E-Book, Deutsch, 267 Seiten
Strittmatter Die Lage in den Lüften
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8412-2899-4
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Aus Tagebüchern. Im Anhang: Interview Dr. Plavius - Strittmatter im Januar 1980
E-Book, Deutsch, 267 Seiten
ISBN: 978-3-8412-2899-4
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Bücher haben ihre Schicksale - das des »Wundertäters III« wird hier dokumentiert.
Erwin Strittmatter stellte Auszüge aus seinen Tagebüchern zusammen, die die mehr als siebenjährige Vorgeschichte seines Romans beschreiben. Als er im Januar 1973 mit dem Diktat begann, wusste er, dass der Roman etliche Tabus der DDR-Geschichtsschreibung verletzen würde. Er schrieb, wie er schreiben musste: fünf Jahre in ständiger Anspannung und strengster Selbstkontrolle. In den Notizen sind diese Anstrengungen beeindruckend festgehalten, ebenso wie das qualvolle Warten auf die Druckgenehmigung, bis das Buch nach einer Odyssee durch die Instanzen 1980 dann doch noch zu seinen Lesern kam.
Erwin Strittmatter wurde 1912 in Spremberg als Sohn eines Bäckers und Kleinbauern geboren. Mit 17 Jahren verließ er das Realgymnasium, begann eine Bäckerlehre und arbeitete danach in verschiedenen Berufen. Von 1941 bis 1945 gehörte er der Ordnungspolizei an. Nach dem Kriegsende arbeitete er als Bäcker, Volkskorrespondent und Amtsvorsteher, später als Zeitungsredakteur in Senftenberg. Seit 1951 lebte er als freier Autor zunächst in Spremberg, später in Berlin, bis er seinen Hauptwohnsitz nach Schulzenhof bei Gransee verlegte. Dort starb er am 31. Januar 1994.
Zu seinen bekanntesten Werken zählen sein Debüt »Ochsenkutscher« (1950), der Roman »Tinko« (1954), für den er den Nationalpreis erhielt, sowie die Trilogien »Der Laden« (1983/1987/1992) und »Der Wundertäter« (1957/1973/1980).
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
2. Januar 1974
Endlich wieder WUNDERTÄTER III. Natürlich gleich mit Streichen begonnen, ins zweite Kapitel gekrochen. Ob viel, ob wenig gemacht, man ist zufrieden, weil man am Eigentlichen ist.
Eigentlich brauchte man im Alter nur die einundachtzig Traktate des alten Chinesen Laotse als Lesestoff. Ein Buch in der Stärke eines Diariums. Es enthält die Antworten auf alle Fragen, auf die der wache Mensch in seinem Leben stoßen kann.
3. Januar
Am zweiten Kapitel des WUNDERTÄTER III herumgedoktert. Es ging nicht vorwärts, aber der Arbeitsvormittag verging doch.
War es nicht jedesmal so: Die ersten hundert Seiten eines Romans wälzte ich ein Jahr und länger herum. Im Unterbewusstsein bereiteten sich unterdessen die übrigen fünf Sechstel der Arbeit vor, und ich schrieb sie später verhältnismäßig schnell herunter.
Die Festtage haben die Schiebekästen im Schreibsekretär wieder mit Post gefüllt.
5. Januar
Den ganzen Vormittag WUNDERTÄTER III, immer noch im zweiten Kapitel. Hoffentlich zerschreibe ich es nicht. Nächste Woche muss und will ich aber heraus aus dem fixierten Anfang! Hinaus ins Unbekannte des Stoffes!
7. Januar
Immer noch das zweite Kapitel. Nun bin ich schon neugierig, weshalb ich mich solang dabei aufhalte, denn ich arbeite den ganzen Vormittag und komme doch nur um ein paar Seiten voran.
8. Januar
Angefangen, das dritte Kapitel zu überarbeiten. Ich muss mirs wieder versagen, jede korrigierte Seite selber auf der Maschine abzuschreiben. Es geht dabei Zeit verloren. Andererseits genieße ichs, wenn der Text ohne Korrekturgekritzel rein über die Seite fließt.
9. Januar
Drittes Kapitel zu Ende durchgesehen und umgearbeitet.
14. Januar
Am vierten Kapitel gearbeitet.
Ich sprach mit dem Tankwart über seinen verstorbenen Kollegen. Mit dem Magen das wär noch gegangen, aber die Leber, die Leber, sie war hin, sagte er. Er ist so lang, dass ihm die gelieferten Tankwart-Hosen nicht bis auf die Schuhe reichen und er deshalb Schaftstiefel tragen muss. Er sprach von seinem toten Kollegen wie von einer Sache. Vielleicht zuviel gesoffen, vielleicht vom Benzingeruch hier, sagte er. Ich kannte ihn nur nüchtern, und ich kannte ihn lange, sagte ich.
Dann hat er vielleicht ganz davor gesoffen. Der lange Kollege, dem die Frau weglief, bestand auf dem von ihm diagnostizierten Säufertod. Es ist übrigens schon ein Neuer da, tröstete er mich, einer von der Kreisleitung der Freien Deutschen Jugend.
15. Januar
Anscheinend den Käfig zerbrochen, in dem ich mich in der letzten Zeit mit der Arbeit befand.
Das Theaterstück gefunden (OTHELLO), in dem der vom Lispeln befreite Rosendorn auftreten kann. Begegnung: Sawade – Stanislaus, im Theater.
Jeden Tag eine Weile in der Landschaft stehen wie ein Baum! Ich gehe an den Torfwiesen entlang und denke mir aus (vielleicht bilde ich mir nur ein, dass ichs mir ausdenke), wie das Wesen der Doktorin Sawade im Roman sein soll. Rätselhaft muss sie wirken, denke ich.
Später werden Leser mit dieser literarischen Figur bekannt werden, die nie eine Torfwiese sahen.
16. Januar
Im vierten Kapitel gearbeitet. Was ich sonst noch am Roman tat, erinnere ich mich nicht.
19. Januar
Am vierten Kapitel gearbeitet, es geht langsam, aber es geht, und es macht Spaß. Drei Seiten weitergekommen. Das Kreuzrheuma plagt mich. Trotzdem reite ich hinaus. Das Aufsitzen ist schmerzhaft. Im Sattel ist mirs wohl. Große Stille in den Wäldern. Es ist mir bewusst, dass in ihr die größten Ereignisse stattfinden.
21. Januar
Am vierten Kapitel gearbeitet. Da ich zur Zeit, sobald ein oder zwei Seiten geschrieben sind, sogleich redigiere bis zur vorletzten Möglichkeit, scheint es, als ob ich mit der Arbeit auf der Stelle stünde.
Gestern fesselten mich die am Morgen begonnenen drei Seiten so, dass ich auch abends dran arbeitete und sie auf den vorletzten Perfektionsstand brachte.
Politiker und Dichter, die zu ihrer Lebzeit von sich reden machen, werden nach ihrem Tode in der Regel vergessen; die Politiker meist auf immer, die Dichter, wenn sie gut waren, werden zuweilen von ihrem Volke zu einem zweiten Leben erweckt.
22. Januar
Den ganzen Vormittag am vierten Kapitel geblieben. Auch am Abend noch ein wenig dran gearbeitet.
Die Arbeit am Roman schmeckt jetzt so, dass ich nichts anderes mehr tun möchte. Ich weiß jedoch, dass dieses ungetane Andere in kurzer Zeit zur Belastung wird und mich unzufrieden werden lässt.
23. Januar
Mit dem fünften Kapitel angefangen.
Die Schrift des Vaters, die vorübergehend zittrig war, ist wieder steil und fest geworden. Sein Verhältnis mit der Frau des Enkels scheint nicht nur Gerücht und Gerede erbsüchtiger Schwiegertöchter zu sein.
Was mich betrifft, so bin ich in dem Alter, in dem ich meine, man sollte nicht darüber lächeln. Ich würde die Kraft, hätte ich sie mit fünfundachtzig Jahren noch, als eine Gnade betrachten und würde sie in eine Schreiberei fließen lassen.
24. Januar
Weiter am fünften Kapitel gearbeitet. Stanislaus schreibt wieder Kindheitserinnerungen.
Jetzt bin ich richtig in der Arbeit. Nun genügt mir das Pensum nicht (täglich ca. drei Seiten bis zum vorletzten Schliff). Ich werde unglücklich, wenn Abhaltungen kommen. Auch hier das verdammte Pflichtgefühl!
25. Januar
Weiter am fünften Kapitel gearbeitet. Die Fieberträume des Stanislaus in der Kindheit.
Natürlich wie immer und täglich die Tiere versorgt. Man rechnet das, weil es sich zwangsläufig wiederholt, schon nicht mehr zum Getanen.
26. Januar
Ein Stück Text vom Band abgeschrieben, einen kleinen Nebenaufriss gemacht.
Man sollte sich üben, damit zu rechnen, dass alles zu jeder Zeit möglich ist: Vorfrühling im Januar und die Temperatur am Kältepol nur wenige Minusgrade. Aber auch alles, alles andere, was wir für unmöglich halten, ist möglich. Wir übertragen unsere begrenzten Menschen-Möglichkeiten auf den Kosmos.
27. Januar
Es werden Leserstimmen laut. Sie besagen, der zweite WUNDERTÄTER sei schwerer zu lesen, zu erfassen als der erste Teil.
Die das klagen, dürften Leser sein, denen die Parallelerlebnisse zum gegebenen Lesestoff teilweise fehlen. Sie folgern, wie der Durchschnittsmensch eben folgert, nicht ihnen, aber mir fehle was.
Soll ich diese primitiven Einwände berücksichtigen? Ich bin sechzig Jahre vorbei, und auch wenn mir die sogenannte Volkstümlichkeit abhanden gekommen sein sollte, ich kann nicht zurück.
Wenn Frieden in dir selber ist, darf die Umwelt schon anbranden.
28. Januar
Am fünften Kapitel weitergearbeitet. Zeit gemacht, die Industriestadt wächst.
Reso Karalaschwili, der Hesse-Spezialist aus Tbilissi, schrieb nachdenklich und verständnisvoll zum WUNDERTÄTER II. Er versucht die Mach-Art zu analysieren, und er kommt über das ganze Buch zu Schlüssen, die auch zu meinen Schlüssen gehören. Aber darf ichs laut werden lassen? Goethe durfte sagen: Nur die Lumpe sind bescheiden. Wenn ichs öffentlich sagen würde, würde man mich mit Worten und Gebärden steinigen. Nur ja nicht zeigen, dass ich kein Lump bin, müsste man bei uns sagen. Unbescheidenheit wird nur führenden Politikern verziehen. Stalin und Mao sind in dieser Hinsicht nicht leicht zu übertreffen.
29. Januar
Zügig am fünften Kapitel weitergearbeitet. Neu, unter anderem, eine Szene mit dem Meisterfaun.
Es gibt Anzeichen, dass eine Zeit heranrückt, in der der wissenschaftliche Mensch sich weniger heldisch vorkommen wird als heute, wenn er um eingebildeter Erfolge willen in die Naturgeschehnisse eingreift. Er wird sich zurückhalten und hüten, das Gleichgewicht in seiner Umwelt zu stören. Solch einen Gedanken nennt man heute noch reaktionär, weil er den Ansichten der Zeitgenossen zuwiderläuft. Aber sogenannte Zeit-Strömungen beruhen auf Massen-Suggestion und verkehren sich sogleich und strömen in die umgekehrte Richtung, sobald die Menschheit in einen Abgrund gesehen hat.
31. Januar
Das fünfte Kapitel zu Ende gebracht. Damit ist es, meine ich, so fertig, dass nur noch geringfügige Korrekturen vonnöten sein werden.
Eigenartig, dass sich jedes Werk bisher nicht nur seine eigene Melodie, sondern auch die Technik, in der es bearbeitet sein wollte, erzwang. Wie das zusammenhängt, sehe ich noch nicht.
1. Februar
Doch wieder am fünften Kapitel gearbeitet. Ich las Eva das vierte und fünfte Kapitel vor. Sie war nicht unbedingt begeistert, aber ich halte das Vorhandene diesmal von der Melodie, überhaupt von verschiedenen Seiten her, für fertig und gehe auf Abwehr. Die Mappe mit dem Fabelaufriss zu Rate gezogen und versucht, das sechste Kapitel zu konzipieren. Jeder hat seine eigene Hölle und sein eigenes Paradies.
2. Februar
Mit dem sechsten Kapitel angefangen. Aus dem Rohtext heraus diktiert. Drei Seiten abgeschrieben. Es fiel mir schwer, das Kreuzrheuma plagt mich, doch mein Pensum schaffte ich.
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