Stratenwerth | Hurdy Gurdy Girl | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 380 Seiten

Stratenwerth Hurdy Gurdy Girl

Eine weite Reise durch die Nacht
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-96258-070-4
Verlag: PalmArtPress
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine weite Reise durch die Nacht

E-Book, Deutsch, 380 Seiten

ISBN: 978-3-96258-070-4
Verlag: PalmArtPress
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Luise Ludwig ist 17, als sie im Sommer 1863 in der Wetterau aufbricht. Für drei Jahre ist sie als Tanzmädchen bei einem sogenannten Landgänger verdingt. Diese Männer ziehen mit jungen Mädchen aus den verelendeten, hessischen Bauerndörfern in die Fremde, um sie zum Tanzen und Trinken zu vermieten -zunächst in Kalifornien, dann in British Columbia (heute Kanada). Dort, wo der Goldrausch massenhaft Männer anlockt, ist mit jungen Frauen viel Geld zu verdienen. Von einer Reise in die Neue Welt hat Luise lange geträumt, doch sie wird bitter enttäuscht: Mutterseelenallein strandet sie in einem Bordell in San Francisco. Nachdem ihr die Flucht ins kanadische Goldgräberland gelungen ist, will sie bald nur noch eins: zurück in die Heimat. Was sie auf ihrer abenteuerlichen Reise erlebt, was sie daraus lernt und wer ihr begegnet erzählt die Autorin historisch präzise und packend. Zum ersten Mal spielt ein Roman in der Welt, die vor über hundert Jahren viele deutsche Auswanderer anzog und manche reich machte.

Irene Stratenwerth lebt und arbeitet als Journalistin und Buch-Autorin in Hamburg. In Zusammenarbeit mit der Stiftung Neue Synagoge - Centrum Judaicum Berlin kuratierte sie mehrere historische Ausstellungen und Begleitbände. 'Der Gelbe Schein. Mädchenhandel 1860 bis 1930' wurde 2012 in Berlin und Bremerhaven gezeigt und erforschte erstmals die Geschichte unzähliger junger Frauen, die aus Europa in die 'Neue Welt' auswanderten. Jüngste Publikationen: 'Meine abgeschminkten Jahre' (mit Stefanie Giesselbach), Piper Verlag 2017; 'Marie Jalowicz: Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin, 1940-1945'. Fischer Verlag 2014.
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Nur bis Nauheim, hat die Mutter gesagt, nur bis dorthin allein zu Fuß. In zwei bis drei Stunden sei sie dort. Der Weg sei nicht zu verfehlen. Schneider erwarte sie am Abend im Kurpark.

Am Dorfrand steigt Luise den Hügel hinauf. Von hier aus kann sie schon den Kirchturm von Ober-Mörlen sehen und in der Ferne die Höhenzüge des Vogelsberges. Für einen Moment fühlt sie sich mutig und stark. Und dann wieder schrecklich allein.

Der Dora hat sie nicht einmal Lebewohl sagen können. Die Kleine ist gleich nach der Schule zum Vater aufs Feld.

Luise hat es zwar schon eine Zeitlang gewusst: Dass sie aus Langenhain fortgeht, als Erste aus der Familie. Aber sie hat es nicht übers Herz gebracht, es der Schwester zu sagen. Und heute Mittag hat ihr die Mutter plötzlich den sofortigen Aufbruch befohlen.

Rechts vom Feldweg senkt sich der Hang mit den winzigen Äckern der Tagelöhner und Landarbeiter ins Tal. Viele Frauen sind dort jetzt emsig beschäftigt, die Erde zu bestellen, Kartoffeln zu stecken, Weißkohl zu pflanzen und Hafer zu säen. Der Winter war lang und kalt, und jetzt ist es höchste Zeit.

Ihre Mutter würde hier niemals ackern. Sie baut ihr Gemüse auf einem ummauerten Hofplatz neben ihrem Wohnhaus an. Und Balthasar Ludwig, ihr Mann, pflügt seine größeren Felder jenseits des Dorfes, in der Talsenke zwischen Langenhain und Schloss Ziegenberg. Früher half ihm dabei ein Knecht.

Vor dem Mädchen spritzt ein Hase über den Weg und rennt im Zickzack über die Felder. Pass bloß auf, denkt Luise, sonst schießt dich der Wilderer tot. Viele im Dorf sehnen sich nach einem Sonntagsbraten, und der Jagdaufseher kann seine Augen nicht überall haben.

„He, Luise, grüß dich Gott! Wohin allein des Weges, so spät am Nachmittag?“

Die Frage schallt von Rosa herüber, einer kräftigen Magd. Andere Frauen unterbrechen ihre Feldarbeit, stützen sich auf ihre Harken und Spaten und starren das Mädchen neugierig an.

„Zur Cousine nach Nauheim“, gibt Luise knapp zurück.

„Zur Cousine, so so!“, Rosa prustet laut los, „hast es nicht noch ein bisschen weiter? Gehst vielleicht sogar für drei Jahre fort? Nimmst mich mit?“

Luise wird warm im Gesicht. Sie kennt ja das achte Gebot: Du sollst nicht lügen. Kaum ist sie von zu Hause fort, begeht sie die erste Sünde.

„Ich reise nach Amerika!“ Nur allzu gerne würde sie die Wahrheit laut herausposaunen und die zudringliche Magd damit zum Schweigen bringen. Alle anderen, die jetzt so tun, als machten sie sich wieder an die Arbeit, aber heimlich die Ohren spitzen, könnten es auch gerne hören.

Doch die Mutter hat ihr streng verboten, etwas zu sagen. Niemand soll wissen, wohin sie geht. Erst in ein paar Tagen werden es die Spatzen von den Dächern pfeifen: Dass die älteste Tochter vom Bauern Ludwig vorerst nicht zurückkommt. Dass sie ins Land gegangen ist wie schon so viele andere Mädchen aus Langenhain.

Nur noch ein paar Schritte und dann ist sie aus dem Blickfeld der Frauen verschwunden. Sie lässt den Feldweg links liegen, steigt über Wiesen und wilde Äcker zum Flüsschen hinab. Hoch aufgeschossen stehen Gräser und Buschwerk am Ufer. Dort ist sie vor neugierigen Blicken geschützt.

Ich gehe nach Amerika, summt Luise vor sich hin und erfindet gleich noch ein paar Reime dazu: Eins, zwei, drei, vier, keinen Tag bleib ich mehr hier. Fünf, sechs, sieben, acht, nimm dich vor jedem Mann in Acht.

„In Amerika ist alles besser.“ Wie oft hat sie diesen Satz schon gehört. Wenn Frauen in prächtigen Kleidern zu Besuch ins Dorf kamen, um ihre bunten Wolltücher, die feinen Schuhe und den fremdartigen Kopfputz vorzuführen. Und wenn im Waschhaus davon die Rede war, dass wieder einmal ein braves Mädchen aus der Wetterau in der neuen Welt einen achtbaren Bräutigam gefunden hatte.

Luise ist im letzten Winter siebzehn geworden. Schon lange ist sie so hoch gewachsen, dass sie mit dem Kopf an den Bettkasten stößt.

„Es reicht. Als Mädchen brauchst du kein Gardemaß!“ So scherzte der Vater, als seine Tochter ihn zu überragen begann. Doch die Mutter sah sie besorgt an. Sie fand es auch gar nicht gut, wenn Luise den ganzen Sommer auf dem Feld und im Viehstall schuftete, so dass ihre Arme muskulös und sehnig wurden.

„Wie eine Magd siehst du aus“, schimpfte sie, „wem willst du denn so gefallen?“ Oft fügte sie mit gesenkter Stimme hinzu, als würde sie zu jemand anderem sprechen: „Sie könnte so eine schmucke Braut sein. Wenn sie nur mehr aus sich machen würde.“

Als käme es darauf an, wie eine gebaut ist oder wie sie sich putzt. Kein Bursche im Großherzogtum Hessen kann sich das Mädchen, das ihm am besten gefällt, einfach zur Braut nehmen, das weiß in Langenhain jedes Kind. Bevor einer heiraten darf, muss er seinen Militärdienst absolviert haben und über ein eigenes Einkommen verfügen. Und auch dann geben die meisten Väter erst einmal ihre ältesten Töchter zum Heiraten weg.

Bis es so weit ist, hätte Luise als nutzlose Esserin zu Hause herumsitzen und sich langweilen müssen. Zwischen der Konfirmation und der Hochzeit können zehn Jahre vergehen.

So lange halten es viele nicht aus. Sie gehen stattdessen mit einem Landgänger fort: einem wie Schneider, der Mädchen zum Tanzen in der Fremde dingt. Was sie dort zu tun haben, weiß Luise nicht so genau. Sie hat nur die sorgenvollen Mienen der alten Weiber gesehen und das anzügliche Grinsen der Männer, wenn auf dem Kirchplatz von den Tanzmädchen die Rede war.

In Amerika störe es keinen, dass sie noch so jung sei und außerdem ein bisschen lang geraten, hat Schneider gesagt. Im Gegenteil. Dort suchten die Männer regelrecht nach stattlichen Frauen, die ordentlich zupacken können. Wie ein Stück Vieh hat er Luise von Kopf bis Fuß gemustert. Mit dem Ergebnis seiner Begutachtung war er zufrieden: „Für dich braucht man jedenfalls kein Podest.“

Johann Georg Schneider ist ein Neffe von Balthasar Ludwig und somit Luises Vetter. Sie könnte ihn einfach „Georg“ nennen, denn schließlich ist sie mit ihm verwandt. Aber das käme ihr nicht richtig vor: Schneider ist ein verheirateter Mann und zehn Jahre älter als sie. Außerdem war er fast immer in der Fremde.

„Ich fahre nach Amerika.“ Der Satz fährt in ihrem Kopf Karussell. Wie das bunt geschmückte Pferd, das sie auf dem Jahrmarkt in Nauheim gesehen hat, immer im Kreis herum, schleppt er einen Reigen bunter Bilder hinter sich her: Von Bauern, die sich ein Stück Land einfach mit Holzpflöcken abstecken. Von Goldklumpen, die man in Kalifornien findet wie Hans im Glück. Von Tanzvergnügen, bei denen es am Sonntag lustig und unbeschwert zugeht.

Luise hat jeden Bericht, den sie in der über Amerika finden konnte, genau gelesen und viele davon mehrmals. Freiwillig ist sie jeden Sonntagnachmittag ins Schulhaus gegangen.

Um Punkt zwei Uhr, nach dem Gottesdienst und dem Mittagsmahl, öffnete der Schulmeister Faber regelmäßig seine Klassenstube und legte Zeitschriften und Bücher aus: für alle, die sich bilden wollten. Manche Hefte waren schon ziemlich zerlesen, aber das machte ihr nichts aus. Denn sie weiß: Wer heutzutage in der Welt zurechtkommen will, muss sich informieren.

Der Vater verzog zwar ärgerlich das Gesicht, wenn seine Tochter am heiligen Sonntagnachmittag in die Schule lief. Wozu musste sich ein Bauernmädchen im Lesen üben? Wozu brauchte sie das moderne Zeug, das in einem so genannten Familienblatt stand? Aber was konnte ein einfacher Landwirt schon gegen den Schulmeister ausrichten, dessen Wort im Dorf fast so viel galt wie das des Pfarrers?

Einmal ist Faber in einer Lesestunde zu Luise ans Pult getreten und hat ihr ein dickes, in braunes Leder gebundenes Buch gezeigt.

„Du interessierst dich doch für Amerika?“

Luise senkte verlegen den Kopf.

„Dies ist der Reisebericht einer berühmten Schriftstellerin. Ganz allein hat sie sich die weite Welt angesehen. Auch Amerika. Vielleicht magst du einmal darin lesen?“

stand auf dem Titelblatt und ein Name: Ida Pfeiffer. Vorsichtig nahm Luise das Buch in die Hände und blätterte die ersten Seiten auf: Gleich am Anfang ging es um die Ankunft der Schriftstellerin in Kalifornien. stand über dem ersten Kapitel. Ein anderes handelte von den Spielhäusern in San Francisco.

Wie gerne hätte sie sich sofort in die Lektüre vertieft! Doch solange Faber sie so unverwandt anstarrte, verschwammen die Zeilen vor ihren Augen.

„Ist vielleicht noch zu schwierig für dich“,...


Irene Stratenwerth lebt und arbeitet als Journalistin und Buch-Autorin in Hamburg. In Zusammenarbeit mit der Stiftung Neue Synagoge – Centrum Judaicum Berlin kuratierte sie mehrere historische Ausstellungen und Begleitbände. "Der Gelbe Schein. Mädchenhandel 1860 bis 1930" wurde 2012 in Berlin und Bremerhaven gezeigt und erforschte erstmals die Geschichte unzähliger junger Frauen, die aus Europa in die "Neue Welt" auswanderten.

Jüngste Publikationen: "Meine abgeschminkten Jahre" (mit Stefanie Giesselbach), Piper Verlag 2017; "Marie Jalowicz: Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin, 1940-1945". Fischer Verlag 2014.



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