E-Book, Deutsch, 412 Seiten
Stöhr Alles Wirkliche ist Begegnung
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7481-6516-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Verstehen - Gestalten - Sinn geben Eine philosophisch-psychologische Reise in die Welt der Begegnungen
E-Book, Deutsch, 412 Seiten
ISBN: 978-3-7481-6516-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hans-Jürgen Stöhr, Jg. 1949, in Parchim/Mecklenburg geboren. Nach dem Abitur 1968 ein mehrjähriges Studium im Fach Philosophie und Biologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ab 1975 bis 1991 an der Rostocker Universität beschäftigt, zuletzt als Hochschuldozent. Diplom-Philosoph 1972, Promotion 1975, Habilitation 1980. Diverse wissenschaftliche Arbeiten und Publikationen auf dem Gebiet von Philosophie und Natur- und Technik-, insbesondere der Biowissenschaften. Seit 1993 freiberuflich als Trainer und Berater in Sozal- und Gesundheitseinrichtungen tätig. Seit 2012 Inhaber der Rostocker Philosophischen Praxis mit den verschiedensten Formaten der philosophischen Beratung und Öffentlichkeitsarbeit, einschließlich der Rostocker Philosophischen Tage. Publikation: Scheitern im Grenzgang. Wie das Scheitern hilft, das Leben besser zu verstehen, Romeon Verlag, Kaarst 2017
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Das Zwiegespräch ist das vollkommene Gespräch, weil alles, was der eine sagt, seine bestimmte Farbe, seinen Klang, seine begleitende Gebärde , mit dem gesprochen wird, erhält.
Friedrich Nietzsche (1844 – 1900)
Philosophieren
Eine Begegnung zur Wirklichkeitsbewältigung
Der Alltag tritt uns so banal, gegenwärtig und unmittelbar erfahrbar gegenüber, dass die IKEA-abgewandelte Frage „Lebst du noch oder philosophierst du schon?“ uns eher merkwürdig erscheint. Jeder kennt das Wort „Philosophieren“. Es wird schnell abgetan, weil es, so meine Erfahrung, über das oder außerhalb des Alltäglichen unserer Lebenswirklichkeit gestellt wird. Philosophieren sei etwas für Spinner, die abgehoben, lebensfremd diskutieren und Bücher schreiben.
Eine Dame meines Alters, der ich von meiner Philosophischen Praxis erzählte, wusste von ihrem Enkel zu erzählen, was er vom Philosophieren halte. Sie habe ihn gefragt, was er im Philosophieunterricht lernt. Sie erhielt von ihm zur Antwort: „Oma, das ist ein Schulfach, das kannst du dir knicken. Da wird nur `rumgesponnen.“ Wir müssen akzeptieren, dass es von ihrem Enkel geäußerte Meinung ist. Dennoch wage ich zu behaupten, dass es nicht nur eine Meinung eines einzelnen pubertierenden Schülers über das Philosophieren ist. Philosophieinteressierte, die regelmäßig die philosophischen Gesprächsrunden besuchen, erzählten mir, dass sie Freunde zum Mitkommen in das Rostocker Philosophische Café oder in den Salon einluden. Enttäuscht mussten sie deren Ablehnung zur Kenntnis nehmen. Die Gründe waren ähnlicher Natur wie die des Schülers.
Der Sinn des Philosophierens aus dem Alltag heraus ist noch nicht überall angekommen. Zumindest wird die Wirklichkeitsbewältigung unseres Alltages nicht durch eine „Philosophische Brille“ gesehen. Dabei will ich nicht ausschließen, dass so manche Alltagskonversation philosophischer Natur ist, jedoch nicht als solche erkannt wird. Der Gedanke, dass in jeder alltäglichen Lebens-, Krisen-, Konflikt-, schlechthin Wirklichkeitsbewältigung Philosophisches steckt, stößt bei manchen auf Unverständnis und schwer glaubhaft.
Diese und viele weitere erfahrene Gesprächssituationen machen deutlich, dass der Kant´sche Aufsatz über die Aufklärung (vgl. Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung, in: Berliner Monatszeitschrift, Dezember 1784) bis heute nicht an Bedeutung verloren hat. Wir begegnen nach wie vor einer vom Menschen selbst verschuldeten Unmündigkeit. Die Bereitschaft, Selbstaufklärung selbst zu verantworten, den natürlichen Antrieb an Wissensneugier auszuleben, hält sich vor allem dann in Grenzen, wenn der Alltagsbezug nicht in der Unmittelbarkeit und praktischen Anwendung gesehen wird. Die Ursachen dafür sind vielfältig.
Nach über 230 Jahren seit Erscheinen des Kant´schen Aufsatzes hat der Aufklärungsprozess keineswegs seinen Abschluss gefunden. Ihn wird es m. E. auch nicht geben, weil jeder von uns Individualerfahrung in Sachen Aufklärung braucht und macht. Darauf verweist das Philosophische Manifest „Verändern wir die Welt!“ deutlich. (vgl. HOHE LUFT, Heft 5/2015, S. 21 ff.).
Der Mangel an bestehender Aufklärung ist nicht nur eine Kritik an heute wirkenden Philosophen, die das Philosophieren allzu wenig als Tätigkeit begreifen und an althergebrachten inhaltlichen und methodischen Zöpfen des Philosophierens festhalten. Das Manifest ist ein Plädoyer, das Philosophieren neu, der heutigen Lebenswirklichkeit, den Erfordernissen und Ansprüchen angemessen, aufzustellen. Die zehnte These des Manifestes, von der Philosophin Rebekka Reinhard und den Philosophen Tobias Hürter und Thomas Vašek verfasst, bringt es auf den Punkt: „Philosophie soll die Welt verändern“.
Karl Marx (1818 – 1883), der sich in jungen Jahren mit dem Religionskritiker Ludwig Feuerbach (1804 – 1872) auseinandersetzte und die Feuerbachthesen (1845) verfasste, können wir uneingeschränkt beipflichten: „Die Philosophen haben die Welt nur unterschiedlich interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern.“
Ich muss eingestehen, dass ich gerne die Gelegenheit nutze, so manchem Gesprächsinhalt des Alltags einen philosophischen Touch zu geben. Ich mag es, wenn sich Lebenswirklichkeit und philosophisches Denken treffen. Das Hinterfragen und Zweifeln, Begriffserklärungen und ethisch-moralische Fragestellungen, bewegen sich in den Vordergrund. Für mich sind das methodische Basics philosophischen Denkens. Die Welt in ihren Teilen zu analysieren und sie wieder aus einem anderen Blickwinkel zusammenzubauen, bedarf einer gewissen Denkübung, die nicht jedermanns Sache ist.
Small-Talk und eine gewisse Leichtigkeit zwischenmenschlicher Kommunikation machen das Philosophieren lebendig. Dem Philosophieren nicht nur mit seiner vermeintlichen Ernsthaftigkeit zu begegnen, sondern mit ihm Lust und Neugierde am Denken hineinzutragen, erachte ich für wichtig. Es lohnt sich, das Philosophieren zu einem lebenspraktischen Erlebnis zu entwickeln. Philosophen von Profession, die im universitären und außeruniversitären Bereich tätig sind, haben dafür Verantwortung zu übernehmen.
Das führt mich zu der Frage: Brauchen unsere alltäglichen Wirklichkeitsbegegnungen ein kommunikatives Denken, das wir Philosophieren nennen? Wenn wir diese Frage bejahen, ist zu ergänzen: Was hat das Philosophieren mit Begegnung und Wirklichkeitsbewältigung zu tun?
Die meiste Zeit seiner Existenz war der Mensch mit seinem nackten Überleben beschäftigt. An Philosophieren war nicht zu denken, was nicht heißt, dass die Menschen sich keine Gedanken über ihre Lebenswelt machten. Sie suchten Erklärungen für ihre Lebensumstände und das, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Wenn der Mensch mehr als nur überleben wollte, kam er nicht daran vorbei, seine Welt als Ganzes zu begreifen, und sich Wissen über sie anzueignen. Mit der Abkopplung des Denkens von harter menschlicher Arbeit waren Raum und Zeit frei, über „Gott und die Welt“ zu philosophieren.
Das Philosophieren etablierte sich zu einer exponierten Denkkunst, die das Alltagsdenken hinter sich ließ. Das ist Grund genug für die Erklärung, dass das Philosophieren bis heute losgelöst vom Alltagsdenken und der alltäglichen Lebensbewältigung betrachtet wird. Alltagsbegegnungen werden nicht oder viel zu wenig als philosophische Begegnungen wahrgenommen.
Der Mensch ist von Natur aus ein kreatives, antwortsuchendes und handelndes Wesen. Dafür braucht er keine Philosophie. Er hatte schon vor ihr eine Anschauung über (s)eine Welt, in der er lebte. Er versuchte für all das, was ihm begegnete und für die Wirklichkeitsbewältigung wichtig erschien, Erklärungen zu finden, die ihm Antworten für die Lebenspraxis gaben. Die gemachten Erfahrungen verschafften dem Leben eine innere Ordnung. Sie bündelten das Wissen, sortierten Entscheidungen und führten zu nutzbringendem und überlebenswichtigem Handeln. Sie waren es wert, für die Nachfahren aufgehoben (bewahrt) und weiter gegeben zu werden. Das brachte nicht nur Sicherheit, sondern Lebensfortschritt, der das Leben von Generation zu Generation handhabbarer, das heißt kontrollierbarer und beherrschbarer machte.
Diese Welt-Anschauung als Draufsicht auf die erfahrbare (erfahrene) Lebenswelt bildete die Grundlage für das spätere Philosophieren. Solange menschliche Arbeit nicht Menschen für ein philosophisches Denken freisetzen konnte, reichte es nicht. Alle Kraft und Zeit waren auf die Existenz des Lebens gerichtet. Zur Sicherung des Lebensunterhaltes waren alle verpflichtet.
Priester und Schamanen waren schon jene, die sich zu jener Zeit mit dem Geistig-Spirituellen beschäftigten. Sie können wir als die Vorläufer des Philosophierens betrachten. Ihre Art zu denken, war den Weisen und Erfahrenen der Gemeinschaft (i. d. R. des Stammes) vorbehalten. Sie hatten für die Gesellschaft einen wichtigen, lebensführenden Platz eingenommen.
Die „Philosophenkaste“, die sich vorrangig dem Denken über den Menschen und die Welt zuwandte, gab es nicht. Ihre Versorgung durch die Gemeinschaft bedurfte einer höheren Produktivität. Das änderte sich mit einer höheren Versorgungseffizienz. Die Gesellschaft konnte sich eine Schicht (Gruppe) von Menschen leisten, die sich verstärkt geistigen Genüssen zuwandte. Die Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit war damit vollzogen. Menschen wie Sklaven, Handwerker und Bauern trugen zum Lebensunterhalt jenes „Geistesstandes“? bei, zu denen Patrizier, Priester, Künstler und Soldaten? gehörten.
Das Patriziat war jene gesellschaftlich-herrschende Gruppe, die in den meisten Fällen die Denker hervorbrachte. Die Geburtsstunde des Philosophierens im Abendland war im 6. Jh. v. Chr. nicht mehr aufzuhalten. Das Philosophieren in der europäischen Antike stand unter dem Motto „Erkenne die Welt!“. (vgl. David Precht, Erkenne die Welt. Eine Geschichte der Philosophie, Bd. 1, Goldmann 2015)
Das...




