Strauß Der junge Mann
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-446-25114-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 392 Seiten
ISBN: 978-3-446-25114-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Personen dieses Romans sind allesamt Grenzgänger, die sich bewußt in eine andere Zeit hinübergleiten lassen oder unbewußt hinübergezogen werden. In jedem Falle wachen sie in Räumen auf, wo die Gesetze der Zeit wechseln, wo sie Opfer erotischer Metamorphosen werden oder Zuschauer ihrer eigenen verdrängten Geschichte. Der junge Mann, von erzählerischer Schönheit und gedanklicher Schärfe, ist zugleich Bildungsroman, allegorischer Roman und romantische Phantasie.
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Zeit Zeit Zeit. Wie oft fragen mich die Kinder auf der Straße nach der Uhrzeit! Dabei bin ich wie sie, lebe nicht nach der Uhr und trage auch keine bei mir. Sie halten mit ihren Fahrrädern am Bordstein, sie fragen mit artigem Befremden, mit abgewandtem Blick und so, als kämen sie aus einer fernen Gesellschaft und zögen nur eben an uns vorbei. Sie fragen auch aus einer Ungewißheit, die sich nicht allein auf den Stundenplan erstreckt. Die allgemeine Gewöhnung unter uns Städtern, dem anderen kaum mehr ins Auge zu blicken, ihn möglichst nicht zu beachten, scheint diese Kinder zu stören. Sie merken doch, wie die freundliche Neugier, ihr ureigenes Element, ohne das sie nichts werden können, ringsum wenig bedeutet. Dagegen regen sie sich und fragen an den Leuten entlang; es drängt sie, den Fremden kurz zu berühren, und sei es nur, um von ihm die Stunde zu hören. »Können Sie mir bitte sagen, wie spät es ist?« Mit der Zeit kommen die Menschen immer noch am wenigsten zurecht. Den Raum haben sie sich leichter verfügbar gemacht, jedenfalls den ihnen zugemessenen, den erdumschließenden. Zeit aber bleibt Teil des kosmischen Überschwangs. Mit ihr können die Irdischen nicht nach ihrem Belieben umspringen, können sie weder erobern noch zerstören und nicht zu dem Ihren zählen. So mußten sie denn allerlei behelfsmäßige Uhren einrichten, die abergläubischen und die geschichtlichen, die biografischen und die ideologischen, so daß aus der unfaßlichen Zeit die mächtigsten Täuschungen und Stimmungen des Menschengeschlechts hervorgingen. Mal war es die Endzeit, mal die Neuzeit. Mal war die Vorzeit grau, mal war sie golden. Mal lebte man in der Heils-, dann wieder in der Katastrophen-Erwartung vom Ende aller Tage. Geschichtliche Schockwellen. Sehnsuchtswechsel. Nichts Reales dran. Und oft war dann nur eine Weltbildgefahr im Verzuge, wo man wie gebannt auf die Weltbrandgefahr gestarrt hatte. Die Zeit ein Kind, sagt Heraklit, ein Kind beim Brettspiel, ein Kind auf dem Throne. Die Welt ist jung, sagen uns die Physiker, unvorstellbar weit entfernt vom schrecklichen Gleichgewicht, dem zeitverschlingenden. Voll fruchtbarer Unordnung und ungetrübter Spielfreude geht sie wie die Kinder auf der Straße, denen es gefällt, Gebrechen nachzuahmen, zu hinken oder irgendwie auf verkehrten Beinen zu laufen. Unausgeprägt ist das Lebendige. »Komm her! Erzähl uns was!« rufen die Büdchensteher, wenn ich morgens zum Kiosk komme, um mir die Zeitung zu holen. Da stehen sie von zehn Uhr früh bis weit nach Ladenschluß, draußen im Sommer und bei unfreundlichem Wetter auch drinnen im Warmen. Sie halten ihr buckliges Fläschchen in der Faust, junge Männer zum Teil, denen das Trinken und die Arbeitslosigkeit die Maske eines unkenntlichen Alters ins Gesicht gedrückt haben. Schmächtige, ausgezehrte Mittdreißiger, und mit ihrem dunklen, gefetteten Haar, der adrett gedrückten Fünfziger-Jahre-Tolle, aber auch mit ihren bevorzugten Scherz- und Schlagworten erinnern sie eigentümlich an eine ferne Borgward-Ära. Ihnen, den Trinkern und aus der Zeit Gerutschten, diesen einsamen, geschüttelten Männlein, die gar nichts wissen und stets behaupten, ihre besten Freunde seien alle bei Stalingrad gefallen, dreht sich ohnehin die Geschichte im Kopf herum, und sie sprechen einfach an einem deutschen Gemurmel mit, das, weit älter als sie selbst, ungestört unterhalb der Zeit dahinrinnt. Untereinander sind sie nämlich nicht Freund und haben nur ihren Hund. Hundehalter sind wohl die meisten von ihnen und klagen beständig über zu hohe Steuern. Nur Schäferhunde halten sie, oft alte verzottelte Tiere mit lahmender Pfote und schneeweißem Schnauzhaar. Ihnen etwas erzählen? Aber sie können nicht eine Minute lang zuhören! Unablässig fallen sie sich gegenseitig ins Wort, und eine haltlose Behauptung will die andere übertrumpfen. Ihre Unterhaltungen irren dahin, sprunghaft und quer, voll fahriger Schnitte, wie ein Abend im TV. »Aber ihr seid ja schon genauso! Ihr, die ihr den ganzen Tag Zeit habt, unterbrecht euch immerzu und laßt niemanden ausreden. Könnt nicht einmal mehr einen einfachen Witz im Zusammenhang erzählen!« Das große Medium und sein weltzerstückelndes Schalten und Walten hat es längst geschafft, daß wir Ideenflucht und leichten Wahn für unsere ganz normale Wahrnehmung halten. Hier fällt sich das Geschehen dauernd ins Wort. Eben noch sehen wir zwei Menschen ernstlich miteinander streiten, den jungen Professor für Agronomie und den Beamten einer landwirtschaftlichen Behörde, über Betablocker im Schweinefleisch und die Östrogensau, live in einer Hamburger Messehalle. Kaum haben wir sie näher ins Auge gefaßt und beginnen ihren Argumenten zu folgen, da fährt auch schon eine Blaskapelle dazwischen; wir befinden uns, ohne daß wir nur mit der Wimper hätten zucken können, in Soest, am Stammtisch eines Wirtshauses, und werden in die Geheimnisse westfälischer Wurstzubereitung eingeweiht. Schon vergessen der Betablocker, vorübergehuscht die vergiftete Nahrung. Ist das Information? Ist es nicht vielmehr ein einziges, riesiges Pacman-Spiel, ein unablässiges Aufleuchten und Abschießen von Menschen, Meinungen, Mentalitäten? Es ist genau das Spiel, das unser weiteres Bewußtsein beherrscht: die Wahnzeit wird nun bald zur Normalzeit werden. Und das Gespräch, das wir über Jahre hin mit wenigen Menschen führen wollten, wird nicht durchgehalten. Es befremdet uns, privat zu sein und lange auszusprechen. Das Intime selbst gehört nach draußen, und Heimlichkeiten sind der Stoff für Talkshow oder Interview. Denn nur der helle Schein der Öffentlichkeit bringt uns den anderen Menschen wirklich nah. Wollen wir dagegen im Stillen zuhaus jemandem etwas sagen, so fühlen wir uns plötzlich in einer engen Höhle befangen, an einem Ort der Lähmung und der Dunkelheit. Man fürchtet sich vor dem anderen in dieser finsteren Unöffentlichkeit. Man hört nicht zu, man läßt nicht ausreden. Daher macht den Erzähler seine Gabe verlegen. Keineswegs weil er nichts erlebt hätte – er kann schließlich aus dem Geringsten schöpfen –, sondern weil er die elementare Situation, jemandem etwas zu erzählen, nicht mehr vorfindet oder ihr nicht mehr trauen kann. Weil er zu tief schon daran gewöhnt ist, daß ihm ohnehin gleich das Wort abgeschnitten wird. Was aber, wenn er dennoch ein empfindlicher Chronist bleiben möchte und dem Regime des totalen öffentlichen Bewußtseins, unter dem er seine Tage verbringt, weder entkommen noch gehorchen kann? Vielleicht wird er zunächst gut daran tun, sich in Form und Blick zunutze zu machen, worin ihn die Epoche erzogen hat, zum Beispiel in der Übung, die Dinge im Maß ihrer erhöhten Flüchtigkeit zu erwischen und erst recht scharfumrandet wahrzunehmen. Statt in gerader Fortsetzung zu erzählen, umschlossene Entwicklung anzustreben, wird er dem Diversen seine Zonen schaffen, statt Geschichte wird er den geschichteten Augenblick erfassen, die gleichzeitige Begebenheit. Er wird Schauplätze und Zeitwaben anlegen oder entstehen lassen anstelle von Epen und Novellen. Er wird sich also im Gegenteil der vorgegebenen Lage stärker noch anpassen, anstatt sich ihr verhalten entgegenzustellen. Er wird seine Mittel an ihr verbessern, denn nur die geglückte Anpassung verleiht ihm die nötige Souveränität und Freiheit, um den wahren Gestaltenreichtum, die Mannigfaltigkeit, das spielerische Vermögen seiner Realität zu erkennen. So arg es ihn auch in Bedrängnis bringt, so mächtig bewegt ihn zugleich das gesellschaftliche Pleroma, die Fülle des Wissens und Empfindens, der Begegnungen und der Lebensformen, der Pakte und der Unterschiede, wie er sie in einem politisch freien Gemeinwesen, in einer am Ende doch glücklichen Periode deutscher Geschichte vorfindet und miterlebt. Dies wird ihm bisweilen durch ein tiefes Gefühl von Genugtuung und Zugehörigkeit gewiß. Wo mancher nur den glitzernden Zerfall erkennt, da sieht er viele Übergänge und Verwandlungen, sieht er den verschwenderischen Markt der Differenz, der aus der wesentlichen Unsicherheit und Offenheit dieser Gesellschaft hervorgeht. Vielfalt und Differenz aber gewähren allem Seienden den besten Schutz vor Tod und Verwüstung. Was nun das Element der Zeit betrifft, so muß uns auch hier eine weitere Wahrnehmung, ein mehrfaches Bewußtsein vor den einförmigen und zwanghaften Regimen des Fortschritts, der Utopie, vor jeder sogenannten ›Zukunft‹ schützen. Dazu brauchen wir andere Uhren, das ist wahr, Rückkoppelungswerke, welche uns befreien von dem alten sturen Vorwärts-Zeiger-Sinn. Wir brauchen Schaltkreise, die zwischen dem Einst und Jetzt geschlossen sind, wir brauchen schließlich die lebendige Eintracht von Tag und Traum, von adlergleichem Sachverstand und gefügigem Schlafwandel. In einer Epoche, in der uns ein Erkenntnisreichtum ohnegleichen offenbart wird und in der jedermann Zugang haben könnte zu einer in tausend Richtungen interessanten Welt, werden wir immer noch einseitig dazu erzogen, die sozialen Belange des Menschen, die Gesellschaft in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen. Man kann aber in dieser Gesellschaft nicht fruchtbar leben, wenn man unentwegt nur gesellschaftlich denkt! Man wird verrückt – oder flachköpfig, man vergeudet jedenfalls seine besten Kräfte! Ein solches Denken, wie es allgegenwärtig ist, macht uns nicht mutiger und beraubt uns womöglich der letzten Fähigkeiten, Gesellschaft gerade eben noch bilden zu können. Eines Tages wird sie’s halten wie die Carrollsche Katze und sich in ein durchsichtiges Lächeln auflösen – das jenen gilt, die sie zu lange zu besinnungslos angestarrt haben. »So etwas!« dachte Alice; »ich habe zwar schon oft eine Katze ohne Grinsen gesehen, aber ein Grinsen ohne Katze! Das ist doch...