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E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Strasser Das freie Wort

Vom öffentlichen Gebrauch der Vernunft im postfaktischen Zeitalter
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-86906-998-2
Verlag: Allitera Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Vom öffentlichen Gebrauch der Vernunft im postfaktischen Zeitalter

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-86906-998-2
Verlag: Allitera Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Wir leben in postfaktischen Zeiten ? lesen und hören wir allenthalben. Aber was heißt das eigentlich? Gilt auf einmal die harte Realität, die nüchterne Anerkennung der Tatsachen, nichts mehr, ist uns die Wahrheit schnuppe, zählt immer und überall nur noch die Meinung, das Bauchgefühl? In diesem Buch setzen Schriftsteller und Intellektuelle dem aufgeregten Zeitgeist Argumente entgegen. Vernunft und Empathie gegen Hass und Panikmache, nüchterne Analyse und ehrliche Selbsterforschung gegen Lüge und Selbstbetrug. Sie erheben die Stimme für mehr Demokratie in Deutschland und Europa - und gegen die simplen und menschenverachtenden Konzepte der rechten Populisten.

JOHANO STRASSER, geboren 1939 in Leeuwarden (Niederlande), studierte Sprachen und Philosophie und lehrte von 1978 bis 1983 Politikwissenschaft an der Freien Universität in Berlin. Seit 1983 arbeitet er als freier Schriftsteller und lebt in Berg am Starnberger See. Von 2002 bis 2013 war er Präsident des PEN-Zentrums Deutschland. Er veröffentlichte zahlreiche Sachbücher, Romane, Hörspiele, Theaterstücke und Gedichtbände, zuletzt den Roman Die schönste Zeit des Lebens (2011), Gesellschaft in Angst. Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit (2013), Das Drama des Fortschritts (2015), Der Wind. Ein Gedicht (2016).

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Johano Strasser ZUR EINLEITUNG: VOM ÖFFENTLICHEN GEBRAUCH
DER VERNUNFT IM »POSTFAKTISCHEN ZEITALTER«
»Postfaktisch« – das Wort des Jahres 2016 wirft seinen Schatten über unsere verunsicherte Gegenwart. Für viele ist es das Schlüsselwort unserer Epoche: Wir leben in »postfaktischen« Zeiten, lesen und hören wir allenthalben. Aber was heißt das eigentlich? Gilt auf einmal die harte Realität, die nüchterne Anerkennung der Tatsachen, nichts mehr? Ist uns die Wahrheit schnuppe, zählt immer und überall nur noch die Meinung, das Bauchgefühl? Und wurde im guten alten Zeitalter des bürgerlichen Anstands und der angeblich so reibungslos funktionierenden parlamentarischen Demokratie, das nun leider zu Ende geht, immer nur um die Wahrheit, die ganze und reine Wahrheit gerungen? Neigten Politiker nicht auch früher schon dazu, Fakten zu schaffen, die nicht oder nicht ganz der Wahrheit entsprachen, aber ihren Interessen und Absichten entgegenkamen? Und gilt nicht auch in unserer parlamentarischen Demokratie seit eh und je der Grundsatz »Mehrheit ist Mehrheit«, egal, ob sie mit hieb- und stichfesten Argumenten oder mit Halbwahrheiten und Meinungsmache erzielt wurde? Wer heute wie vor 160 Jahren Ferdinand Lassalle behauptet, »alle große politische Aktion besteht im Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit«, muss damit rechnen, dass er von politischen Insidern und professionellen Politikauguren als Dilettant und Traumtänzer belächelt wird. Haben nicht alle Parteien in einem politischen Konflikt oft ihre je eigenen Fakten, die zu möglichst schlüssigen Erzählungen zusammengefasst oft die mühsame Begründung der eigenen Politik erübrigen sollen? Und ist nicht Medienpräsenz für den Erfolg eines Politikers heute allemal wichtiger als Sachkompetenz? Was ist eigentlich ein factum, eine Tatsache? Gut, es gibt Tatsachen, die man nicht leugnen kann, wie die Glastür, an der man sich den Kopf blutig stößt, obwohl man sie (oder besser: weil man sie) nicht gesehen hat, oder wie das Fluorid im Trinkwasser oder das Kohlenmonoxid in der Luft, das man weder sehen noch riechen noch schmecken kann und das trotzdem schädlich, zuweilen sogar tödlich ist. Und es gibt den durch die überwältigende Übereinstimmung nahezu aller ernsthaften Wissenschaftler bestätigten Befund, dass die Menschheit drauf und dran ist, durch ihre falsche Produktions- und Lebensweise einen katastrophalen »Erdsystemwandel« zu erzeugen, der nur durch eine entschlossene ökologische Wende noch abgewehrt werden kann. In diesem Punkt kann sich das störrische Verleugnen des Faktischen durch Personen wie Donald Trump als lebensgefährlich für die Menschheit erweisen. Dennoch, nicht von ungefähr heißt factum dem Wortsinn nach »gemacht«, Fakten sind also nicht einfach da, existieren nicht völlig für sich. Sie existieren in einem Kontinuum von Wirklichem, und werden erst durch unser Zutun, durch Abstraktion, zu einzelnen Tatsachen, und dies auch dann, wenn sie nicht wie die Umweltprobleme erkennbar das aggregierte Ergebnis menschlichen Handelns sind. Die Fakten, die unserem gemeinschaftlichen Weltverständnis zugrunde liegen, auch die, die im politischen Prozess trotz aller Tendenz zur Inszenierung auch heute immer noch eine wichtige Rolle im politischen Streit spielen, werden in einem Verständigungsprozess etabliert, bei dem alle Beteiligten idealerweise ihre eigene Erfahrung zu Rate ziehen. Ihre Erfahrung, nicht ihre flüchtigen Eindrücke, ihre Wünsche und Gefühle. Denn sie müssen, wenn es darum geht, sich darüber zu verständigen, was ist, so weit wie möglich von ihrem spontanen subjektiven Eindruck, von ihren individuellen Interessen und Wünschen, ihrem Bauchgefühl absehen, damit in diesem Verständigungsprozess ein Ergebnis erzielt werden kann, das alle oder doch die allermeisten Beteiligten für wahr halten können. In unserer modernen Gesellschaft greifen wir, um diese Objektivität zu erreichen, immer öfter auf die Ergebnisse der Wissenschaft zurück, weil komplexe Sachverhalte oft nicht mit dem gesunden Menschenverstand allein erfasst werden können. Allerdings, auch die Ergebnisse der Wissenschaft sind keine ewigen Wahrheiten, sie können bezweifelt werden, werden nicht selten eine Zeitlang allgemein akzeptiert und dann durch neuere Erkenntnisse modifiziert, infrage gestellt oder widerlegt. Auch quantifizierte Fakten, mit vielen Zahlen gespickte Umfragen und Statistiken, können, wie wir mittlerweile aus Erfahrung wissen, täuschen, und auch sie eignen sich zur Manipulation. Einige der strahlendsten Lügengebäude wurden und werden auf dem Fundament solcher quantifizierter Fakten errichtet. Das Problem, das wir heute mit dem Begriff »postfaktisch« zu fassen suchen, hat nur zum Teil seinen Ursprung darin, dass manche Menschen zu faul, zu blind oder zu dumm sind, um zu begreifen, was sie doch bei einiger Anstrengung begreifen könnten. Auch haben wir keinen Grund anzunehmen, dass heute im Alltagsleben und in der Politik mehr gelogen wird als früher. Viel wichtiger ist, dass viele Menschen am gesellschaftlichen Verständigungsprozess, der die gemeinsame Faktengrundlage für unser Weltverständnis und für den zivilisierten Streit in der Demokratie erst schafft, von vornherein nicht beteiligt sind, sich davon ausgeschlossen fühlen oder sich ihm bewusst verweigern. Gerade von AfD-Wählern wird, wie in mehreren Untersuchungen, zuletzt in einem Recherchebericht von mehreren Journalisten der »Süddeutschen Zeitung« vom 7. / 8. Januar 2017, belegt wird, immer wieder der Vorwurf erhoben, »meine Meinung«, »meine Probleme«, »meine Sicht der Welt« kommen in den Medien und in den politischen Debatten im Parlament gar nicht vor. Die Repräsentationsschwäche unseres politischen Systems, die sich bisher vor allem an den wachsenden Nichtwählerzahlen ablesen ließ, ist ganz offenbar eine der Ursachen für den politischen Rechtsruck, den wir heute überall in Europa erleben. Und sie ist der Boden, auf dem chauvinistische Identitätspolitik und Verfeindung offenbar bestens gedeihen. Vielleicht leben wir also gar nicht in »postfaktischen« Zeiten, vielleicht liegt das Problem eher darin, dass wir in einer vielfach gespaltenen Gesellschaft leben, in der jede Seite ihre eigenen Fakten in mehr oder weniger isolierten Verständigungsprozessen entsprechend ihrer Interessenlage etabliert und in der die Verständigung über Milieu- und Interessenunterschiede hinweg bezüglich dessen, was für die politische Entscheidungsfindung relevant ist, gar nicht mehr oder nicht mehr in ausreichendem Maße stattfindet. Tatsächlich wird kaum jemand bezweifeln, dass unsere Gesellschaft sozial tief gespalten ist in Arm und Reich, in Insider und Outsider. Unser extrem selektives Bildungssystem produziert eine große Zahl von Schulversagern, die im späteren Leben allzu oft im Abseits landen und an den öffentlichen Debatten gar nicht erst teilnehmen. Für die Tatsachenerhebung wichtige Bereiche der Wissenschaft führen seit längerem ein dem Laien, oft sogar dem Kollegen in einer anderen Wissenschaftsdisziplin, kaum nachvollziehbares Eigenleben. Was in den Konzernzentralen und an den Schaltstellen des globalen Finanzmarkts wirklich gedacht und besprochen wird, ist zwar – so viel wissen wir immerhin – für das Leben von uns allen und für politische Entscheidungen höchst folgenreich, entzieht sich aber fast ganz der öffentlichen Diskussion und erst recht der politischen Kontrolle. Über Jahre wurden die Verhandlungen über die sogenannten Handelsverträge TTIP, CETA und TISA von Vertretern der politischen Exekutiven und Lobbyisten der großen Konzerne unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt. Nicht einmal den vom Volk gewählten Abgeordneten in den nationalen Parlamenten und im Europäischen Parlament wurde Einsicht in die Verhandlungstexte gewährt. Wie soll bei solcher Geheimniskrämerei weitgehendes Einverständnis oder auch nur ein zivilisierter Streit über die zu beurteilenden Fakten, geschweige denn eine legitime politische Entscheidung zustande kommen? Dazu kommt als Verständigungshindernis die von außen betriebene oder von innen organisierte Separierung kultureller, religiöser und Lebensstil-Milieus. Sie ist zwar auch Ausdruck des durchaus gewollten Pluralismus unserer Gesellschaft und als solcher von unserer liberal-demokratischen Verfassung gedeckt. Aber dieser Pluralismus als Kernbestand der Demokratie ist nur lebbar und kann nur dann eine wirkliche Bereicherung für alle sein, wenn es sich um einen dialogischen Pluralismus handelt, d. h. wenn die Milieus sich öffnen und miteinander kommunizieren. Genau dies aber erkennt der Populismus als Ziel nicht an, indem er das »wahre Volk« den »anderen«, denen, die angeblich nicht dazu gehören, den »Volksverrätern« und »Volksfeinden« entgegensetzt. Die soziale Spaltung der Gesellschaft und die weitgehende Abschottung professioneller Insidergruppen, religiöser Milieus und Lebensstil-Milieus vor allem macht es möglich, dass rechtspopulistische Agitatoren mit dreisten Lügen, mit gezielter Desinformation, mit Verleumdung und Hass heute eine große Zahl von Menschen gezielt manipulieren und so tatsächlich hier und da Wahlen gewinnen können, vor allem wenn immer mehr Bürger, begünstigt durch die neuen Medien, sich in Meinungsblasen gegen abweichende Ansichten und kritische Anfragen erfolgreich immunisieren. Das Verdikt der »Lügenpresse« dient dann offenbar dazu, den Schutzwall um die eigene kleine Gefühls- und Meinungswelt möglichst undurchdringlich zu machen. Dass unsere Medien systematisch und ohne Ausnahme Lügen verbreiten, ist natürlich Unsinn. In den Qualitätsmedien in Deutschland ist es immer noch weithin üblich, dass Journalisten nicht nur ihre Quellen nennen, sondern auch offenlegen, wie sie...



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