste Woche in Rom schnappen.« Alea wurde ganz schlecht, wenn sie daran dachte, dass der Doktor damit Erfolg haben könnte, einen neuen Virus zu erschaffen – einen, der die magischen Völker auslöschen sollte. Auf Korsika war Orion mit seinen Forschungen bereits sehr weit vorangekommen, doch dann war sein Labor von Aleas Mutter, Nelani, in die Luft gesprengt worden. Die Frage war: Hatte Orion inzwischen ein neues Labor errichten können und seine Experimente fortgeführt? »Allerdings wird er vor Rom definitiv nicht genug Zeit haben, um Thea in eine Landgängerin zu verwandeln«, sprach Alea weiter. Das war eine Tatsache, doch am Ende des Satzes schwang trotzdem ein klitzekleines Fragezeichen mit.
Lennox hatte es wohl bemerkt. »Der Doktor braucht insgesamt zwei Wochen, um den DNA-Wandler für Thea fertigzustellen«, fasste er zusammen, was sie wussten. »Wir haben also noch dreizehn Tage Zeit, erwischen ihn aber schon in fünf! Das heißt: Orion wird Thea nicht verwandeln können.« Lennox klang, als wollte er das kleine Fragezeichen mit geballter Zuversicht vertreiben.
Alea ließ sich auf seinen Optimismus ein. »Wir haben außerdem dafür gesorgt, dass die Magischen erfahren, was Orion vorhat. In meiner Nachricht habe ich ihnen ganz klar gesagt, dass der Doktor plant, sie zu töten, und dass sie sich zusammentun und uns anschließen sollen, um das zu verhindern.« Der Gilf Gnorfius, den sie in der Laube der Loreley kennengelernt hatten, war bereit gewesen, ihren Aufruf über Anzeigesäulen in der Meerwelt zu verbreiten.
»Deine Idee, die Magischen auf die Suche nach Orions Lager zu schicken, war genial«, fand Lennox. »Und vielleicht ist ihm bereits jetzt, in diesem Moment, eine ganze Armee von magischen Wesen auf den Fersen …« Wie zur Bekräftigung verschränkte er die Finger seiner Hand mit den ihren. Es fühlte sich anders an als früher, denn nun hatte Lennox ebensolche Knubbel zwischen den Fingern wie Alea – Raffnarben, die an Land wie zusammengefallene Kaugummiblasen aussahen, sich im Meer jedoch in starke, sehnige Schwimmhäute verwandelten. Alea drückte seine Hand und genoss das neue Gefühl.
Gedankenversunken spazierten sie weiter. Lennox’ Zuversicht hatte Alea gutgetan. Oft verlieh es ihr eine Extraportion Vertrauen, wenn er Dinge auf seine ganz eigene Art mit voller Überzeugung aussprach. Das war Lennox’ Spezialität – das Richtige zu sagen –, und seine Worte waren oft ebenso eine Zuflucht für Alea wie seine Arme.
Aber nicht nur Lennox’ Liebe gab ihr Kraft. Auch Ben, Sammy und Tess standen felsenfest an Aleas Seite. Die anderen drei Kernmitglieder der Alpha Cru befanden sich momentan in Venedig, fast tausend Kilometer von Sankt Goarshausen entfernt, und Alea vermisste die drei ganz furchtbar.
Unvermittelt blieb sie stehen. »Wie kommen wir nur so schnell wie möglich zu den anderen? Wie –«
Da hielt plötzlich mit quietschenden Reifen ein Auto neben ihnen. Blitzartig riss Lennox Alea hinter sich und breitete die Arme aus, als wollte er mit seinem Körper einen Kugelhagel abfangen.
Erschrocken duckte Alea sich.
Die Fahrertür flog auf. Alea blinzelte um Lennox herum und konnte im Gegenlicht der Abendsonne kaum etwas sehen. Doch dann erkannte sie, wer am Steuer saß. Ein Gesicht mit nachtschwarzer Haut und leuchtend hellen Augen streckte sich ihnen entgegen.
»Steigt ein!«, rief Siska. »Wir fahren nach Venedig.«
Einen Augenblick lang starrte Alea die Darkonerin wie vom Donner gerührt an. Siska war Orion entkommen! Aber wo hatte sie das Auto her? Und wie hatte sie sie gefunden?
»Steigt ein!«, wiederholte Siska auf Hajara. Sie hatte mitten auf der schmalen Uferstraße angehalten.
Lennox war schon dabei, den Kofferraum zu öffnen und seinen Rucksack hineinzuwerfen. Theas Rucksack, den er ebenfalls getragen hatte, und seine schwarze Gitarre legte er mit größerer Sorgfalt hinzu. Alea erwachte aus ihrer Erstarrung und hievte rasch ihren eigenen Rucksack in den riesigen Kofferraum, bevor sie mit Lennox in den Wagen stieg.
Sobald die Autotüren zuschlugen,...