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E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Straßberger Ich und Du. Entdeckungen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-451-84034-0
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die besten Beiträge zum SCIVIAS-Literaturpreis
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
            ISBN: 978-3-451-84034-0 
            Verlag: Verlag Herder
            
 Format: EPUB
    Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lisa Straßberger, geb. 1965 in München, studierte Literaturwissenschaft, Geschichte und Theologie in München, Berlin, Frankfurt am Main und New York. Zunächst war sie als Journalistin bei der Süddeutschen Zeitung und beim Deutschlandradio Berlin tätig. Seit 2006 ist sie Studienleiterin für Literatur in der Katholischen Akademie Rabanus Maurus in Frankfurt am Main. Sie ist verheiratet und hat vier Söhne.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Flora Weber
1
Fiktive Performance mit Jan Ullrich
(Jan Ullrich drückt dreimal auf eine Nebelmaschine.)
Ich sage:
Hallo und herzlich willkommen an Bord, meine Damen und Herren. Bitte verstauen Sie großes und schweres Handgepäck ausschließlich unter Ihrem Vordersitz. Passagiere in den Notfensterreihen 11 und 12 sind verpflichtet, ihr gesamtes Handgepäck in die Ablagefächer über sich zu legen. Bitte nehmen Sie Ihre Plätze ein und schnallen Sie sich an. Vielen Dank.
(Jan Ullrich drückt wieder auf die Nebelmaschine.)
Wir holen beide einen Stuhl und setzen uns.
Er fragt: Woran denkst du?
Ich sage: An das Gleiche wie gestern.
Er sagt: Ich habe mal irgendwo gelesen, dass am Tag nur fünf Prozent neue Gedanken dazukommen.
Er drückt auf einen CD-Spieler. Es läuft »Fade to Grey«, die Karaokeversion.
Wir stehen beide auf, wippen im Takt.
Intro:
Ich:
Ich frage mich, worauf sich neu bezieht.
Ob damit komplett neu gemeint ist
oder auch Altes, das man vergessen hat.
Jan Ullrich:
Meinst du, ein paar Prozent bleiben gleich,
die denkt man sein ganzes Leben?
Ich:
Wer hat das eigentlich ausgemessen? Woher stammt die Info?
Jan Ullrich singt:
One man on a lonely platform
One case sitting by his side
Two eyes staring cold and silent
Shows fear as he turns to hide
Wir singen zusammen:
Aaah, we fade to grey (fade to grey)
Aaah, we fade to grey (fade to grey)
Ende 1
(Die Musik geht aus, wir verschwinden im Nebel, die Performance ist zu Ende.)
Ende 2
Ich mache die Musik aus.
Wollen wir gehen? (Fragt Jan Ullrich.)
Wir sind in einem Flugzeug. (Sage ich.)
(Eine angewiesene Person beginnt zu klatschen.)
2
Irgendjemand meinte mal zu mir, beim letzten LSD-Trip hätte er in den Haaren der Mona Lisa die Struktur der Zeit erkannt.
3
Immer wenn ich Liebeskummer habe, sagt Adam zu mir:
»Bitches come and go, bro, but you know I stay.«
Letztens haben wir uns an der Weltzeituhr getroffen und einen Sekt getrunken.
Er sagte:
»Zeit ist nicht linear«,
und schaute dabei über den Rand seiner Sonnenbrille.
»Gucci, Baby.«
Wir gingen einen Shawarmateller essen und tranken noch einen Sekt.
Als ich wieder in Düsseldorf war, kaufte ich auch eine teure Sonnenbrille.
Fendi im Geländi,
dichtete ich und schickte Selfies an diverse Leute, die mir einfielen.
»Ich habe niemals in meiner Karriere einen anderen Rennfahrer betrogen«,
sagte Jan Ullrich.
In meinen Handyfotos finde ich eine Folie.
Sören K., Zitate zum Wahnsinn:
Subjektiv
Objektiv
4
Können Gedanken einen finden? Wie Kinder, die man bei IKEA verloren hat, die einen durch Lautsprecher ausrufen lassen?
Ich frage mich umgekehrt, ob man spüren kann, dass Dinge im Begriff sind, zu geschehen. Weil sie vielleicht wie Schatten in einer anderen Schicht von Zeit an einem vorbeifliegen und einen anwehen und man dann manchmal etwas ahnt.
Neue Gedanken.
Ich frage mich, was meine heutigen fünf Prozent sind.
Ich sitze auf dem Balkon und schreibe. Hundert durch 5 sind 20.
Wenn es glattgeht, sind die Gedanken in 20 Tagen komplett neu.
Das wäre schön, denke ich.
5
Der Himmel über mir blau, die fadenförmigen Wolken darin.
In Lovern und Cirren kann man sich irren, sagt man, sagte jemand zu mir.
Ich google: Cirrus. Fadenziehende Eiswolken. Cirren gelten landläufig als Schlechtwetterboten, da sie häufig der Warmfront eines heranziehenden Tiefs vorauslaufen.
Manchmal treten sie aber auch inmitten von Hochdruckgebieten auf.
Ich stehe an der Haltestelle.
Warum riecht die Welt heute nach Kölnischwasser?
In meiner Tasche ist eine Flasche Parfüm ausgelaufen. Das merke ich, nachdem ich mich bei drei Passanten über die zu intensive Parfümauswahl echauffiere, innerlich, und schließlich feststelle, dass der Duft von mir selbst ausgeht, meiner Tasche.
Jasmin noir.
6
Es ist schwer abzustecken, wo die Gegenwart ist. Auf seltsame Weise gehört Heidi Klum dazu, auf Unterwäscheplakaten posierend, die gerade überall in Düsseldorf hängen.
Auch an der Haltestelle, an der ich gerade stehe, auf die Bahn warte.
Und Kim Kardashian, die in mein Instagram gekippt ist, eventuell bin auch ich in sie gekippt.
Sie sagt:
»Ich habe das Gefühl, dass man für mehr Emotionen weniger Botox braucht, und das habe ich nicht. Wie soll ich Angst haben? Wie soll ich weinen?«
Mich überkommt Mitgefühl für Kim persönlich.
»Ich kann einen Film pro Jahr machen. Ich habe etwa 10 Jahre, in denen ich noch gut aussehe, das ist also alles, was ich in mir trage.«
Und Mitgefühl für die weibliche Beauty im Allgemeinen.
Ich spiegle mich in der Scheibe der Bushaltestelle. Mein Gesicht ist etwa da, wo Heidi Klums Brüste sind.
Ich gucke auf mein Handy, eigentlich hätte ich andere Sorgen.
Keeping up with a lost Kardashian.
Wenn ich darüber nachdenke, frage ich mich, warum dieser Mönch in den koreanischen Bergen so ein großes Smartphone hatte. Sein Vorbild war Buddha. Aus Eigenbetrachtung würde ich sagen, dass so etwas einen davon abhält, erleuchtet zu werden.
Vielleicht ist es aber auch Dialektik, die ich nicht verstehe. Den Gong schlagen und iMessage schreiben.
7
In diesem Jahr ist das Wetter so schlecht, sagt meine Chefin.
Letztes Jahr war es auch so schlecht, sage ich.
Daran kann ich mich nicht mehr erinnern.
Ich hab es aufgeschrieben.
Aha, schreibst du Logbuch, oder was?
Ja.
8
Ich whatsappe.
Jaja, dieses life schon wieder.
Stella markiert die Nachricht mit einem Herz.
Spaziergang zur Insel Hombroich
Wie lang ist die Tour de France?, frage ich mich.
Erinnerung an die Sommer bei meinen Großeltern.
Die Sonne scheint, mein Opa und ich sitzen in der Stube, die Rollos sind hinuntergelassen, wir schauen die Tour de France.
Eigentlich finde ich es langweilig, aber ich mag Fernsehen. Ich erinnere mich daran, wie ein Radfahrer mit vielen Sommersprossen und einem wütenden Gesicht häufig über den Bildschirm fährt. Er trägt Pink, er heißt Jan Ullrich.
Mein Opa ist ein Fan, ich bin es auch.
Jan U.:
»To me there is no doubt. I will fighting for Victoriy!«
Ich rufe meinen Opa an.
O: Ja, wer ist da?
F: Hallo, hier ist Flora.
O: Ach hallo, wie geht es dir?
F: Gut, ich laufe gerade über ein Rübenfeld.
O: Da könntest du dir ja was ernten.
F: Ich glaube, ich brauche keine Rüben.
O: Ach so. Na dann nicht.
F: Wie geht es dir?
O: Gut, ich bin gerade im Schlafzimmer.
F: Bist du krank?
O: Krank? Ich war noch nie gesund.
F: Was machst du dort?
O: Ich suche Dinge, die unters Bett gefallen sind.
F: Hast du etwas gefunden?
O: Ja, ein paar Medikamente.
Ich erzähle, dass die Sonne scheint.
Er erzählt, bei ihnen könnte es mal wieder regnen.
Ich sage, dass ich im Juli vorbeikomme. Wir legen auf.
9
»Wenn ich arbeiten muss, musst du es auch, du Scheißkerl!«, schreit ein Kind zum anderen. Sie stehen vor der Wasserpumpe.
Dann liegen sie sich in den Armen.
Plottwist.
Ich denke im Laufen darüber nach.
Meterweit außerhalb des Sandkastens sitzen die Eltern auf Bänken.
Ich werfe einen Blick in ihre Richtung.
Niemand hat es gehört.
Nur ich im Vorübergehen auf dem Weg zum Bauch-Beine-Po-Kurs.
Ich erinnere mich daran, mal gehört zu haben, dass man im Spiel das echte Leben probt.
So oder so ähnlich hatte es eine Erzählstimme ausgeführt, als bei irgendeiner Tierdoku zwei kleine Löwen miteinander kämpften.
Damals schien es einleuchtend.
Jetzt habe ich Fragen.
Das echte Leben.
Ich bin zu spät beim Kurs. Pride Ladys. Alle Ladys in Kursraum 1 sind bereits ausgestattet mit Equipment und schicken sich an, die erste Kniebeuge zu machen.
»›Hallo‹, sagt man«, ruft die Trainerin durch den Raum, als ich eine Matte hole. Es ist leicht unangenehm. Ich nehme mir vor, das nicht persönlich zu nehmen.
Und dann bei meiner ersten verspäteten Kniebeuge: »Mach die Knie weiter nach außen, liebe Flora!«
Ich bin schockiert von der persönlichen Ansprache.
In langen Jahren des Fitnesskursbesuchens habe ich mir immer eine gewisse Anonymität dabei bewahrt. Ich habe selten Hallo gesagt und nie, wenn ich zu spät kam.
Ich wollte dort immer nur landen wie ein Ufo.
Meine fitte Anonymität.
10
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