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E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Stott Erlöst

Mein Weg aus der Sekte
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-641-22253-6
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Mein Weg aus der Sekte

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-641-22253-6
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Als Rebecca Stotts Vater im Sterben liegt, bittet er seine Tochter darum, ihm beim Verfassen seiner Erinnerungen zu helfen: schon seit Jahren kämpft er damit, die Geschichte seiner Familie festzuhalten, die seit Generationen Mitglied einer fundamentalistischen christlichen Sekte ist. Doch zu schmerzhaft sind die Erinnerungen. In diesem beeindruckenden Memoir versucht die Autorin zu ergründen, warum intelligente leidenschaftliche Menschen in den Sog einer fundamentalistischen Religion geraten können, und welche schwerwiegenden Folgen dies hat. Ihre eigene Kindheit im Brighton der 60er und 70er Jahre war geprägt durch das eiserne Korsett der Regeln ihrer Gemeinde und so weit entfernt vom liberalen Geist dieser Zeit, wie nur irgend möglich. Stotts Familie ist es dennoch gelungen, mit der Sekte zu brechen.

Rebecca Stott, Jahrgang 1964, arbeitet in Cambridge als Professorin für Englische Literatur an der Anglia Ruskin University und als Scholar am History and Philosophy of Science Department. Sie hat eine Vielzahl wissenschaftlicher Arbeiten und populärer Sachbücher verfasst, außerdem erstellt sie regelmäßig Beiträge für das Hörfunkprogramm der BBC. Ihr erster historischer Roman, "Und Blut soll dich verfolgen", erschien 2007 bei Blessing.
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1


Ich war ein Brethren in vierter Generation. An den Ästen unseres Familienstammbaums stehen vor mir drei Brethren-Generationen mütter- wie väterlicherseits. Davor gab es einige Generationen französischer Hugenotten, calvinistische Auswanderer, die vor den Wellen katholischer Verfolgung geflohen waren. Wenn man in eine Gruppe wie die Brüderbewegung geboren wird, und alle, die man kennt, Eltern, Freunde, Arbeitskollegen, Geschwister, Großeltern, Urgroßeltern, Cousins und Cousinen, leben nach den Brethren-Regeln, hält man es für vollkommen normal. Allein die Menschen der Gruppe scheinen fremd und merkwürdig.

Diese lange Brethren-Tradition galt als eine Art Ehrenabzeichen in unserem Haus, woran wir durch die Geschichten, die uns erzählt wurden, sowie verschiedene Objekte und Andenken erinnert wurden. Über dem Kamin in unserem Wohnzimmer hing ein Ölporträt meines bedeutenden Ururgroßvaters, Grandpa Mallalieu, des Großvaters meiner Großmutter. Es erinnerte auch unsere Brethren-Gäste, die zwischen den Versammlungen zum Tee kamen, an die erlesene Herkunft unserer Familie. Arthur Lee Mallalieu hatte die Lehre durch Australien getragen, hatte Begegnungszelte und Blechtabernakel errichtet und geholfen, die ersten Brethren-Gemeinden in Adelaide, Canberra, Melbourne und Sydney zu etablieren. Wenn meine Mutter an kalten Wintertagen Crumpets über dem Feuer für uns röstete, hob ich den Blick zu ihm, und er sah mir direkt in die Augen.

Es war kein besonders strenges Porträt. Grandpa Mallalieu war groß und gut aussehend. Auf dem Bild schien er kurz von seiner Bibellektüre aufzusehen, sein Kopf ruhte nachdenklich auf seiner Hand. Aber seinen Augen war nicht zu entkommen. Als Kind war ich in jede Ecke des Zimmers gelaufen, um eine Stelle zu finden, wo ich ihnen aus dem Weg gehen konnte. Es gab keine.

Immer beobachtete mich jemand: Gott von oben und Grandpa Mallalieu von der Wand der Wohnzimmers.

Das Porträt sei über ein anderes Bild gemalt worden, sagte meine Mutter, aber sie konnte sich nicht erinnern, was darauf zu sehen gewesen war. Als kleines Kind stellte ich mir vor, hinter Grandpa Mallalieu sei ein Schiff, das vom Wind getrieben gegen hohe Wellen ankämpfte.

In die Küche hatte meine Mutter einen großen gerahmten Druck von Vermeers gehängt. Sie liebe das Kobaltblau der Schürze der jungen Frau, sagte sie. Es war ihre Lieblingsfarbe.

Die Dienstmagd stand an einem Fenster und goss Milch in eine Schüssel auf einem Tisch voller frisch gebackenem Brot. Sie beobachtete mich nicht, wie es Grandpa Mallalieu tat. Ihr Blick war nach unten gerichtet, auf die Milch, in Tagträume versunken, genau wie es meine Mutter oft war. Ich betrachtete die Magd vom Tisch aus, wenn mein Vater vorm Abendessen das Gebet sprach und meine Geschwister und ich, die Augen geschlossen, mitbeten sollten. Es war eine Terrakottaschüssel, in die sie die Milch goss, tat sie das. Und so wie sie den Kopf bedeckt hatte und mit dem Tisch voller frisch gebackenem Brot, nahm ich immer an, sie sei eine Brethren-Schwester, genau wie meine Mutter und meine Tanten, immer damit beschäftigt, Brot für die Versammlung am Tag des Herrn zu backen. Während die Männer im Nebenzimmer Predigten und disziplinarische Entscheidungen besprachen – wie sie es auch in unserem Haus taten –, erhaschte sie einen Moment für sich und ihre Träume.

Aber es gab eine hölzerne Schachtel in der rechten unteren Ecke des Bildes, die mich mit Furcht erfüllte. Kürzlich las ich, dass es sich wahrscheinlich um einen Fußwärmer aus dem siebzehnten Jahrhundert handle, aber damals sah ich eine Falle oder ein Folterinstrument darin. Dieses Ding bedeutete, dass die träumende, füllige, Kobaltblau tragende junge Frau erwischt werden würde.

***

Brethren waren stolz auf ihre Wurzeln. Mein Vater verteidigte den radikalen Puritanismus der ersten Brüder auch noch, nachdem er die Bewegung verlassen und seinen Glauben an Gott aufgegeben hatte, und das manchmal durchaus leidenschaftlich.

»Es fing vernünftig an«, sagte er, »doch dann ging es schief. Sie hatten nicht vor, ihre eigene Kirche zu gründen. Sie waren einfach gute Männer, die über Gott zusammenfanden und einen Weg suchten, nach dem Paulus-Evangelium zu leben.«

Wollte ich verstehen, was mein Vater das »Nazi-Jahrzehnt und seine Nachwirkungen« nannte, die Turbulenzen, die wir als Familie in den Sechzigern durchlebten, den Siebzigern und Achtzigern, die Trennungen, Selbstmorde, den Skandal, die Schismen, das Glücksspiel, die Süchte meines Vaters, seine Veruntreuungen und die Gefängnisstrafe, musste ich begreifen, wie die Brethren von einer vernünftigen Bewegung, wie mein Vater es sah, zu einer nicht mehr vernünftigen geworden waren. Ich musste herausfinden, wie ein Kult aus ihnen geworden war.

Die Handvoll Bücher über die Brethren, die ich las, bestätigten sämtlich, was mein Vater sagte. In den späten 1820ern, abgestoßen von der Korruption, der Dekadenz und den Querelen innerhalb der anglikanischen und katholischen Kirche, kamen einige junge Männer in Dublin in Wohnzimmern und angemieteten Räumen zusammen, um das Brot zu brechen. Sicher, dass sich die Welt ihrem Ende näherte, beschlossen sie, zu den Prinzipien der frühen christlichen Kirche zurückzukehren, wie sie im Paulus-Evangelium beschrieben wird – zugeschnitten, wie sie es für angemessen hielten, auf die Gläubigen des neunzehnten Jahrhunderts:

Ohne Priester.

Ohne Rituale.

Ohne Mittler.

Ohne Weihrauch.

Ohne Hierarchien.

Ohne heilige Stätten.

Ohne Altäre und Kanzeln.

Sie waren keine eigene Konfession, darauf bestanden sie. Sie folgten einfach nur dem Heiligen Geist und bereiteten sich auf die Endzeit vor.

Ein charismatischer Ex-Anwalt und Ex-Vikar, John Nelson Darby, übernahm am Ende die Führung. Keiner von ihnen würde gerettet, erklärte er seinen Anhängern, wenn sie sich nicht völlig vom Rest der Welt absetzten. Sie müssten ein sauberes Haus schaffen für die Ankunft des Herrn.

In meiner Kindheit fanden sich gerahmte Fotografien von Darby an den Wänden der meisten Brethren-Wohnzimmer. Zwei ältere Brethren-Schwestern, genannt die Miss Ellimans, hatten sonntags, am Tag des Herrn, immer Süßigkeiten für uns, die aus einer Schublade eines Schranks mit Glastüren kamen, in dem sie ihren gerahmten Darby stehen hatten. Obwohl die Brethren von ihm quasi wie von einem Heiligen sprachen, sah er, wie er da hinter den Glastüren ihres Schranks lauerte, für mich wie jemand aus, der einen anschreien würde, sobald er den Mund aufmachte.

Darby ist berühmt dafür, das Konzept der Entrückung »erfunden« zu haben. Er habe eine Vision gehabt, erklärte er seinen Anhängern, dass es Wiederkünfte des Herrn geben werde, nicht nur eine. Zunächst komme Christus und hole die Brethren in einem plötzlichen geheimen Exodus vom Planeten in den Himmel. Es stehe alles in der Schrift. Hatte der Apostel Paulus den Thessalonichern nicht gesagt, das Volk Gottes werde »in die Luft entrückt«? Kaum dass es zur Entrückung gekommen sei, würden alle Zurückgelassenen, die »weltlichen« Menschen, die Große Drangsal erleben. Die Bibel sagte nicht, um was genau es dabei ging, aber wir alle begriffen, dass es schreckliche Stürme, Erdbeben, Seuchen und Hungersnöte geben würde.1

John Nelson Darby

Christus werde ein zweites Mal wiederkehren, schrieb Darby, zum Jüngsten Gericht. Dann würden einige Menschen gerettet, aber sie kämen nur in eine nachgeordnete Position. Die privilegiertesten Himmelsbewohner würden die Entrückten sein, die mit dem ersten Exodus nach dort oben gelangt waren: die Elite, die Erste-Klasse-Reisenden, die Auswanderer.

Das waren , meine Leute, die Brethren.

Sie sagten uns Kindern, alles, was wir tun müssten, sei, den Herrn Jesus in unsere Herzen aufzunehmen und »uns vom Laster fernzuhalten«, um uns einen Platz in der so herbeigesehnten Entrückung zu sichern. Aber trotz aller Anstrengungen gelang es mir auf Dauer nie, mich vom Laster fernzuhalten – was natürlich bedeutete, dass ich wusste, ich würde zurückgelassen werden.

Die Brethren, die uns zwischen den Versammlungen bei uns zu Hause zum Tee besuchten, kamen aus der ganzen Welt. Nachdem Grandpa Mallalieu damals im neunzehnten Jahrhundert seine Missionarsarbeit begonnen hatte, war die Bewegung überall hin vorgedrungen. Im Jahr 1845 brachen 1.200 Brethren in einer Halle in Plymouth gemeinsam das Brot. Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts gab es Gemeinden in ganz Europa, in Australien, Neuseeland, Amerika, Jamaika und Kanada. Die Brüderbewegung brach das Brot in Zelten, in aus Bausätzen errichteten Wellblechkirchen, auf Feldern, in Dschungeln und im Outback.

Von Beginn an gab es Auseinandersetzungen und Spaltungen. Als Darby 1845 vom Predigen auf dem europäischen Festland zurückkam und feststellen musste, dass die Brethren in Plymouth wieder Priester installiert hatten, verurteilte er sie und zog sich von ihnen zurück. Es war die erste von vielen Distanzierungen. Im nachfolgenden Traktate-Krieg beschuldigte Darby den Anführer seiner Gegner, Benjamin Newton, »ein blindes Werkzeug des Satans« zu sein, was zu neuen Verwerfungen führte. Als die Brethren der Bethesda-Gemeinde in Bristol mit einigen Anhängern Newtons das Brot brachen, zog sich Darby generell von ihnen zurück und schrieb den übrigen Brethren-Gemeinden in der ganzen Welt, »ein Bethesda-Mitglied zu empfangen, heißt, einer Infektion durch das abscheuliche...


Löcher-Lawrence, Werner
Werner Löcher-Lawrence, geb. 1956, studierte Journalismus, Literatur und Philosophie, arbeitete als wissenschaftlicher Assistent an der Universität München und als Lektor in verschiedenen Verlagen. Er ist der Übersetzer von u.a. Ethan Canin, Patricia Duncker, Michael Ignatieff, Jane Urquhart.

Stott, Rebecca
Rebecca Stott, Jahrgang 1964, arbeitet in Cambridge als Professorin für Englische Literatur an der Anglia Ruskin University und als Scholar am History and Philosophy of Science Department. Sie hat eine Vielzahl wissenschaftlicher Arbeiten und populärer Sachbücher verfasst, außerdem erstellt sie regelmäßig Beiträge für das Hörfunkprogramm der BBC. Ihr erster historischer Roman, "Und Blut soll dich verfolgen", erschien 2007 bei Blessing.



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